„Christus als Gemeinde existierend“ (Dietrich Bonhoeffer)
Es gibt Bilder und Vorstellungen, die wirken durch alle Zeiten hindurch. Sie sind geradezu Ausdruck einer prägenden geistigen und kulturellen Vorstellungswelt. Von ihnen sagt der Philosoph Hegel, dass sie den objektiven Geist verkörpern. Die Faszination an kosmologischen Mythen und Vorstellungen gehört in diesen Bereich. Ob Atheist oder Christ, Jude oder Moslem, philosophischer Pantheist oder Buddhist: Philosophien und Weltreligionen reiben sich seit alters an der Vorstellung metaphysischer Mächtigkeit und auch die naturwissenschaftliche Entmythologisierung zu Gunsten des Erklärbaren hat es nicht geschafft, den kosmologischen Vorstellungen ihre Faszination zu rauben. Mit welcher Emphase bekannte der US-amerikanische Astronant Neil Amstrong als er als erster den Fuß auf den Mond stellte, dass dort oben Gott nicht sei. Und Immanuel Kant stellt in seinem Werk Kritik der praktischen Vernunft den berühmten Satz auf: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“ Was also hat es auf sich mit der Macht und der Mächtigkeit des Himmels? Ist der Himmel leer, wie der Atheismus mutmaßt oder wird einfach nur das Bild von der Mächtigkeit des Himmels seit langer Zeit falsch verstanden? Für das Christentum bedeutet die Himmelfahrt Jesu Christi nicht weniger als den Ausdruck dafür, dass der Mensch Jesus von Nazareth eine Wandlung vollzogen hat und als Mensch, der gestorben ist, zugleich auch Gott ist. Daran hängt vieles, wenn nicht sogar alles im dogmatischen Lehrgebäude der Kirchen. Denn mit Christi Himmelfahrt wird der Glaube an den dreieinigen Gott, d.h. die Trinität erst möglich. Sie indes unterscheidet das Christentum wiederum vom Judentum als dem religiösen Wurzelgrund der drei semitischen Religionen ebenso wie vom Islam. Im religiösen Festkalender folgt nur etliche Tage nach Himmelfahrt das Pfingstfest. Damit ist der Kreis zwischen Karfreitag, Ostern und Pfingsten geschlossen.
Es ist in der Geschichte der Kirche unzählige Male und zu jeder Zeit wiederum neu der Versuch unternommen worden, die Ereignisse zwischen Passion und Pfingsten in theologische Sprache und Begriffe zu übertragen. Nach wie vor überzeugt mich der Versuch Dietrich Bonhoeffers noch am meisten, der vom Pfingstereignis herkommend, Auferstehung, Himmelfahrt und Pfingsten unter die Formel zu vereinen sucht: „Christus als Gemeinde existierend“. Für mich heißt das: In der Wirklichkeit der christlichen Gemeinde sind Gott und Jesus Christus als Abwesende in Symbolen, Verkündigung und Ritualen anwesend. Sie sind im Himmel und gleichzeitig auf der Erde. Darin besteht ihre Mächtigkeit, dass sie nämlich wirksam sind und die Sphäre des Himmels bis hinunter auf die Erde reicht. Ein Ort ihrer Gegenwart ist die Gemeinde, aber dieser Ort hat exemplarischen Charakter und repräsentiert das Göttliche bei Leibe nicht exklusiv. Das zu erklären hat sich auch der Brief des Apostels Paulus an die Epheser vorgenommen, aus dem der Predigttext zum Himmelfahrtstag entnommen ist. So sind die wenigen Verse, die als Vorlage für die Predigt zum Himmelfahrtstag gedacht sind, eingebettet in den Gesamtzusammenhang des Briefes und vor allem in den Duktus der Verkündigung des Apostels. Dabei spielen zwei Aspekte eine entscheidende Rolle: die Auferstehung und die Idee der Kirche. Sie bildet eine Gemeinschaft der Glaubenden, in der Jesus Christus selbst als anwesend gedacht wird. Er ist der „Geist“ dieser Gemeinschaft, der mit Pfingsten ausgegossen wird. Im Abendmahl, in der Verkündigung und in der Gemeinschaft ist dieser Geist lebendig und wirksam. Dieser Grundgedanke prägt die Kirche in ihrem Selbstverständnis und Selbstbild bis heute.
