"Brich dem Hungrigen dein Brot", Predigt zu Jesaja 58 von Reinhold Mokrosch
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„Brich dem Hungrigen dein Brot!“
Liebe Erntedank-Gemeinde!
I.
Während meines letztjährigen Aufenthaltes in Süd-Indien (ich besetzte eine Gastprofesur am „United Theological College“ in Bangalore) hatte ich ein denkwürdiges Erntedank-Erlebnis gehabt: 
Neben meinen Vorlesungen am College predigte ich oft in der benachbarten christlichen Gemeinde.  Leider lebten die Christen dort untereinander getrennt. Die Kasten-Christen, welche durch Geburt einer Kaste angehörten, feierten Gottesdienste, Gemeindeabende und natürlich das Abendmahl unter sich, ohne die kastenlosen Christen, die sog. Dalits bzw. „Unberührbaren“. Und so feierten auch diese  getrennt von den Kasten-Christen. Die Dalit-Christen waren relativ arm, die Kasten-Christen relativ reich, weil sie über den Weinanbau verfügten, von dem die Gemeinde lebte.
Den indischen Pfarrer dieser Gemeinde, Dr. Joseph Prabhakar, wurmte das. Aber er konnte nichts machen. Die indische Kasten-Apartheid hatte sich auch in seiner christlichen Gemeinde eingenistet.
Er erzählte mir folgendes: Für das letzte Erntedankfest (2009), das unter indischen Christen immer groß gefeiert wird, hatte er sich folgendes ausgedacht: Die wohlhabenden Kasten-Christen sollten den minder bemittelten Dalit-Christen ein Erntedankgeschenk machen, und zwar Brot und Wein. Das Brot wolle er, der Pfarrer spenden. Den Wein sollten die Kasten-Gemeindeglieder aufbringen, - und zwar so, dass jede der 141 Kastenfamilien am Abend vor Erntedank je zwei Flaschen Wein in das große Weinfass hinter der Kirche schütten sollte. Das geschah so. Und in der Nacht sei er, der Pfarrer, mit seiner Frau zum Weinfass gegangen, um den Wein zu kosten. Aber was musste er feststellen? Wasser, nichts als Wasser war in die große Weintonne gegossen worden. Er erzürnte und beschloss, seinen Kasten-Christen in der Erntedank-Predigt die Leviten zu lesen.
Am nächsten Morgen war Jes. 58 „Brich dem Hungrigen dein Brot“ dran. Er predigte emphatisch: „Eigentum verpflichtet! Christen müssen teilen und abgeben! Das ist Christenpflicht.“ Am Schluss sei er auf die Weinspende zu sprechen gekommen und habe gewettert: „Aber einer unter euch, nur einer, hat statt Wein Wasser in das Fass geschüttet. Wasser für unsere kastenlosen Brüder und Schwestern! Welche Schande! Ich könnte hier auf den Täter zeigen. Aber ich tu es nicht. Vielmehr gebe ich ihm die Chance, heute Abend in der Dunkelheit zwei Flaschen Wein neben das Fass zu stellen und den Betrug wieder gut zu machen.“
Am Abend, so erzählte er mir, habe er einen regen Verkehr hinter der Kirche registriert. Und siehe da: Spät in der Nacht habe er 282 Flaschen gezählt. Die habe er, zusammen mit dem von ihm gespendeten Brot, unter die Dalit-Christen verteilt.
„War das“, so fragte er mich, „eine Konversion meiner Kasten-Christen?“ Ich wagte keine Prognose. Er selbst bezweifelte es und meinte: „Die haben nur aus schlechtem Gewissen zwei Flaschen Wein hingestellt, - weil sie Angst vor Gottes Gericht hatten; nicht weil sie den Dalits helfen wollten.“ Und dann stöhnte er: „Und ich möchte so gern, dass wir einmal das Abendmahl zusammen feiern. Deshalb hatte ich doch Brot und Wein gewählt.“
Liebe Erntedank-Gemeinde!   Mir wurde bei diesem Erlebnis in Süd-Indien (sei es nun in der Erzählung vom Pfarrer etwas ausgeschmückt worden oder nicht) klar, dass Erntedank ein Gemeinschaftsfest ist!  Präziser: Es ist ein Gemeinschaftsfest, bei dem jeder für den anderen einstehen, ihm helfen und ihm beistehen soll. Und noch präziser: Es ist ein Gemeinschaftsfest, zu dem jeder Zugang haben soll, - Christ, Jude, Muslim, Bahai und Andersgläubiger, Migrant und Einheimischer, sozial Schwacher und sozial Starker, Kastenangehöriger und Kastenloser!  Das ist „Kirche“ im schönsten Sinn des Wortes. Dietrich Bonhoeffer nannte solche (Erntedank-)Gemeinschaft: „Kirche für alle“! Eine Kirche ohne Eingrenzung oder Ausgrenzung von Menschen, eine Kirche mit offenen Ohren für den Glauben anderer und eine Kirche der Nächstenliebe und sozialen Gerechtigkeit.
