Darf´s ein bisschen mehr sein... - Predigt zu Johannes 1,15-18 von Christina-Maria Bammel
Die ersten Kalendertage des Jahres. Gewissermaßen stehen wir erst im Prolog des Jahres. Es besteht erst einmal noch aus Vorankündigungen. Eines ist im Prolog des Johannes schon mal klar: Kein Stern, keine Magier, kein Betlehem, kein Gold, keine Geschenke. Diesen Klang hat Epiphanias mit Johannes nicht. Andererseits…
Ein internationaler Weihnachtsklassiker ist ja mittlerweile der Song „twelve days of christmas“. Ursprünglich ein Kinderverszählreim, bei dem immer noch eins dazu kommt; übrigens für viele Sänger und Chöre ein Muss. Unvergessen etwa die Fassung von Bing Crosby. Aus lauter Liebe wird zunächst an die liebste Person ein „Hühnchen im Birnbaum“ verschenkt. Jeden Tag kommt etwas dazu. ZwölfTage lang. Am Ende ist die Liste lang:
Am zwölften Weihnachtstag,
meine wahre Liebe schickt mir
12 trommelnde Trommler,
11 pfeifende Pfeifer,
10 hervorspringende Herren,
9 tanzende Mädchen,
8 melkende Mägde,
7 schwimmende Schwäne
6 eingelegte Gänse,
5 goldene Ringe,
4 rufende Vögel,
3 französische Hennen,
2 Turteltauben
Da ist noch nicht der 6. Januar erreicht, das ist klar. Aber es klingt zunächst einmal nach Konsumrausch pur. Nicht ganz, denn der traditionelle Zählreim setzt nicht auf materielle Überfülle. Er setzt mit einem Lächeln auf die Überfülle der Liebe. Wer so liebt, schenkt mit Leichtigkeit jeden Tag noch was dazu. Und kein Geschenk ist zu ungewöhnlich. Auch „pfeifende Pfeifer“ und „springende Herren“ können verschenkt werden. Geschenktes Übermaß in seiner besten Weise. Das Schenken ist der sich jeden Tag steigernde Reichtum. So buchstabiert sich Fülle.
Wenn man doch von dieser Liebe mindestens ebenso viel hätte. Wenn man doch nur selbst sagen könnte: Genauso bin auch ich getaucht und gebadet worden in der Liebe meiner Nächsten, die mich jeden Tag ein Stück mehr beschenkt haben. Und nach zwölf Tagen hört das noch nicht mal auf. Ach, es darf doch – bitte – immer noch ein bisschen mehr sein! Es könnte immer noch so viel mehr sein – von Freundlichkeit und Wärme untereinander, von Zuneigung und Offenheit, von Herzlichkeit und Empathie. Da ist noch Luft nach oben. Da wird noch so viel Mangel verwaltet und verschoben. Von wegen Fülle der Liebe; von wegen jeden Tag eines mehr.
Der Evangelist Johannes buchstabiert die Fülle noch einmal für uns am weihnachtlich-glänzenden Epiphaniastag durch. Johannes kennt die Sehnsucht seiner Zeit nach tiefer Erfülltheit, die sich niemand selbst verschaffen kann. Er kennt die Sehnsüchte – etwa nach Glanz und Licht, nach Vollkommenheit, nach dem Ort, von dem alles Gute ausströmt. Er kennt die Sehnsucht nach diesem Ort voller kraftdurchwirkter Lebendigkeit ganz im Gegensatz zu den bröckelnden Scheinwelten, die nicht verfallen und vergehen wie Butter in der Sonne.
Johannes weiß, wie diese Worte und Bilder an uns ziehen und sich in unsere Herzen bohren. Er sieht, wie Menschen nichts lieber als das möchten: sich dahin locken lassen, wo nichts mehr offen oder unerfüllt bleibt. Das ist die Grundmelodie der Weihnachtssehnsucht. Johannes kennt diese Sehnsucht, auch wenn er es nicht als „Weihnachtssehnsucht“ kennt. Aber er kannte sich aus mit den Verheißungen anderer mehr oder weniger starker religiöser Gruppen seiner Tage. Da sind die Stimmen derer, die Heil in der Erkenntnis Gottes finden wollen. An und für sich nachvollziehbar. Die Schattenseite dieser Lehre ist nur eine tiefe Abneigung gegen alles, was weltlich-geschaffen, geboren und vergänglich ist. Gut und schlecht ist relativ leicht eingeteilt und durchsortiert. Radikal bisweilen. Dieser Radikalität, diesem Entweder-Oder kann der Evangelist Johannes nicht folgen. Seine Radikalität ist von anderer Art. Klar ist die Welt ein alles andere als komfortabler Raum, würde Johannes in die Richtung der Radikalen sagen. Am wenigstens komfortabel für die, die anders sind.
