Christnacht - Predigt zu 1. Timotheus 3,16 von Bernd Vogel
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Christnacht - Predigt zu 1. Timotheus 3,16 von Bernd Vogel

Und groß ist, wie jedermann bekennen muss, das Geheimnis des Glaubens:

Er ist offenbart im Fleisch, gerechtfertigt im Geist, erschienen den Engeln, gepredigt den Heiden, geglaubt in der Welt, aufgenommen in die Herrlichkeit.

Johnny Augustus. Mit hochgerecktem Kinn stand Johnny er da und zeigte mit seinem rechten Arm in die fernen Enden seines Reiches. Unter ihm zwei andere Jungen, die je einen Aspekt des Kaisers Octavian, genannt ‚Augustus‘, der Erhabene, verkörperten. Der eine kniete vor Johnny und breitete wie zum Segen seine Arme über den Erdkreis aus. Der andere stand rechts von Johnny und zeigte seine angespannte rechte Faust. Man konnte sich ein römisches Kurzschwert dazu denken. Pax Romana, der ‚römische Friede‘, erzwungen durch die Gewalt der römischen Armeen.

Das in der Reihenfolge erste Standbild im Weihnachtsgottesdienst der 8. und 9. Klassen der Integrierten Gesamtschule Lüneburg. Es folgten weitere: Die Hirten auf dem Felde und die Engel, Maria und Josef und das Kind, die Hirten und Maria, die alle die Worte der Hirten in ihrem Herzen bewegte, ordentlich, aber eher allzu demutsvoll und darum auch etwas ironisch dargestellt von Elias.

Das kommt dabei heraus, wenn wir das Wort von der Heiligen Nacht in unsere tatsächlichen Seelen und Leiber fallen lassen, wenn das ‚Wort Gottes‘, wie es früher selbstverständlich hieß, sich in die Hände und Gesten von 14-Jährigen gibt.

Und wir? Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Junge und Altgewordene? Frauen und Männer und wer auch immer wir sind? Wie ist das bei uns, wenn die alten großen Worte, 2700 Jahre alt, millionenfach gelesen, gehört, verstanden, unverstanden, beherzigt, verworfen, für wahr und für Irrtum und Gewäsch gehalten, voller Tiefsinn oder unsinniger Utopie zu uns kommen durch die Lesung, durch die eigenen Augen und das Gehör, gelesen von einem Anderen für uns?

Wie geht uns das, wenn uns diese Worte erreichen, ereilen, ertappen? Was davon rührt in uns etwas an? Sind es einzelne Worte, Sprachbilder? Werden Erinnerungen wach? Psychologen, Philosophen und Literaturwissenschaftlerinnen wissen schon lange: Im Grunde verstehen wir nur neu, was wir einmal schon verstanden haben. Am besten verstehen wir Bilder. Dann kann es eine uns meistens unbewusste Verbindung geben zwischen den Bildern, die in den Worten stecken, und den Bildern der Seele, die in uns selber verborgen wohnen. Tief in unserem Hirn sind keine abstrakten Sätze abgespeichert wie etwa: „In Jesus ist Gott Mensch geworden“. Stattdessen geht unser uns selbst verborgenes ‚Ich‘, gehen wir dort in den Tiefen des Unbewussten durch einen Bildersaal. In ihm hängen an den Wänden die uns wichtigsten Bilder. Von frühester Zeit an, Forscher*innen und Theolog*innen sagen es mit unterschiedlichem Akzent beide: Schon im ‚Mutterleibe‘ sind wir bebildert, sind wir von Gott ‚gebildet‘ (Ps 139). Was wir sicher wissen können: Es wohnen in uns die Bilder, mit denen wir unser Leben so oder so bestehen. Was wir nicht naturwissenschaftlich beweisen, aber hoffen und glauben können: Indem wir ‚gebildet‘ wurden, hat sich uns der Schöpfer selbst eingebildet: Wir sind alle, jede und jeder auf eigene Art, ‚Ebenbild‘ Gottes. Das ist das entscheidende ‚Bild‘ in uns allen. Das sind wir selbst. Ebenbild Gottes.