1. Die Macht des Himmels
Die orthodoxe Theologie erkennt im Ablauf des Kirchenjahres ein Mysterienspiel, das sich jeweils zyklisch im Jahreskreislauf zwischen der Offenbarung des Göttlichen im Weihnachtsgeschehen bis hin zur Inthronisation des Gottessohnes im Himmel und der Ausgießung des Heiligen Geistes ereignet. Im Rahmen der göttlichen Heilsökonomie ist der östlichen Kirche die Inthronisation und Einsetzung Christi als Gottessohn erkennbar wichtiger als es dies der westlichen Kirche ist. Damit knüpft die orthodoxe Kirche sehr stark an die theologischen Aussagen des Philipper-Hymnus (Phil 2,6-11), dem Kolosserbrief und auch dem Epheserbrief an, die in einer theologischen Verwandtschaft zueinander stehen. Sie folgen dem Schema einer Heilsgeschichte zwischen Schöpfung und Erlösung, in deren Mitte die Erniedrigung durch das Kreuz und der Erhöhung durch die Auferstehung sind. Sie bilden die „Mitte der Zeit“. Die protestantische Theologie geht dagegen hauptsächlich vom Geschehen des Kreuzes aus. Luthers Theologie ist zunächst eine Kreuzestheologie, in deren Mitte die Sühneleistung steht. Gottes Sohn stirbt stellvertretend den Tod am Kreuz, um den Menschen von der Sünde frei zu machen. Nicht die Mächtigkeit bzw. die Macht der Inthronisation, sondern die Freiheit des Menschen durch Kreuz und Auferstehung stehen im Zentrum des evangelischen Glaubensverständnisses.
Auch der Epheserbrief des Apostels Paulus geht vom Geschehen der Auferstehung aus. Das Wunder der Auferstehung als Gottes eigene Tat setzt alles Weitere in Gang: So vereint der Predigttext aus dem Epheserbrief unter dem Thema der Inthronisation und Einsetzung des Auferstanden Herrn Jesus Christus als Herrscher über den Kosmos (Eph. 1,20-22) noch das zweite Thema, nämlich die Teilhabe der Kirche an diesem kosmischen Geschehen (Eph. 1,22-23). Die Macht ist das Zeichen der Herrlichkeit Gottes. (Eph. 1,18) Von dieser Herrlichkeit geht eine Kraft aus, die ausstrahlt auf die Gläubigen und ihre Gemeinschaft. Unter dem Schatten dieser himmlischen Macht werden sie zu einer Gemeinschaft der Heiligen (Art. 7 der Confessio Augustana). Wer diese Macht erkennt, der weiß, dass auch die Herrlichkeit wie im Ereignis der Auferstehung selbst, so auch in den Glaubenden wirksam ist. Der Schreiber des Epheserbriefes verknüpft mit seinen Aussagen die Absicht der Verkündigung. Er erklärt der Gemeinde, der er den Brief schreibt, den inneren Zusammenhang und den Hintergrund ihres Glaubens. Dabei verfährt er durchaus pädagogisch und didaktisch, denn er erinnert ganz am Anfang die Gemeinde daran, dass sie im Glauben an Jesus Christus steht. (Eph. 1,15) Für den Apostel ist es nun wichtig zu erklären, wie zentral es ist, diesen Glauben zu erkennen. Dazu braucht es den Geist der Weisheit. (Eph. 1,17) Vielleicht befürchtet er, dass der Gemeinde dieses Wissen des Anfangs langsam aber allmählich verloren zu gehen droht.
Hier ist der Text in seiner an den Anfang und an die Weisheit mahnenden Haltung durchaus sehr aktuell. Die Eindringlichkeit, mit der der Apostel an die erleuchteten Augen des Herzens mahnt und an die Erkenntnis der Hoffnung, hat etwas Beschwörendes. Was mich daran so fasziniert, ist der mehrfache Hinweis auf die „Wirkung“, nämlich die Erleuchtung des Herzens. Wo finde ich diese „erleuchteten Augen des Herzens“ in der Kirche der Gegenwart? In der biederbürgerlichen Langweiligkeit deutscher Oberkirchenräte? Und wo finde ich Erkenntnis? In den gedämpften Fluren von Landeskirchenämtern mit ihrem bürokratischen Charme der 50er Jahre? Ist es ein Ausdruck von erleuchteten Augen des Herzens, wenn nun aktuell die evangelische Kirche im Jahr 2014 den gutwilligen Kirchenchristen, die noch gerne Kirchensteuer zahlen, nochmal auf ihr sorgsam erspartes Geld mit seinen Zinsen Kirchensteuer auf Kapitalerträge abtrotzt? Das ist alles andere als herzlich und weit weit weg von der Errichtung der Herrschaft Christi. Das ist einfach nur Geldschneiderei. Auch wenn es juristisch richtig ist, ist es aber moralisch falsch! Ich wünschte mir „mehr“ Erkenntnis der Kirchenleitungen, aber vor allem mehr Moral. Wenn die evangelische Kirche allen Ernstes diesen Schritt nötig hat, dann glaubt sie selber nicht mehr an die Überschwenglichkeit der Kraft Gottes in der Kirche, sondern dann hat sich Christus in einen „kapitalistischen Geist“ verwandelt und ist die Macht der Auferstehung hohl und schal. Wenn die Mitglieder fehlen, aber die Institution immer reicher wird: Wo ist dann der Glaube an den Reichtum der Herrlichkeit, wie er im Epheserbrief so eindrücklich vor Augen geführt wird?
