"Christus-(Über)-Mut - Predigt zu Röm 8,26-30 von Jochen Riepe
8,26-30

I

Wir wissen aber, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen…‘  Was für ein hochgemuter, erhebender und ‚ent-spannender‘ Satz! Wer kann so sprechen? Und wann? Früh am Morgen, nüchtern, spät am Abend nach dem Tagwerk?

II

Übermut – jugendlich. Chemiekurs 11. Schuljahr. Betriebsbesichtigung in der heimischen Brauerei. Nach dem Rundgang war ein Umtrunk angesagt. ‚Aber nur einen wönzigen Schlock‘, zitierte der Lehrer aus der berühmten ‚Feuerzangenbowle‘. Natürlich: Es wurde mehr als ein Schluck.
Außenstehende hätten sich gewundert: Wie die Lautstärke anstieg, wie man lachend die Köpfe zusammensteckte und die Schüler – gleichsam zittrig-schwebend – recht kluge, aber auch aufmüpfige Fragen an den Firmensprecher stellten. Der ‚arme‘ Lehrer saß dabei: Kontrollverlust? Oder eine Freisetzung ‚produktiv machender Kräfte‘, wie Goethe einmal die Wirkungen des Weingenusses beschrieb. Oder beides – ein Doppelkick gleichsam…

III

‚Sag mal, sind die betrunken?‘ So fragten nicht nur die Jerusalemer anläßlich des ersten Pfingstfestes und seines Sprachenwunders. So fragten wohl manche, die in einer urchristlichen Gemeinde zu Gast waren: ‚Sie sind voll des süßen Weines‘, heißt es in der Apostelgeschichte spöttisch. Der Heilige Geist zeige Wirkungen ähnlich einer Droge? Der ‚gottesdienstliche Schrei nach Freiheit‘, das Gebet der Gemeinde, fand Ausdruck in einem befremdenden, schwer zu fassenden und zu steuernden Sprechen oder Tönen, das bis zur Erschöpfung gehen konnte und widersprüchliche Empfindungen wachrief.
Paulus nennt es ‚Seufzen‘ – diese zum Himmel reisende ‚Sprache der Sprachlosen‘. Ich phantasiere etwas: ein tiefes Ein- und Ausatmen der Betenden, ein gemeinsames Ergriffenseins, das verständliche und unverständliche Stimmen auslöste. Heftiges, wildes, ‚extremreligöses Sprechen‘: Lallen wie ein Kind, Stöhnen, Schluchzen und Weinen: ‚Ach und Weh!‘, aber vielleicht auch lautes Jauchzen und verzückte Freudenrufe und Umarmungen. Ja, die ‚Kinder Gottes‘: Im Wasser der Taufe gestorben und auferstanden mit dem Christus. Die Kinder Gottes – geladen, das Brot zu brechen und das ‚Gewächs des Weinstocks‘ zu trinken. Gott ist nahe. Gott hört.  Was für eine Hoffnung! Die ‚nach seinem Ratschluss‘ Berufenen, die ‚ersten Freigelassenen der Schöpfung‘, durften doch sich bei den Händen nehmen und dies ‚aus-gelassen‘ ausdrücken.

IV

Paulus schreibt nach Rom. Vielleicht hatten Gemeindeglieder dort ähnliches erlebt und fragten sich wie unser Lehrer: ‚Kontrollverlust. Gefühlsaufwallungen… Was ist das? Welcher Geist wirkt da?‘ Wer heute die Versammlung einer charismatischen Gemeinde besucht, wird die Skepsis kennen. Der Apostel, selbst erfahren in Himmelsreisen, verteidigt aber das gottesdienstliche Seufzen, besser: Er gibt ihm Gewicht, Fleisch und Blut, und erdet es. Mag der ‚Gott des Weines‘ Menschen entzücken…  was gilt dann aber erst vom Geist Gottes, des Vaters Jesu und unser aller Vater! Hört er nicht mit jedem Seufzer einen Menschen und seine Lebensgeschichte? Gerade mit diesen hochgemuten und tränengetränkten Äußerungen ist Gottes Gemeinde mitten in der Welt und erfährt ‚live‘ das Leiden und Hoffen ‚der Kreatur‘, die sich nach der ‚herrlichen Freiheit der Kinder Gottes‘ und nach dem Ende der ‚Knechtschaft der Vergänglichkeit‘ (8,21), der Lebens- und Todeshärte, sehnt.
Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den heiligen Geist‘ (5,5). Solchermaßen durchströmt und erwärmt von Gottes Macht, wird die Zunge gelöst, Kehle und Lunge atmen ein, atmen aus, und es entsteht eine ‚Symphonie der Seufzer‘ (O. Cullmann), eine Tonspur des Glaubens. Was ist christliche Freiheit, wenn ‚Lob und Flehen‘ (eg 609.2), Zittern und Zagen, Trauer und Träume, Lachen und Lallen, Herzen und Hände, ein tanzender Leib sie nicht ausdrücken.
Seufzend wird der Glaube leibhaftig: Im Stöhnen artikuliert sich meine Lebenslast, im Hecheln und Ausatmen lasse ich meine Ängste los. Im Einatmen, im lauten Jauchzen und entzückten Staunen findet Gottes ‚herrlicher Name‘ (Ps 8,1) einen Mund: Ja, Gott, hier bin ich! ‚Schööön‘ seufzt unser Chor zum Abschluß des Einsingens und hofft darauf, anschließend wirklich schön zu klingen.