II.
Bevor ich aber in unkontrolliertes Schwärmen gerate, möchte ich unseren Erntedank-Predigt-Text vorlesen. Es ist der gleiche Text, den der indische Pfarrer Prabhakar zum Erntedank ausgelegt hatte. Er steht in
Jes 58, 7-12 (Text verlesen)
„Brich dem Hungrigen dein Brot!“ Diese Aufforderung hat 2 ½ Tausend Jahre die jüdische und christliche Menschheit bewegt. Die gesamte Diakonie und Caritas ist aus diesem Vers hervorgegangen. J.S. Bach hatte seine bekannte Sonate „Brich dem Hungrigen dein Brot“ 1726 nach Jesaja geschrieben. Und viele Bücher, Essays, Dramen etc. wurden unter diesem Titel verfasst und veröffentlicht.
Welche Bedeutung hatte dieser Ruf, als er vor 2 ½ Tausend Jahren im Jesaja-Buch verfasst wurde? Ich muss Sie 2 ½ Tausend Jahre zurück versetzen in den Nahen Osten zwischen Jerusalem und Bagdad:
Die Oberschicht Israels lebte schon seit 50 Jahren im Babylonischen Exil (es ist unsicher, ob Babylon mit Bagdad identisch ist). 50 Jahre lebten die Hebräer  in der fremder Kultur und in fremder Religion. Und jetzt, im Jahr 538, nach 50 Jahren Exil, passierte ein Wunder: Der neue Perserkönig Kyros erlaubte den Tausenden verschleppter Hebräer, aus Babylon nach Jerusalem zurückzukehren. Und noch mehr: Er erlaubte, dass der Jerusalemer Tempel, der von den Babyloniern total zerstört worden war, wieder aufgebaut werden dürfe. Ein Wunder! (Vergleichbar mit dem Wunder des Mauerfalls 1989?)
Nun erwarteten die Hebräer den Anbruch einer Blüte- und Heilszeit nach der Rückkehr der Oberschicht. Aber davon war nichts zu spüren. Vielmehr herrschten Armut, Not, Elend und Unrecht in Israel.  – Da trat ein Prophet, der sog. 3. Jesaja, genannt Tritojesaja, auf und rief seinen Gläubigen zu: „Ihr Hebräer und Israeliten! Seid gerecht wie Gott gerecht ist! Teilt eure Güter mit den Armen, Obdachlosen und Nackten. Grenzt euch nicht gegenseitig aus! Brecht den Hungrigen euer Brot! Dann wird Gottes Licht über euch aufgehen!“ Es war ein Aufruf zum gerechten Teilen und gleichzeitig ein Aufruf  zu bedingungsloser Gemeinschaft. Denn Gemeinschaft ohne Teilen sei eine Unmöglichkeit; und Teilen ohne Gemeinschaft sei ein Unding.
Welche Gemeinschaft meinte der Prophet Tritojesaja? Ich möchte auf eine Formulierung im Text aufmerksam machen: Nach den drei Aufforderungen „Brich dem Hungrigen dein Brot! Gib dem Obdachlosen Unterkunft! Kleide den Nackten!“ heißt es in V8: „Entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!“  Was ist denn damit gemeint? Es ist der Aufruf: Entzieh dich nicht deinem Mitmenschen; denn er besteht wie du aus Fleisch und Blut; ja er ist dein eigenes Fleisch und Blut!  Mit diesem Mitmenschen war damals sicherlich nicht nur der hebräische Volksgenosse, sondern jeder Mitmensch gemeint, also auch der Aramäer, Kanaanäer, Edomiter, Moabiter, Samariter etc.  Heute würde es heißen: Entzieh dich nicht den Migranten, Kastenlosen, Unsympathischen und Fremden!
Das war die Botschaft des Propheten Tritojesaja: Teilt eure Güter und lebt in Gemeinschaft mit allen Menschen. Grenzt niemanden aus! Grenzt euch selbst nicht ein! Macht andere nicht schlecht! Zeigt nicht mit Fingern auf sie! (V 9b) Mobbt euch nicht! Dann werdet ihr auch in schwersten und dunkelsten Stunden Gottes Licht sehen und neue Hoffnung schöpfen.  Denn Gemeinschaft untereinander mit allen Menschen und ein gerechtes Teilen und Brotbrechen untereinander waren für Tritojesaja der Weg zu Gott selbst.
III.