Im Zentrum des Textes steht die Einsetzung Jesu Christi zur Rechten Gottes im Himmel (V. 20). Dieser Gedanke greift ein typisches Bild des Himmelsthrones und des himmlischen Thronstaates auf, das bereits aus jüdisch-alttestamentlicher Zeit stammt. Sowohl im sog. Königspsalm 110,1 als auch im Prophetenbuch Jesaja wird diese himmlische Thronvorstellung benannt. Angeknüpft wird hier an die weltliche Thronbesteigung des Herrschers und Königs, der in der jüdischen Religionsvorstellung lediglich der Stellvertreter und Platzhalter für JHWE – also Gott – selbst ist. Der Text aus dem Epheserbrief knüpft demnach an diese Vorstellungen jüdischer Herrschaftstheologie an. Nach dem jüdischen Glaubensverständnis kommt allein JHWE alle Macht und Herrlichkeit zu. Zu den göttlichen Attributen zählt die Allmacht wie auch die Gerechtigkeit. Aber in seiner Herrscherfunktion und Allmacht ist JHWE auch der Fürsprecher der Armen.
Das Bild vom „Sitzen zur Rechten Gottes“ prägt nun in der Übertragung jüdischer Vorstellungen auf Jesus Christus seit Jahrhunderten dann aber auch die christliche Vorstellungswelt. Die christliche Ikonographie hat in vielen bildlichen Darstellungen den herrschenden Pantokrator Gott sowohl mit väterlichen Gesichtszügen versehen wie aber auch mit dem leidenden Gesichtsausdruck Jesu Christi. In der Vorstellungswelt vieler Kinder wird Gott als auf dem Thron sitzend dargestellt. Macht und Herrschaft sind seine Insignien wie die eines Königs. Und zur „Rechten“ Gottes zu sitzen ist ein Privileg. So wird in den Evangelien dieser Platz dem Apostel Petrus zugewiesen. Aus dieser privilegierten Stellung heraus wird bis heute die Machtstellung des Papstes in der katholischen Kirche begründet. Die Attribute der Macht Gottes liegen nun in der Vorstellungswelt des Epheserbriefes ganz auf dem Jesus Christus. War der Text aus dem Brief des Apostels anfangs beschwörend, so wechselt innerhalb der wenigen Verse der Ton nun fast ins Euphorische. Gottes Macht und Kraft ist wirksam in denen, die glauben. Und diese Macht ist die gleiche, die Christus von den Toten auferweckt hat. Schon beim Lesen springt für mich in gewisser Weise dieser Funke über und werde ich mitten in das Kraftfeld der Auferstehung hinein gesogen. Und gleichzeitig wird spürbar, dass mit der Einsetzung Jesu Christi zur Rechten Gottes das Alte vergangen und das Neue im Dämmerlicht erkennbar wird. Pointiert spricht der Epheserbrief deshalb vom Übergang dieser Welt in die zukünftige Welt. Mit Himmelfahrt rückt das Reich Gottes ein Stück näher und leben wir bereits in der Macht-Sphäre der Herrlichkeit.
2. Im Himmel und in der Kirche
Mit dieser kosmischen Spekulation über Macht und Herrlichkeit und der Herrschaft über die Schöpfung versetzt uns der Epheserbrief fast in eine Traumwelt oder in ein Fantasiereich. Sehnt sich der Mensch nicht nach der „Fülle dessen, der alles in allem erfüllt“? (Eph. 1,23) Bei dieser Schwärmerei kommt mir das schöne Lied von Reinhard Mey in den Sinn:
„Über den Wolken muß die Freiheit wohl grenzenlos sein.