Johnny z. B.: Könnte sein, dass er selten so stolz da stand wie jetzt als der erhabene Kaiser ‚Augustus‘. Johnny, auf den der Lehrer ein besonderes Auge haben soll, ihn fordern und vor allem fördern; denn eine IGS ist eine Schule für alle. Manchmal bis zur Erschöpfung muss da differenziert und gefördert und gesondert beurteilt werden. In diesem Moment aber war Johnny kein Förderkind, sondern der Kaiser Augustus; und niemand lachte.

„Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot ausging von dem Kaiser Augustus …“ Vielleicht nicht die wichtigsten Worte aus der lukanischen Weihnachtsgeschichte, aber die ersten, die eröffnenden – und für Johnny waren sie, vielleicht nur für Sekunden, aber immerhin, eine Erfahrung, die das Selbstbild in ihm wachrief, er wäre jemand mit Würde und Erhabenheit. So stellte er sich jedenfalls zu ihnen auf mit weit ausgerecktem Arm.

Wenn uns ein Wort eines anderen Menschen zu Herzen geht, dann nicht nur deshalb, weil wir Interesse an diesem Menschen haben, der es uns gesagt hat, weil wir einen Zweck damit verbinden, den er an uns erfüllt. Ein Wort, das uns wirklich unter die Haut geht, ins Herz fährt, in die Tiefen unserer Seele gelangt, dorthin, wo wir bewusst gar nicht sagen können, was da alles an Bildern hängt in jenem Saal … das trifft uns deshalb so tief, weil wir jenseits aller Zwecksetzungen unmittelbar spüren: Der Mensch meint ja MICH! Der hat ja wirklich MICH gesehen und erkannt. Der ist ja tatsächlich ganz MIR zugewandt. Der bestätigt ja gerade MIR, dass ich auf der Welt da bin, mit völligem Recht und so, wie ich bin, mit letztem Grund, weil und insofern ich das EBENBILD nicht irgendeines Menschen, auch nicht von Vater und Mutter, bei allen Ähnlichkeiten, bin, sondern das Ebenbild GOTTES!

Wenn uns das Wort eines anderen Menschen – etwa in einem Liebesbrief, einer Kurz-Nachricht, einem zugesandten Foto und dergleichen – derart erreicht und betrifft, dann sprechen Predigerinnen und Theologen davon, dies sei möglicherweise und möglicherweise ganz bestimmt das WORT GOTTES gewesen, das in uns gefallen ist und das diese Wirkung in uns entfacht hat wie ein auf’s Ende gesehen nie ausgehendes Feuer, dem wir also nur staunend und dann auch dankbar zustimmen können.

Das „Geheimnis des Glaubens“. Spätestens seit Immanuel Kant, seit über 200 Jahren, wissen nicht nur die sogenannten Gebildeten unter uns, sondern weiß es fast instinktiv jedes Schulkind in diesem Lande, dass wir von „Gott“, wenn überhaupt, dann nur in Anführungszeichen unten und oben sprechen können.

Bis zum Abitur habe ich in meinen Religionskursen mit der Schülerfrage zu tun: Was stimmt denn nun: Die Evolutionstheorie oder die Bibel, in der steht, dass Gott die Welt in sechs Tagen (die meisten sagen: 7, aber geschenkt) geschaffen habe. Da hilft es nicht so viel, wenn ich sage: Das eine handelt vom ‚Wie‘, das andere vom ‚Sinn‘ der Welt. Die Naturwissenschaftler erkunden die genauen Abläufe. Sie ahnen am Ende nur den ‚Anfang‘ und können gedanklich nicht vor den Anfang von Zeit und Raum denken. Was war vor dem ‚Urknall‘? Diese Frage kann kein Naturwissenschaftler sinnvoll beantworten. Die Theologen und Theologinnen, die Prediger und Predigerinnen etwa jetzt zu Weihnachten sprechen dagegen vom Sinn des Ganzen: Welchen Sinn hat es vielleicht, als Mensch auf dieser Erde ein paar Jahre zu leben und dann zu sterben, als wäre man nie gewesen? Meine Schüler und Schülerinnen nehmen eine solche Antwort mehr oder weniger respektvoll zur Kenntnis; aber – ich sehe es an ihren Gesichtern – es überzeugt sie kaum.

