"In Christus erwachsen", Predigt über Epheser 4, 11-16 von Mira Stare
4,11
Liebe Glaubende,
jeder Mensch, auch jeder von uns, kommt als Kind auf die Welt und steigt von Anfang seines Lebens an in den Entwicklungsprozess des Erwachsenwerdens ein. Es dauert mehrere Jahre, dass aus einem Kind ein Erwachsener wird. Dafür braucht es viele, die an diesem Erziehungsprozess beteiligt sind: Eltern, Geschwister, Großeltern, Erzieher/innen und Lehrer/innen in Kindergarten und Schule, Nachbarn und noch viele andere. Man kann das feststellen, was ein afrikanisches Sprichwort sagt: „Es braucht ein Dorf, um ein Kind großzuziehen.“ Das Erwachsenwerden umfasst alle Dimensionen des menschlichen Lebens: physische, psychische, soziologische, juristische, politische und andere. Auch der Glaube bzw. die religiöse Dimension des menschlichen Lebens gehört  zum Erwachsenwerden wesentlich dazu, wie uns die heutige Schriftlesung aus dem Epheserbrief deutlich macht.
         Der Epheserbrief beschreibt den Zustand der Christen/innen, die in ihrem Glauben noch nicht erwachsen sind, als den der unmündigen Kinder: Sie sind „ein Spiel der Wellen, hin und her getrieben von jedem Widerstreit der Meinungen, dem Betrug der Menschen ausgeliefert, der Verschlagenheit, die in die Irre führt“ (Eph 4,14). Sie sind unstabil, ausgesetzt und leicht manipulierbar.  Sie haben keinen festen Halt. Die Christinnen und die Christen werden ermutigt, auch in ihrem Glauben zu wachsen. Wie können wir im Glauben erwachsen und nicht mehr ein Spiel der Wellen sein, hin und her getrieben von verschiedenen Meinungen? Im Sinne des Epheserbriefs kann dieses Erwachsenwerden gelingen, wenn wir uns von der Liebe leiten lassen und so an die Wahrheit halten. Die Liebe und die Wahrheit sind jedoch nicht als abstrakte Größen gemeint. Sie führen uns zu einer Person, nämlich zu Jesus Christus, dem Sohn Gottes. In der Erkenntnis seiner Person und in Beziehung zu ihm können die Christinnen und die Christen die Einheit im Glauben untereinander erfahren. Noch mehr, sie selber werden zum lebendigen Glied am Leib Christi, der die Gemeinschaft der Christeninnen und der Christen symbolisiert und dessen Haupt Christus selbst ist. Das Geheimnis der christlichen Gemeinde liegt in der festen Beziehung jedes Mitgliedes zu Christus. Die Stabilität und die Festigkeit der Christinnen und der Christen gründen in keiner ideologischen Größe, sondern in der bleibenden personalen Beziehung zu Jesus Christus. Nicht die Konkurrenzlogik bestimmt das Leben in der christlichen Gemeinde, sondern die Logik der Liebe. Nur die Liebe kann den ganzen christlichen Leib, die ganze Gemeinschaft, zusammenhalten.  Nur die Liebe kann zu einer Einheit führen, in der die Vielfalt auch ihren Platz hat. Die Vielfalt in der christlichen Gemeinde zeigt sich auch in verschiedenen Diensten und Ämtern. Unter ihnen werden im Epheserbrief besonders Apostel, Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrer ausdrücklich erwähnt.
         Die Botschaft des Epheserbriefs ist nach wie vor aktuell. Sie lädt uns zum Nachdenken über unser Christsein ein.  Wie erwachsen bin ich in meinem Glauben? Passiert es auch mir, dass ich noch immer wieder hin und her getrieben bin von verschiedenen Meinungen und wie ein unmündiges Kind noch keinen festen Halt finde? Der Epheserbrief ermutigt jede und jeden von uns, sich von Liebe und nicht vom Konkurrenzdenken leiten lassen. Er möchte uns in der Beziehung zu Jesus festigen und damit in uns den fruchtbaren Boden vorbereiten, auf dem wir in die christliche Gemeinde bleibend und lebendig eingebaut werden. „Es braucht ein Dorf, um ein Kind großzuziehen.“ Wer ist mir mit seinem / ihrem Beispiel im Glauben vorausgegangen und hat mich für Christus „großgezogen“? Welchen Aposteln, Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrern verdanke ich es, dass ich in Jesus Christus und in der Gemeinschaft mit ihm mein Leben und meine Vollendung finde? Vor wem habe ich bereits mein Zeugnis für Christus und seine Liebe abgelegt?
Wenn wir in Christus gefestigt sind, dann entgleist unser Leben immer stärker der in der Welt dominanten Konkurrenzlogik, und wir steigen auf die Geleise der Liebe um und tauchen in die Gemeinschaft mit Jesus Christus ein. So gehen wir in der Gemeinschaft mit unseren Weggefährten gewiss unserer Vollendung entgegen: Das ist – wie der Epheserbrief feststellt (vgl. Eph 4,13) – der vollkommene Mensch und Christus in seiner vollendeten Gestalt.
Perikope
28.05.2012
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