V

Wir wissen aber, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen…‘ Was für ein hochgemuter, starker Satz! Wann kann ein Mensch so sprechen? Ich gerate doch ins Stocken und Stammeln, sobald ich dem Apostel nachsprechen will.
Meine Anekdote vom ‚schwebenden Klassenzimmer‘ hat eine Fortsetzung. Die  Wirkungen der alkoholischen Gärung sind begrenzt und oft genug werden sie bereut. Nach dem Kick kommt der Kater. ‚Übermut tut selten gut‘. ‚Berauscht euch nicht mit Wein‘, heißt es im Epheserbrief (5,18). Aber einem nachsichtigen Lehrer gelang es, den wieder Ernüchterten etwas Wichtiges ‚für’s Leben‘ mitzugeben: Solche erhebenden Momente führen zusammen. Sie bauen Hemmungen und Schwellenängste ab und es entstehen positive Spannungen: Wir rücken einander näher. Ich bekomme Kontakt zu einer Mitschülerin oder einem Mitschüler, die ich bisher übersah oder gern ärgerte.
Jeder weiß ja, dass Erhebungen kein Dauerzustand sein können und eine Unterrichtstunde nicht mit einem Umtrunk beginnt. Das Intensive bedarf der Erinnerung, des Nachdenkens und der Formgebung: ‚Geist und Verstand‘ (1.Kor.14,15) müssen zusammenkommen und wenn diese etwas Erlebtes in Geduld erschließen und übersetzen, dann lernt der Mensch und wird kreativ: ‚Ich schreibe einen Artikel für die Schülerzeitung. Ich halte ein Referat über Drogen. Meine AG plant die nächste Exkursion.‘

VI

Auch daraus dürfen wir Gotteskinder etwas lernen: ‚Himmelsreisen‘ können umschlagen in große Leere und uns enttäuscht oder gar verwundert zurücklassen. Manch einer kam nicht mehr zurück. Ihre Energien, ihre Potentiale soz.,  bedürfen der Distanz, der Prüfung und Erdung. Die Kunst, christliche Gemeinde zu sein, liegt ja darin, die Gotteskraft, nein: nicht einzufangen oder gar zu beherrschen, ‚der Geist weht, wo er will‘, sondern ‚ohne Unterlaß‘ (1.Thess. 5,17) im Gebet zu erbitten, in der Lesung zu erinnern und im Alltag zu bewähren. Wenig später wird Paulus von einem ‚vernünftigen Gottesdienst‘ (12,1) im Alltag der Welt sprechen, aber eben: Der ist wohl nicht denkbar ohne Rückbindung an Momente der gemeinschaftlichen Entrückung.
Das ist unser ‚süßer Wein‘ oder eben unser Doppelkick: Das Hochgefühl des Glaubens und die nüchterne Verantwortung seines Grundes können zusammen bestehen. Spannungsvoll und  eben deshalb produktiv. So kann, ja, auch in mir und unter uns, ohne daß wir zu weltlosen Überfliegern werden, jener Christus-Mut, jenes ‚ritterliche Ringen‘ (eg 125.3), ‚gären‘ und ‚treiben‘ (Röm 8,14) , das des Paulus Sätze mit- und nach- und euch zuspricht: Wenn Gottes Liebe Herz und Hände durchströmt, müssen ‚alle Dinge‘ uns zum Besten dienen. ‚Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein‘ (Röm 8,31).
Es gab immer wieder Versuche, um der ‚Ordnung‘ (1.Kor. 14,33) und der wohl abgeklärten Sätze willen die ‚übermütigen‘ Äußerungen des Geistes zurückzudrängen. Ja, sie sind mitunter verwechselbar mit Erscheinungen, die uns anstößig sind. Aber eine Gemeinde Christi läßt sich eben nicht denken ohne die ‚Sprache der Sprachlosen‘, das ‚Seufzen‘ der Kreatur und den ‚Schrei nach Freiheit‘. Ohne das tiefe, ‚maskenfreie‘ Durchatmen, ohne die wärmende Hand, die mich ergreift und mein Leid mitträgt. Alles heftig Expressive verunsichert: ‚Was ist das?‘, und doch kann es zusammenführen und die Gemeinde Jesu erbauen. Er, der angesichts der Not zum Himmel blickte und ‚seufzte‘ (Mk 7,33), der ‚erfüllt vom heiligen Geist‘ ‚frohlockte‘ (Lk 10,21) und am Kreuz laut schrie.

