Bist du noch tot oder lebst du schon? – Predigt zu Epheser 2,4-10 von Martina Janßen
2,4-10

I.
„Manchmal bin ich kalt und schwer wie ein Sack mit Steinen. // Kann nicht lachen und auch nicht weinen. // Seh keine Sonne, seh keine Sterne, // und das Land, das wir suchen, liegt in weiter Ferne.“ – Es gibt Tage, die werfen mich aus der Bahn. Da verkrieche ich mich aufs Sofa, schalte das Smartphone aus und höre laut diese Zeilen eines alten Songs der Band „Ton, Steine, Scherben.“ Weil ich mich genauso fühle, wie es Rio Reiser in diesem Lied singt, kalt und schwer, kann nicht lachen, kann nicht weinen, kann nicht geben und kann nicht lieben. Es gibt Tage, da habe ich es schlicht satt – den Alltag, all das Abgelebte und die Lügen, meine Grenzen, das Kalte und Schwere um mich herum und in mir. Da frage ich mich: Lebst du eigentlich noch oder ist irgendetwas in dir schon tot? Immer wenn es mir so geht, sehne ich mich danach, dass etwas Neues beginnt. Echter soll es sich anfühlen, leicht soll es sein, sich selbst und andere anzunehmen, sonnendurchflutet die Tage, sternenklar die Nacht, neue Geburt irgendwo in einem fernen Land. Solche Nachmittage gehen vorbei, und das ist gut so. Aber die Sehnsucht bleibt.

II.
Manchmal sehne ich mich nach einem neuen Leben. Ich habe den Verdacht, das geht vielen Menschen auch so. Ein Blick in die Fernsehlandschaft zeigt: Die Sehnsucht nach einem neuen Leben ist ein Quotenhit. Was produziert die Unterhaltungsindustrie nicht alles für Sendungen, die ein neues Leben verheißen und den Weg dahin vor den Augen aller inszenieren! Wie viele Menschen schalten da ein! „Extrem schwer – Mein Weg in ein neues Leben!“ oder „Extrem schön – Endlich ein neues Leben!“ Endlich keine überflüssigen Kilos mehr auf den Hüften, endlich attraktiv sein, endlich das alte Leben hinter sich lassen und ganz neu durchstarten! Das Spiel mit der Sehnsucht nach neuem Leben treibt die Quoten nach oben. Das Konzept dieser Sendungen ist einfach: „Finde dein neues Leben, indem du unter fachkundiger Anleitung abnimmst und deinen Typ veränderst! Erarbeite dir dein Happy End beim Showdown im Scheinwerferlicht: Als Belohnung stehst du dann als neuer Mensch vor deinen Freunden und alle Welt sieht dabei zu.“ Am Ende sieht der Zuschauer wirklich einen Unterschied zwischen Vorher und Nachher, aber klar ist auch: Der Weg ins neue Leben kann extrem anstrengend sein, Leistung und Leiden gehören dazu. „Es liegt an dir! Pimp up your life! Trainiere die Kilos ab, leg dich unters Messer, style dich um, denk positiv! Gib du deinem Leben endlich die entscheidende Wende!“ Das Geschäft mit der Sehnsucht läuft. Man mag von solchen Shows halten, was man will, ein Körnchen Wahrheit ist ja dran. Wenn ich schlecht drauf bin und denke: „Jetzt muss sich was ändern!“, gehe ich zum Friseur oder kaufe mir neue Schuhe. Für einen Moment fühle ich mich dann wie neu geboren. Die Rechnung geht auf: neue Schuhe, neue Frisur, neues Leben! Lang hält das freilich nicht an, schon bald ist wieder alles beim Alten – bis zum nächsten Schuhkauf. Wie bei diesen Shows und ihrer Mischung aus Fakt, Fiktion und Fake, wo sich der Verdacht aufdrängt, dass so mancher allzu schnell wieder in den alten Trott zurückfällt, wenn die Show abgedreht ist. All das mag oberflächlich, voyeuristisch und vermutlich wenig nachhaltig sein. Doch die Sehnsucht nach neuem Leben verkauft sich auch anders.
Vor ein paar Wochen habe ich ein Buch bekommen. Da geht es nicht um Äußerlichkeiten, sondern darum, wie man innerlich ein neuer Mensch wird und zu einem neuen Leben findet. „Raus aus den alten Schuhen – so gibst du deinem Leben eine neue Richtung“. Es ist ein psychologischer Ratgeber mit Tipps für Schritte in ein neues Leben ohne Hemmschuhe. Klingt gut: Wer will das nicht manchmal auch? Die alten schweren Schuhe gegen leichte Pumps eintauschen, sich nicht mehr durch den Alltag schleppen, sondern leichten Fußes durch das Leben tanzen? Ich lese das Buch, entdecke viel Kluges und denke, ja damit könnte es besser gehen, aber ob es tatsächlich dann anders als vorher läuft, steht und fällt mit mir und mit dem, was ich will und kann. So ist das mit vielen Ratgebern für ein neues Leben mit bewusster Work-Life-Balance und einer perfektionierten Psychohygiene. Auch hier geht es letztlich immer nur um meine Leistung, meine Lernfähigkeit, mein Talent zum Lebensmanagement.
Egal ob Körper oder Seele – wenn ich es versuche mit dem neuen Leben, kreist schnell alles um die Frage. Bin ich noch im alten Leben oder schon im neuen? Ich prüfe die Strecke, die ich zurücklege. Wie viele Schritte sind es noch zum neuen Leben? Das kann extrem anstrengend sein: Täglich beim Blick in den Spiegel fragen: Bin ich noch das hässliche Entlein oder schon ein stolzer Schwan? Beim Blick durch die Wohnung das Home-Styling kritisch prüfen, ob es auch dem eigenen Typ und Sternzeichen entspricht: Wohnst du noch oder lebst du schon? Den eigenen Marktwert bei Facebook checken, Freunde und Likes zählen und ausrechnen, ob ich es geschafft habe: Scharre ich noch mit den Hühnern oder fliege ich schon mit den Adlern? Die eigene Work-Life-Balance überdenken und beim Blick in den Kalender Termine und Auszeiten abwägen, den Gefühlshaushalt kontrollieren: Funktionierst du noch oder lebst du schon? Der Weg ins neue Leben kann zum Tanz auf der Stelle werden. Ein Schritt vor und zwei zurück. Es kann aber noch schlimmer kommen: Wenn ich nicht mehr kann und nicht mehr will, endet der Weg in einer Sackgasse und nichts geht mehr. Meine Sehnsucht ist auf der Strecke geblieben und ich bin zurück im alten Leben, erschöpfter und frustrierter.

