I. Er saß über dem leeren Blatt Papier. Seit Tagen ging die Arbeit nicht voran. Nach dem Anfang, der da stand, ging es nicht weiter. Es ging einfach nicht weiter.
„Da es nun schon viele unternommen haben, Bericht zu geben von den Geschichten, die sich unter uns erfüllt haben, wie uns das überliefert haben, die es von Anfang an selbst gesehen haben und Diener des Wortes gewesen sind, habe auch ich's für gut gehalten, nachdem ich alles von Anfang an sorgfältig erkundet habe, es für dich, hochgeehrter Theophilus, in guter Ordnung aufzuschreiben, auf dass du den sicheren Grund der Lehre erfährst, in der du unterrichtet bist“ (Lukas 1, 1 ff.).
Das stand da schon schwarz auf weiß. Und weiter – nichts. Das Vorhaben war ihm völlig klar: Es musste einfach jemand wagen, die Jesus-Geschichte noch ein Mal ganz neu zu erzählen. Keine Ergänzungen nur, keine Anmerkungen, sondern zurück auf Anfang. Ein neues Buch. Eine neue Erzählung.
Das, was bisher im Umlauf war, reichte einfach nicht aus. Insbesondere ging es Lukas darum, die Sache mit Jesus, den Glauben der Christusleute in der Geschichte zu verankern und im konkreten politischen Geschehen seiner Zeit.
Bei aller Wertschätzung für den Römer Markus und sein epochales ‚Evangelium‘ von vor 20 Jahren: Das war in diesem in vieler Hinsicht einerseits herrlich knappen, andererseits geheimnisvollen Markus-Text nicht deutlich geworden: Was hat die Jesus-Geschichte „für uns heute“ (Dietrich Bonhoeffer 1944) zu bedeuten – und zwar im Zusammenhang von Geschichte, Politik und sozialer Wirklichkeit?
Wie soll man diesen geheimnisvollen ‚Christus‘ des Evangelisten Markus verstehen, von dem ausgerechnet der römische Hauptmann unter dem Kreuz sagt, ausgerechnet dieser Geschundene und qualvoll Gestorbene sei ‚Gottes Sohn‘ ‚gewesen‘? Wie das denn? Was heißt denn das? Das kapiert doch kein normaler Mensch! Und christlicher Glaube – das war dem Historiker Lukas glasklar – hatte nicht nur etwas mit einem frommen Erlebnis zu tun, sondern vor allem mit durchaus vernünftiger ‚Erkenntnis‘
Die Aufgabe war ihm klar, Allein, es ging nicht voran. „Da es nun schon viele unternommen haben, Bericht zu geben von den Geschichten, die sich unter uns erfüllt haben, wie uns das überliefert haben, die es von Anfang an selbst gesehen haben und Diener des Wortes gewesen sind, habe auch ich's für gut gehalten …“
Ja, was denn nun, du Großmaul? Den Mund zu voll genommen? „Habe auch ich es für gut gehalten …“ Ja, was denn? Von „Anfang an aller erkundet“ … Ja, was heißt denn das?
Wo ist denn der Anfang dieser Geschichte? So ging das tagelang. Kein Vorankommen. Nur Grübelei.
II. Dass es das Lukas-Evangelium und in ihm die Weihnachtsgeschichte überhaupt gibt, verdanken wir im Rahmen dieser Erzählung über den Evangelisten Lukas wohl zweierlei:
Lukas war willens, alles von Anfang an und d. h. ganz NEU zu denken. Er hatte den Mut dazu und ließ den Mut dazu nie ganz sinken.
„ … habe auch ich's für gut gehalten, nachdem ich alles auf’s NEUE … erkundet habe …“ So lässt sich das „von Anfang an“ eben auch und vielleicht besser als bei Luther übersetzen.
Es ist Neues möglich. Viel stärker gewagt gesagt: Das Neue ist die eigentliche Wirklichkeit. Es können die Verhältnisse unter den Menschen sich zum Guten erneuern. Es kann Versöhnung geben, wo Feindschaft war. Es kann Friede werden, wo Streit, Krieg und Gewalt waren.
Es kann ein Mensch neu anfangen mitten im Leben. Ein Kind, ein Mann, eine Frau, ein alter Mensch, Inländer und Ausländer, Bekannte und Fremde, So- und Anders-Denkende, Religiöse und Nichtreligiöse, Kirchgänger und Nicht-Kirchgänger, Naive und Zyniker, Muntere und müde gekämpfte Leute … es ist möglich; und es ist auch so, dass in ihnen und zwischen ihnen NEUES geschieht.