Es gibt viele Gründe, warum die Skepsis so tief sitzt. Ein fast schon eingefleischter, tagtäglich eintrainierter ‚Glaube‘ ‚an‘ die Künste der Naturwissenschaft und Technik spielt eine Rolle. Zugleich merken auch Jugendliche, die täglich stundenlang mit ihrem Handy beschäftigt sind, wie brüchig das Eis ist, auf dem wir alle stehen mit unserem fast blinden Vertrauen in unser Wissen und Können. Der Jahrhunderte lang gepflegte Hochmut vieler Prediger und Kirchenführer spielt auch eine Rolle. Viele Menschen nehmen den Theologen ihre Worte nicht mehr ab, weil so lange so viel Gerede darin war, so viel ‚fake‘-news, statt Ehrlichkeit und echten Zweifeln und echtem Glauben.

Ich denke aber, die Schwierigkeit zu glauben im 21. Jahrhundert liegt noch tiefer, auch jenseits von gemachten Fehlern seitens der Kirche und Irrglaube auf Seiten der sogenannt modernen Menschen. Es scheint das „Geheimnis des Glaubens“ noch nicht ansatzweise verstanden worden zu sein, so, wie wir versuchen könnten es zu verstehen. Um auch nur einen Hauch davon heute Abend zu verstehen, ist nach all den Gedanken und Worten noch eine letzte Vertiefung nötig, die uns allen einiges abverlangt.

Sehen Sie, seht ihr zu, ob ihr diesen gedanklichen Weg noch mitgehen wollt und könnt. Im Grunde steht alles in unserem Predigttext aus dem 1. Timotheus, den wir eingangs schon hörten:

Und groß ist, wie jedermann bekennen muss, das Geheimnis des Glaubens: Er ist offenbart im Fleisch, gerechtfertigt im Geist, erschienen den Engeln, gepredigt den Heiden, geglaubt in der Welt, aufgenommen in die Herrlichkeit.

Wenn uns das Wort eines anderen Menschen derart erreicht, dass wir bis in die Tiefe unserer Seele berührt und bewegt sind, wenn unsere Sehnsucht erwacht, wenn Tränen fließen, wenn wir am liebsten sofort einen Menschen umarmen möchten oder etwas Dringendes gerade rücken, wenn uns danach ist, dass an dieser oder jener Stelle unser Leben tatsächlich noch einmal neu und anders werden soll, einfach, weil das Leben nicht mehr zu uns passt, so, wie wir wirklich sind als Ebenbild Gottes, dann hat uns möglicherweise Gott mit Gottes Wort erreicht. Dann ist Jesus Christus in uns geboren, wie es in den Weihnachtsliedern heißen kann. „O lass mich doch dein Kripplein sein; komm, komm und lege bei mir ein dich und all deine Freuden“ (Paul Gerhardt).

Das „Geheimnis des Glaubens“ ist „offenbart“ im „Fleisch“. Gemeint ist natürlich, dass Gott in Jesus Mensch geworden ist, dass das Kind in der Krippe GOTT ist … Gemeint ist das ‚natürlich‘ … was heißt denn das? Das kann doch kein Mensch verstehen, der bei gesundem Verstand ist! Ich meine das nicht rhetorisch und irgendwie ‚fromm‘, als hätte ich da eine gedankliche Lösung. Nein, der Gedanke, dass Gott Mensch wird, ob in einem Kaiser oder in einem Krippenkind, was die Angelegenheit vielleicht noch verschärft, ist für Menschen des 21. Jahrhunderts gedanklich nicht nachvollziehbar. Es ist aufgrund unserer Geistes- und Kulturgeschichte einfach nicht plausibel, dass die Geburt Jesu damals in Bethlehem genauso, wie Lukas es erzählt, abgelaufen sein könnte.

Warum z. B. sollte Gott nur damals einmal so wunderbar gehandelt haben, bis hin dazu, dass er den Kaiser Augustus einen Befehl erlassen lässt – ohne dass der weiß, dass er Werkzeug des einen Gottes Himmels und der Erden ist – aufgrund dessen Josef mit Maria aus Nazareth nach Bethlehem zieht, wo dann Jesus geboren wird als der Davidsohn in der Davidstadt? Warum scheint Gott heute nicht mehr so zu handeln, wo doch überall Not ist? Warum befiehlt Gott nicht dem Trump zurückzutreten und anderen Despoten nicht Demut und Vernunft für bessere Politik?