Genau so sehe ich auch Dietrich Bonhoeffer. Er war ein Gemeinschafts- und ein Gerechtigkeitsprophet wie Tritojesaja. Ein Gemeinschaftsprophet war er, als er Gemeinschaft mit den verfolgten Juden forderte: „Wer nicht mit den Juden schreit, hat kein Recht gregorianisch zu singen“ hatte er nach der Zerstörung jüdischer Geschäfte am 10. April 1933 geschrieben. Er hatte eine „offene Kirche für alle“ gefordert, offen auch für die verfolgten Juden.
Und er war ein Gerechtigkeitsprophet, als er im November 1940 auf einem seiner Ethik-Fragment-Zettel in Anspielung auf unsere Erntedankstelle notierte: „Der Hungernde braucht Brot, der Obdachlose Wohnung, der Entrechtete Rechte, der Vereinsamte Gemeinschaft, der Zuchtlose Ordnung, der Sklave Freiheit. Es wäre eine Lästerung Gottes und des Nächsten, den Hungernden hungrig zu lassen, weil Gott gerade der tiefsten Not am nächsten sei. Um der Liebe Christi willen, die dem Hungernden gehört wie mir, brechen wir das Brot mit ihm, teilen wir Wohnung. Wenn der Hungernde nicht zum Glauben kommt, so fällt die Schuld auf die, die ihm das Brot verweigern. Dem Hungernden Brot verschaffen ist Wegbereitung für das Kommen der Gnade“ (D. Bonhoeffer Werke, Bd 6, 155) 
Bonhoeffer wirkte wie Tritojesaja! Er rief dazu auf, allen Nazi-Verfolgten, Juden, Kommunisten, Sozialisten und Romas, Unterkunft, Kleidung und Nahrung zu geben. Aber er wurde nicht gehört, weil er nicht gehört werden konnte. Niemand hatte zu seinen Lebzeiten auch nur einen einzigen seiner Tausend  Ethik-Fragment-Zettel lesen können. Alles war geheim.  -  Heute aber können wir klipp und klar Bonhoeffers (und Tritojesajas) Aufruf hören: Es wäre eine Lästerung Gottes, den Hungernden hungrig und einsam sein zu lassen. Es wäre eine Lästerung Christi, den, der nach Gemeinschaft, Liebe und Gerechtigkeit hungert, hungrig sein zu lassen. Denn unser Eintreten für Gemeinschaft, Liebe und Gerechtigkeit bereitete den Weg für Gottes Gemeinschaft, Liebe und Gerechtigkeit. Dietrich Bonhoeffer ist für mich das größte prophetische Vorbild für Gemeinschaft im Sinne einer „Kirche für alle“, für Liebe ohne Einschränkungen und für Gerechtigkeit zugunsten des Hungernden.
IV.
Erntedank, liebe Gemeinde, mahnt zur Gemeinschaft, zur „Kirche für alle“ und zum gerechten Teilen. „Brich dem Hungrigen dein Brot! Und pflege mit ihm Gemeinschaft! Er ist wie Du, - aus deinem Fleisch und Blut!“
Der südindische Pfarrer Dr. Prabhakar schrieb mir kürzlich: In seiner Gemeinde habe sich beim letzten Erntedankfest 2010 eine kleine Revolution vollzogen: Er habe, so schrieb er mir, zum Erntedank-Sonntag ein gemeinsames Agapemahl, ein Liebesmahl, eine Art, aber kein direktes Abendmahl angesetzt. Als Dank für Gottes Liebe! Und es seien tatsächlich auch einige Kasten-Christen gekommen, um mit den Kastenlosen zu feiern. Und sie hätten den Kastenlosen nicht Wasser, sondern Wein eingeschenkt. – Er, der Pfarrer, habe wieder über Jes. 58 „Brich dem Hungrigen dein Brot“ gepredigt. Aber diesmal habe er das Brotbrechen auf das Brotbrechen beim Abendmahl bezogen. Eine Gemeinschaft sei gewachsen. Und als sie das „Unser Vater in dem Himmel“ gebetet und damit bezeugt hätten, dass sie eine gemeinsame Familie mit einem gemeinsamen Vater seien, da hätten sich sogar einige Kasten-Abgehörige und Kastenlose die Hand gegeben.
Liebe Erntedank-Christen. Vielleicht können auch wir heute oder in den nächsten Tagen ein (Agape-)Mahl mit jemandem einnehmen, der uns bisher fremd oder vielleicht unsympathisch war. Es könnte ja sein, dass er nach Zutrauen und Gemeinschaft hungert. Gottes Geist wird dabei mit uns sein!
Brich dem Hungrigen dein Brot! Pflege mit ihm Gemeinschaft! Er ist wie Du!
Der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und unsere Sinne in Jesus Christus!
Amen. 
Perikope
02.10.2011
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