VII

Ich weiß nicht, ob die Römer mit dem Brief des Apostels mitgehen konnten. Die gemischten Gefühle bleiben ja: ‚Wenn ich mich fallen lasse, wenn die Tränen fließen, wenn ich aus mir heraustrete, werde ich beobachtet. Ich schäme mich meiner Erregungen, dem anderen sind meine Herzensergüsse peinlich. Und am wichtigsten: Ist es denn vor Gott so recht? Wird er mich hören oder rede ich gegen eine Wand?‘
Paulus spricht ja von der ‚Schwachheit‘ der Kinder Gottes, unserem Stückwerk, unserer Gebrochenheit und Egozentrik: ‚… wir wissen nicht, was wir beten sollen‘. Wie soll das Harte in uns Selbstdarstellern, die das Gute wollen und das Böse tun, sich lösen und die Wärme ‚strömen‘? Vielleicht schreibt er darum diesen rätselhaften Satz, dass der Geist selbst sich unserer Schwachheit annimmt und er unserem Nicht-Sprechen-Können ‚mit unaussprechlichen Seufzern‘  ‚aufhilft‘, es vor Gott bringt und es ‚über-setzt‘. Er bindet sich an unser Stocken und Stöhnen, stammelt soz. mit und sammelt es: ‚Hier musst du aus deinem Herzen keine Mördergrube machen. Hier darfst du für Schmerz und Sehnsucht, für Nachtgesichter und Morgenträume deine Sprache finden, und wehe dem, der den Kindern Gottes ihr Beten verdirbt!‘

VIII

Viele Gemeinden schätzen es, nach dem Gottesdienst zu einem lockeren ‚Frühschoppen‘ überzugehen. Gewiss gleicht der nicht dem schwebenden Klassenzimmer, aber wie schön (‚schööön‘!), wenn die Herzen sich öffnen, die Stimmen mutiger werden, ja, über- und freimütig, und wir ‚Dienliches‘ auch in dem entdecken, was uns widersteht, stört oder schmerzt.
In der Kraft des Hl. Geistes und der ‚Geister‘ der Menschen entsteht ein ‚entspanntes Verhältnis zur Lebenswirklichkeit‘. Auch am Morgen um die ‚dritte Stunde‘  können … ‚alle Dinge zum Besten dienen‘.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrer Jochen Riepe

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Der Sonntag Exaudi versammelt in der Regel eine kleine Gemeinde. Christi Himmelfahrt und das Pfingstfest flankieren ihn im liturgischen Kalender. Abschied von Jesus und Erwartung des Geistes, ‚alleingelassen‘ und doch auf den ‚Tröster‘ hoffen dürfen – so kann man die ambivalente ‚Stimmung‘ charakterisieren. Der Predigttext spricht in dieser Situation  den ‚hochgemuten‘ pfingstlichen Satz: ‚Wir wissen aber, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen‘.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Es hat mich gereizt, Apg 2,13.15 und Röm 8 zusammen zu lesen und die Geisterfahrung als gottesdienstliches Phänomen zu verstehen: ‚der gottesdienstliche Schrei nach Freiheit‘ (E. Käsemann, Paulinische Perspektiven, 1972, S. 211ff). In Röm 8,28 gipfeln die Aussagen über das ‚Seufzen‘ in einer mutig-übermütigen Gewißheit. Sie tritt in der Predigt ins Gespräch mit einem Bericht jugendlichen Übermuts, der die jungen Gottesdienstbesucher gewiss aufhören und die älteren schmunzeln lässt.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die Gaben des Geistes sind vielfältig und die uns ‚Volkskirchlern‘ vertraute, soz. ordentliche, Normalität wird durch Paulus‘ Anerkennung des ‚Seufzens‘ bereichert und zugleich kritisch befragt: Lassen wir solche Orte zu, an denen Menschen in Klage und Lob, geformt und ‚wild‘ (G. Theißen, Erleben und Verhalten der ersten Christen, 2007, S.195: ‚Extremreligiöses Sprechen‘) ihren Glauben ausdrücken und ein ‚entspanntes Verhältnis zur Lebenswirklichkeit‘ (H. Weder, Einblicke ins Evangelium,1992 , S.259) finden können?

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Ich danke meiner Beraterin (Predigtcoach) für ermutigende und kritische, sehr konkrete Hinweise. Sie sind bei der Bearbeitung des Entwurfs gern berücksichtigt worden.

Perikope
29.05.2022
8,26-30