Alle Ängste, alle Sorgen, sagt man … blieben darunter verborgen, und dann…
wäre was vorher groß und mächtig erscheint, plötzlich nichtig und klein…“
Hier lauert die Gefahr, nämlich vor lauter Schielen nach der Herrlichkeit die irdische Sphäre ein bisschen aus dem Blick zu verlieren. So dient der Hinweis auf die zukünftige Welt nicht dazu, in eine Traumwelt der Herrlichkeit abzugleiten, sondern mahnt – so eine Auslegerin unserer Tage – der Epheserbrief auch vor einer zu starken irdischen Selbstbezogenheit. Trotz Herrlichkeit und Inthronisation bleibt alles Geschehen auf der Welt unter den Füßen Christi und trotz der Errichtung der Herrschaft Christi bleiben die Gesetze der Welt weiter bestehen. Die Christen haben mit dieser Ambivalenz der Realität umzugehen: Einerseits herrscht Christus über die Welt und sitzt zur Rechten Gottes, andererseits bleiben die widergöttlichen Mächte weiter in Kraft. Kann man daran nicht irre werden, wenn die Herrlichkeit Christi schon angebrochen, aber trotzdem die irdische Machtsphäre noch in Kraft ist?
Für den Verfasser des Epheserbriefes nehmen bei der Bewältigung dieses Zwiespaltes zwei Größen eine besondere Rolle wahr: Der Glaube und die Kirche. Sie sollen die Überschwenglichkeit erden. Christus ist das Haupt der Gemeinde. Wie im Korintherbrief oder dem Kolosserbrief zeichnet auch der Epheserbrief die Kirche im Bild des Leibes. Dabei ist nicht die einzelne Gemeinde gemeint, sondern die Kirche als „Corpus Christi“, d.h. als Ganzer. Auch in diesem Bild ist die kosmologische Vorstellungswelt mit Händen zu greifen. Der Leib Christi wird als heilsgeschichtlicher „Wirkraum“ vorgestellt. In vielen Kirchen stellt bis heute ein übergroßes Triumphkreuz an der Schwelle zwischen Altarraum und Kirchenraum das Symbol für die Macht des Leibes Christi dar. Es versinnbildlicht die frohe Erkenntnis: „Ich bin bei Euch alle Tage bis an der Welt Ende“ (Mt 28,20). Gleichzeitig zieht das Kreuz auf die Erde und verweist die Christen auf den Boden der Tatsachen. Die Kirche als „Heilsunternehmen Gottes“ (Gollwitzer) steht „zwischen den Zeiten“ (Barth).
In protestantischer Tradition hat die Kirche auf der Erde immer auch eine sozialethische Funktion. Als Teil des Leibes Christi leben die Christinnen und Christen als Zeitzeugen mitten in der Welt. Sie repräsentieren in ihrem Glauben die Hoffnung auf das Reich Gottes. So dient die Vergewisserung der Herrlichkeit des Himmels aus meiner Sicht dazu, die sehr weltbezogene Verantwortung der Christen nicht aus dem Blick zu verlieren. Und da ist heute viel zu tun, angefangen von der diakonischen Verantwortung im Sozialraum bis zum sozialen Protest gegen Exklusion und Ungleichheit. Die Kirche als Leib Christi wird somit zu einem sozialen Erinnerungsort an die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt. Die Kirche hat als himmlischer Bote auch eine prophetische und mahnende Funktion, die Ungerechtigkeit anzuprangern. Lobpreis des Schöpfers und Erlösers und die politische Mahnrede sind zwei Seiten derselben Medaillie. Der Ort der Kirche ist und bleibt in protestantischer Tradition immer auch ein politischer Ort. Den politischen Protest als protestantischer Tradition aber, der von der Basis der Gemeinde ausgeht, scheinen die modernen Kirchenverwalter in die unterste Schublade ihrer Schreibtische verbannt zu haben. Aber auch hier: Statt der Überschwenglichkeit scharfer Wort höre ich nur noch die Aneinanderreihung von kirchenamtlichen Plattitüden. Auf allen Kanälen wird das Heil der Zukunft an die seligmachende Rückerinnerung an Spiritualität gehängt als hinge davon das Heil ab. Der Epheserbrief zeigt mir, dass von der Verkündigung des Auferstandenen eine Überschwenglichkeit und Kraft ausgeht, die in der Kirche verlebendigt sein will. In einem Interview des Fernsehsenders Bibel-TV saß vor wenigen Wochen einem verkrampften Moderator mit Schlipps und ernster Mine ein fröhlich und erlöst wirkender Jürgen Domian vom WDR gegenüber und erzählte mit einer überzeugenden Selbstverständlichkeit und einer gewissen Heiterkeit darüber, welche inspirierenden Gedanken er durch die Beschäftigung mit der Religion erhalten habe. Ich saß wie gefesselt vom Überschwang Domians vor dem Bildschirm und dachte: Wenn Christus in der Kirche durch fröhliche Christen und heitere Pastorenschaft mit guten Predigten auf diese Weise anwesend ist, dann lässt es sich fröhlichen Herzens und mit Überschwang singen: „Der Himmel geht über allen auf…“ Darauf hoffe ich. AMEN