Doch Finsternis ist einfach nicht nur finster, wo alle Katzen grau sind. Es gibt mehr zu sehen in und an dieser Welt. Aber das Licht will nicht ins Helle, sondern mitten hinein in die Finsternis, die finsteren Erwartungen, die finster-brutalen Fakten des Alltags, die üblen Verhängnisse. Dahin kommt das helle, fleischgewordene Wort, die Liebe in Person, und:
Johannes zeugt von ihm und ruft: Dieser war es, von dem ich gesagt habe: Nach mir wird kommen, der vor mir gewesen ist; denn er war eher als ich. Von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade. Denn das Gesetz ist durch Mose gegeben; die Gnade und Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden. Niemand hat Gott je gesehen; der Eingeborene, der Gott ist und in des Vaters Schoß ist, der hat es verkündigt. (Joh 1,15-18)
Nur ein einziges Mal diese „Fülle“, das Pleroma, im Johannesevangelium. Nur hier – gewissermaßen an Epiphanias – schwappt es für uns über, wo doch gerade alles weggeräumt und eingepackt wird, wo es bald wieder leer aussehen wird, wenn Baum und Krippe verschwunden sind. Denn: so mancher Weihnachtsfan fürchtet sich bekanntlich etwas vor dem Augenblick, wenn der Baum verschwindet. Dann ist da wieder ein leerer Platz, wo es so geleuchtet hat. Wir haben seinen Glanz gesehen. Wir strahlten mit den schönen Lichtern um die Wette. Zumindest aber leuchtete es ein klein bisschen in uns auf, als wir eine Ahnung davon erhielten, wie nah uns die Worte, die Beziehungen, die eine oder andere Briefzeile doch gehen können. Gerade dann, wenn alles im Nachtschwarz trauriger Gedanken versinkt. Wie viel ist unerfüllt geblieben in den Begegnungen, in den Stunden, die man vielleicht auch ungewollt allein geblieben war, oder im Hin- und Hergehetze, das eigentlich nur einen schalen Nachgeschmack hinterlässt.
Und von wegen Fülle der Möglichkeiten noch am Jahresanfang. Schnell nimmt das Jahr seinen gewohnten Faden wieder auf
Nur ein einziges Mal – Fülle! Worin Sie besteht? In einem einzigen Menschen, in seiner Kraft, Himmel und Erde zu verbinden, in seiner Kraft, neues Leben zu geben. Man nennt es auch Gnade.
Nur ein einziges Mal – Fülle? Sie verschwindet ja nicht einfach wieder, sondern verschwendet sich immer wieder neu, teilt sich aus, reicht sich weiter. Gnade um Gnade, eins ums andere. Das Gegenteil von leer geräumten Plätzen, von Leerstellen, von Mangel oder gar Geiz.
Nur ein einziges Mal – Fülle! Und keine Angst davor haben zu müssen, dass sie nicht reicht, dass man sie bloß nicht zu oft teilen sollte. Doch, diese Fülle legt es gerade darauf an, geteilt zu werden, wieder und wieder, eins ums andere Mal. Mehr als zwölf Tage. Zwölf Monate! Am besten zwölf mal zwölf Jahre und so weiter. Aber wie, bitteschön, eine Fülle teilen, die man nicht einfach so „hat“ wie einen rufenden Vogel, einen goldenen Ring oder eine Turteltaube?
Es liegt vieles daran, in welche Richtung wir schauen – auf die Leerstellen, auf die Ängste, die es auslöst. Dann entstehen Haltungen wie :„Man muss sehen, wo man bleibt.“ Solche Haltungen lassen es januarmäßig kalt bleiben in unseren Beziehungen und Nachbarschaften. Ein Wechsel der Blickrichtung, die dem Aufleuchten der Fülle folgt, sieht anderes: Sie sieht Gewissheit, Stärke und Empfindsamkeit zur gleichen Zeit. Ob dieser Blickwechsel gelingt, das ist nicht nur eine von vielen Haltungsentscheidungen, es ist sogar im allerbesten und allerweitesten Sinn vernünftig.
Denn Vernunft ist doch erst dann in ihrem umfassenden Sinn wirksam, wenn sie über das rational Berechnende, immer wieder Kalkulierende hinausreicht. Wenn das Herz eben mit- und vorausdenkt und unser Planen und Abwägen lenkt. Das zumindest wäre ganz im Sinne des Johannesevangeliums und des Johannesprologes. Diese „Vernunft wurde Mensch“ (Günther Keil, Kommentar zum Johannesevangelium) – um aller menschlicher Unvernunft, aller geistigen Trägheit und Erlahmung, aber auch allem selbstbezogenen „Ich sehe zu, wo ich bleibe…“ entgegen zu stehen. Fülle ist da, wo Gott Vernunft zu Fleisch und Blut werden lässt, wo Unvernunft gerade nicht mehr reagieren darf. Fülle ist, wenn Vernunft menschlich – Mensch – wird.
Davon haben wir Nachricht, davon haben wir im besten Sinne des Wortes genug Nachricht – zu sehen, zu hören, zu spüren: Diese Vernunft macht uns reich und beschenkt uns übervoll, die von Gott kommt, die im besten aller Sinne menschlich wird. Die uns zeigt: Gespurte Logik lässt sich umdrehen. Es muss kein „immer weiter so“ geben, kein Starren auf das immer wieder nur Unfertige und unerfüllt Gebliebene. Die Vernunft der Weihnachtstage muss andererseits auch nicht einfach nur ein saumseliges Romantikgefühl bleiben, gänzlich unbrauchbar für den Alltag nach dem 6. Januar. Vielmehr: Die Vernunft, die Mensch geworden ist aus und durch Gottes Kraft, sie nimmt beides zusammen – Kopf und Herz, Reichtum und Armut, Dunkles und Helles. Eine Vernunft, die die Finsternis, das Schwere nicht leugnet, nicht weg diskutiert oder davon abstrahiert. Es ist eine Vernunft, die all dies umarmt, um es nicht mehr länger allein finster, schwer und arm sein zu lassen in dieser Welt.
Die Welt auf diese Weise zu umarmen – das kann nur Gott, Vernunft pur. Menschgeworden. Aufleuchtend – in den Prologen und hoffentlich auch Hauptstrophen dieses neuen Jahres. Amen.