Die Geschichte, die die Hirten von den Engeln hören, ist genauso, wie sie ‚da‘ ‚steht‘, wahrscheinlich nicht geschehen. So denken wir heute einfach vom Ausgang der Kindheit an. Das ist unsere Kultur. Die üben wir jeden Tag auf’s Neue ein. Wir programmieren unsere Gehirne. Damit kann man, wenn man Glück hat, alt werden und, solange man auf der wohlhabenden Seite der Erde geboren ist, einigermaßen satt und manchmal auch glücklich leben, bis man eines Tages stirbt wie vor einem selbst die anderen, die es nicht so gut getroffen haben. Warum auch immer.

Das „Geheimnis des Glaubens“ ist nun in dieser Lage für uns im 21. Jahrhundert in Deutschland vielleicht das, dass wir durch diese dunklen Erkenntnisse hindurch müssen, um es Weihnachten werden zu lassen. Es ist uns verwehrt, das alles nicht zu wissen, was wir wissen. Wir sind herausgefallen aus der der Kindheit ungetrübter Hoffnungen und Träume. Wir wissen von der Geschichte und von uns selbst darin. Daraus erlöst uns direkt kein Gott und kein Götze. Man kann sich betrügen, einnebeln, abnabeln von der Welt. Man kann sich religiöse oder sonstige kleine Fluchten suchen und abtauchen in Scheinwelten, in Bilderfluten alltäglich. Das alles rettet uns nicht unsere Seele.

Er ist offenbart im Fleisch, gerechtfertigt im Geist. Im ‚Fleisch‘ unseres wirklichen Lebens IST offenbart der Sohn Gottes. In den ganzen Gefühlen und Gedanken IST Gott Mensch in uns. Das erkennen wir nicht anders als durch den und im GEIST. Das bedeutet hier „gerechtfertigt“ im Geist. Gottes Geist ist die einzige Macht, die uns unseren Glauben, unsere Hoffnung, unsere Liebe erweckt, erneuert und bewahrt, d. h. recht fertigt. Auf uns selbst gestellt, sind Zweifel, Stimmungen, Depressionen viel zu stark. Wir können unseren Glauben nicht begründen, weder intellektuell, noch psychisch.

Es geht hinunter in jenen Bildersaal der Seele. Dorthin können wir uns zumindest willentlich auf den Weg machen. Nichts erzwingen. Nichts sich selber einbilden. Nur die Sehnsucht wird uns leiten. Und dann halten wir Ausschau. Und hören.

erschienen den Engeln, gepredigt den Heiden, geglaubt in der Welt, aufgenommen in die Herrlichkeit.

Den Engeln ist Jesus als der Sohn Gottes, als der Sinn unseres Lebens, als unsere Hoffnung auf Erfüllung unserer Sehnsucht bereits „erschienen“. Das lässt sich nicht beweisen. Davon lässt sich erzählen. So wie Lukas von den Engeln auf den Feldern von Bethlehem erzählt, die wiederum den Hirten erzählen, was es mit dem Kinde auf sich hat, die wiederum Maria und Josef erzählen …, deren Nachfahren es den ‚Heiden‘, d. i. den Völkern der Welt ‚predigen‘. So wird Gott „geglaubt in der Welt“ und ist Jesus schon „aufgenommen in die Herrlichkeit“ Gottes, von woher seine Herrlichkeit, sein unendlicher Lichtglanz unsere finstreren Herzen und dumpfen Geister erhellt und erleuchtet.

Der Schweizer Theologe Karl Barth, dessen 50. Todestag wir dieses Jahr begehen, hat am Abend vor seinem Tod seinem Freund Eduard Thurneysen ins Telefon gesagt:

„Ja, die Welt ist dunkel. Aber nur ja die Ohren nicht hängen lassen! Nie! Denn es wird regiert, nicht nur in Moskau oder in Washington oder in Peking, sondern es wird regiert, und zwar hier auf Erden, aber ganz von oben, vom Himmel her! Gott sitzt im Regimente! Darum fürchte ich mich nicht. Bleiben wir doch zuversichtlich auch in den dunkelsten Augenblicken! Lassen wir die Hoffnung nicht sinken, die Hoffnung für alle Menschen, für die ganze Völkerwelt! Gott lässt uns nicht fallen, keinen einzigen von uns und uns alle miteinander nicht! – Es wird regiert.“1 

 

1 I Zitiert nach K. Kupisch, Karl Barth in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Stuttgart 1977, 135.