III.
Auch Paulus spricht von einem neuen Leben. „Gott hat auch uns, die wir tot waren, lebendig gemacht.“ Sein Konzept passt allerdings nicht in das Format der TV-Reality-Shows, Doku-Soaps, Ratgeber-Besteller, Life-Style-Seminare und Psycho-Coachings. Daraus macht man kein „Extrem tot – unser Weg ins Leben!“-TV-Event nach dem Motto: „Finde dein neues Leben, indem du unter göttlicher Anleitung ein neuer und besserer Mensch wirst. Es liegt an dir, gib du deinem Leben eine Wende! Wenn du es gut machst, stehst du am Ende auf dem Siegertreppchen vor Gott, begleitet von Engelchören, bekränzt mit einem Heiligenschein: Daumen hoch! Halleluja, du hast es geschafft!“ Was Paulus schreibt, ist von anderem Format. Es geht nicht um Leistung, sondern um Liebe. Gott ist kein Drill-Instruktor und du kein heiliger Athlet, der eine Schar von inneren Schweinehunden niedergerungen hat. Das neue Leben, von dem Paulus spricht, steht nicht am Ende einer Erfolgsgeschichte von persönlicher Disziplin, menschlicher Willenskraft und permanenter Selbstinszenierung. Es ist ein Geschenk. „Denn aus Gnade seid ihr selig geworden, durch Glauben, und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es.“ Die Sprache verrät es. Wenn man genau hinhört, merkt man es: Da ist kein Befehls-oder Aufforderungston zu hören. Kein: „Reiß dich zusammen!“ Kein: „Ändere dich jetzt!“ Kein: „Weiter so!“ Allein das macht deutlich: Nicht wir sind es, die sich Schritt für Schritt in ein neues Leben kämpfen. Es ist Gott, der an uns handelt. Was ihn leitet, sind Gnade, Güte, Barmherzigkeit, Liebe. „Aber Gott, der reich ist an Barmherzigkeit, hat in seiner großen Liebe, mit der er uns geliebt hat, auch uns, die wir tot waren, lebendig gemacht.“ Was für eine Wende zum Guten!
Die christliche Tradition kennt ein Wort dafür. Conversio. Umkehr, Bekehrung. Diese Wende hängt nicht von meiner Stilsicherheit, meiner Kondition oder meiner Cleverness ab. Sie ereignet sich nicht im Fitnessstudio, nicht beim Friseur, im Schuhgeschäft, in der Beauty-Lounge und auch nicht in einer Coaching-Sitzung. Diese Wende geschieht im Glauben. „Glauben ist das Finden eines Du, das mich trägt.“- so hat es der Theologe Joseph Ratzinger formuliert. Von Gott werden wir getragen in ein neues Leben, werden „eingesetzt in den Himmel“, jenes Land in weiter Ferne, das wie ein heller Glanz durch meine Seele geistert, sonnendurchflutet die Tage, sternenklar die Nacht, durchsichtig das Leben. Was für eine Gnade!
Dieses neue Leben kann mit einem Mal in das alte einbrechen, plötzlich einschlagen wie ein Blitz und alles von einem Moment zum anderen auf den Kopf stellen. Viele hatten so ein Bekehrungserlebnis. Paulus ging es so auf dem Weg nach Damaskus. Da ist etwas passiert. Auf einen Schlag war nichts mehr wie es war. Paulus war nicht mehr der, der er vorher war. Da waren ein neues Leben, ein neuer Mensch, ein Gott, der trägt. „Gott hat auch uns, die wir tot waren, lebendig gemacht.“ Doch das muss nicht wie ein Blitz einschlagen, es muss nicht sein wie in einer klassischen Bekehrung, bei der man von einem Moment zum anderen vom Saulus zum Paulus wird. Das haben die wenigsten von uns erlebt. Die meisten sind als Kind hineingetauft in diese Wende zum Leben. Im Glauben kann man es immer wieder spüren. Ganz leise kann es passieren. Ganz unscheinbar und unberechenbar kommt es, das neue Leben. Einfach so, wie ein Geschenk, das vom Himmel fällt. „Gottes Gabe ist es.“

IV.
Es gibt Tage, die werfen mich aus der Bahn. Da brennt mein Herz und meine Seele jubelt. Meine Angst wird klein und meine Grenzen weit. Ich kann wieder lachen und kann wieder weinen, kann wieder leben und kann wieder lieben. Ich seh die Sonne, ich seh die Sterne. Der Himmel ist zum Greifen nah. Wenn das passiert, frage ich nicht: Bin ich noch Saulus oder schon Paulus? Bin ich noch tot oder lebe ich schon? Ich lebe einfach, das „Gehen ein Tanz, das Wort ein Gesang“ (Michel Houellebecq).
Amen



 

Perikope
07.08.2016
2,4-10