Lukas war zweitens ein genauer Mensch. Mit ‚Akribie‘ – so lautet unser deutsches Lehnwort für den von Lukas verwendeten griechischen Begriff – ging er an die Sache heran. Ein akribisch arbeitender Historiker und Erzähler liest zunächst einmal genau, was vor ihm schon andere geschrieben haben. Da gab es nicht nur Markus und diverse mündliche und schriftliche Quellen über den Mann aus Nazareth. Vor allem gab es das Erste Testament, die jüdische Bibel, und darin den großen Geschichts-Propheten Jesaja. Der hatte sich in seiner Zeit, fast 800 Jahre vor Lukas, mit einer ähnlichen Fragestellung beschäftigt, die wir versuchsweise einmal so formulieren:
Wie kann es unter den Menschen zu den so ersehnten wie notwendigen Neuanfängen kommen? Stimmt das, dass Gott in der Geschichte handelt? Oder ist das nur ein frommer Traum, genau genommen eine Illusion?
Lukas – das meine ich hinter den ersten Kapiteln im uns bekannten Lukas-Evangelium ausreichend klar zu erkennen – hat Jesaja aufmerksam studiert. Und er schreibt die Geschichte Jesu weiter in dem Augenblick, als ihm Jesajas Botschaft deutlich wurde. Eines Tages begriff er. Da ‚erkannte‘ er den Sinn der alten Worte. Dann schrieb er auf:
„Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging …“ Auf Befehl des die Welt beherrschenden Potentaten seiner Zeit setzt sich ein Geschehen in Gang, das eines Tages sich als weltumstürzend und welterneuernd erweisen wird. Ironischer, humorvoller und geschickter lässt sich Gottes Geschichte in der Menschengeschichte kaum darstellen. Lukas überblendet seine eigene Zeitgeschichte, genauer: Die Zeit ungefähr 50 Jahre vor seiner eigenen Geburt, mit der Geschichte der Geburt des Gottessohnes in einem Futtertrog.
Lukas schrieb von diesem ‚Anfang‘ an alles der Reihe nach auf. Er komponierte sein Werk frisch und neu, setzte Texte darein, die bisher niemand kannte, entwarf ein Bild von Jesus Christus als der Mitte von Zeit und Geschichte. Er erzählte gleich noch die Geschichte der frühen Kirche hintendran, von Petrus und Paulus, von namhaften Frauen, die halfen, das Evangelium vom Juden Jesus Christus in die heidnische Völkerwelt zu tragen.
III. Einen der entscheidenden Jesaja-Texte, bei denen dem Lukas tausend Lichter aufgegangen sein mussten und wohl auch aufgegangen sind, sollt ihr hören. Ihr könnt ihn euch zu Herzen nehmen und mit dem Kopf verstehen wollen:
„Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell. Du weckst lauten Jubel, du machst groß die Freude. Vor dir freut man sich, wie man sich freut in der Ernte, wie man fröhlich ist, wenn man Beute austeilt. Denn du hast ihr drückendes Joch, die Jochstange auf ihrer Schulter und den Stecken ihres Treibers zerbrochen wie am Tage Midians. Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht, und jeder Mantel, durch Blut geschleift, wird verbrannt und vom Feuer verzehrt. Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ist auf seiner Schulter; und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst; auf dass seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende auf dem Thron Davids und in seinem Königreich, dass er's stärke und stütze durch Recht und Gerechtigkeit von nun an bis in Ewigkeit. Solches wird tun der Eifer des HERRN Zebaoth“ (Jesaja 9,1-6).
Ein Text zu groß für ein paar dürre Worte. Für ein paar kleine Versuche, ihn auf unser Leben praktisch ‚anzuwenden‘. Anders herum mag ein Schuh draus werden. Steigen wir ein in die Welt dieses großen Textes und schauen wir, was uns geschieht …
Eine kleine Vorbemerkung dazu, zum Verhältnis von großen Texten und uns Menschen, die wie sie lesen – oder auch nicht: Neulich habe ich mit meinen Religions-Schülerinnen und Schülern der Jahrgangsstufen 8 und 9 Integrierte Gesamtschule Lüneburg den Weihnachtsgottesdienst gefeiert. Es ist bei Kindern und Jugendlichen kaum anders als bei Erwachsenen. Einige sind ganz bei der Sache. Sie haben den Bibeltext studiert oder ihren eigenen Text gut formuliert und ihn laut zu lesen geübt. Sie haben sich auf meine Hilfestellungen eingelassen und ihren Teil mit Konzentration und Hingabe abgeliefert. Andere rappeln ihre zwei Sätze schnell herunter. Sie schämen sich ihres Auftritts. Viele sind dazwischen: Dass Gott in diesem Gottesdienst zu vernehmen sein könnte, wie der Pastor vorab sie eingestimmt hat – das können sie nicht wirklich glauben; aber trotzdem macht man irgendwie gute Miene zum Spiel und liefert was Ordentliches ab.
Lukas wusste, wie Menschen sind. Den Jesaja, dachte er sich, musst du deinen Lesern und Leserinnen verdaulich in einer Geschichte erzählen. Je spannender und bildreicher, desto besser. Die Geschichte des Jesus Christus kannst du ihnen nicht in Form einer akademischen Vorlesung vor den Kopf knallen, mit philosophischen Begriffen gespickt und allerlei schweren Gedanken. Die meisten Leser und Leserinnen werden das Buch gar nicht erst lesen, wenn sie nicht auf den ersten Seiten schon in der spannend erzählten Geschichte ‚drin‘ sind.
„Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell …“
Da ist ein aufmerksamer Leser sofort ‚drin‘. Es ‚scheint‘ „hell“. Die das jetzt lesen, denen leuchtet das Licht schon. Lukas hat sein Evangelium so geschrieben, als hätte er so gedacht. So kamen die Hirten ins Spiel, die natürlich „des Nachts“ ihre Herden hüten auf den Feldern Bethlehems. Des Nachts, denn nur dann ist für uns vorstellbar, was das wohl bedeutet haben könnte für sie, als da plötzlich dieses ‚große Licht‘ (Jesaja 9,1) war:
„Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. 9 Und des Herrn Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. 10 Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; 11 denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids“ (Lukas 2,8 f.).
Die Hirten sind nun durch des Lukas Erzählung die Vertreter des ‚Volkes, das im Finstern‘ wandelt.
Kann sich jede und jeder von euch die eigenen Dunkelheiten hineindenken. Ich mag keine Litaneien erzählen von zerbrochenen Ehen, gestorbenen Lieben, von Aleppo und rechten Aufmärschen überall in Europa, von Klimawandel und Despoten … Das finstere Land … das helle Licht … kann sich jeder seinen Reim drauf machen.
Lukas wusste um die Not nicht nur der Hirten auf dem Felde, sondern von viel, viel Not und Schmerz und Geschrei im Land Israel und in Rom. Er wusste das alles, aber er verwirrte sich nicht in dem heillosen Wirbel endloser und heilloser Klagen. Er erzählte stattdessen und trotzig eine unverschämte Gegen-Geschichte gegen die Weltgeschichte seiner Zeit.
Noch ein Beispiel aus seiner mutmaßlichen Vorlage Jesaja:
„Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ist auf seiner Schulter; und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst; auf dass seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende auf dem Thron Davids und in seinem Königreich …“ (Jes 9,5 f.)
Das Kind, das Jesaja in einer Vision sehnsuchtsvoller Zuversicht als den zukünftigen Friedenskönig Israels gesehen hatte, ist für Lukas das Krippenkind, der Heiland. „Uns … geboren“ hieß bei Jesaja: Uns im Hause Juda, in Israel. Für den Evangelisten ist der Jude Jesus das Licht für alle Völker aller Länder der ganzen Welt. Er, Jesus Christus, ist das Licht, der Wunder-Rat, der Gott-Held.
Bei ihm ist „Rat“ in allen wesentlichen Fragen des Lebens und des Sterbens. Stärker als Depression, Verzweiflung, Finsternisse im Herzen und im Geist, leuchtet sein Licht. Dieses Licht erneuert die Vernunft. Es klärt das Denken auf. Auch das Denken der Politiker und Politikerinnen. Auch das der Bürger und Bürgerinnen, Verbraucher und Verbraucherinnen, das Denken aller Berufstätigen und aller Rentner und Rentnerinnen. Der „Wunder-Rat“ ist der Gedanken-Erneuerer. Jesus wird es „Metanoia“ nennen. Luther übersetzte ‚Buße‘. Es heißt aber: Etwas neu denken, eine aufgeklärte Vernunft bekommen, weiter und neu denken, möglichst jeden Tag neu.
Lukas erzählt in seinem Evangelium diverse Geschichten, in denen es um das Umdenken, Weiterdenken, Neudenken und daraus dann: Neu-Handeln geht. Der barmherzige Samariter ist nicht nur mit einem großen Herzen gesegnet. Er ist auch lebensklüger. Der ‚verlorene Sohn‘ hört in sich die Stimme seines Vaters, die Stimme des ‚Wunder-Rates‘, der ihn nach Hause ruft. Das ist klug; denn die tatsächliche Alternative wäre gewesen, bei den Schweinen zu krepieren und vor die Hunde zu gehen.
Jesus Christus ist für Lukas der ‚Gott-Held‘ des Jesaja. Während Jesaja wohl an einen echten König dachte, der nach gewonnenem Krieg die Nachfahren seiner von ihm getöteten Feinde zur Versöhnung einlädt, denkt Lukas an Jesu Kreuz und Auferstehung. Der „Gott-Held“ ist der Sieger über jeden Tod, über den Tod überhaupt. Wer diesem von Gott gesandten Helden, welcher selber Gott ist (Wunder über Wunder …) sich anvertraut, wird hineingenommen in die Geschichte dieses Gottes mitten in der Geschichte. Der Tod hat trotz aller Schrecken nicht das entscheidende Wort. Im Sterben vergibt der lukanische Jesus seinen Feinden. Nach der Auferstehung schickt er seine Zeuginnen und Zeugen in die Welt, den Sieg des Lebens über den Tod in all seinen Formen anzusagen.
Das ist Weihnachten. Heilige Nacht. Das Licht der ganzen biblischen Botschaft Ersten und Neuen Testaments leuchtet in dieser Nacht besonders deutlich. Die Erzählung davon ist offen für uns alle. Wir kommen mit den Hirten zur Krippe mit unseren Geschichten. Das Neue geschieht.