„Es waren Anliegen von einer noch vorkonfessionellen, ‚vorlutherischen‘ evangelischen Offenheit,
wie sie die ersten Jahre der Reformation kennzeichneten:
die Berufung auf die Bibel allein, die zentrale Stellung des Glaubens, der geistliche Rang der Laien,
die Ablehnung der diesen Anliegen widersprechenden römischen Kirche. (…)
Für den neuzeitlichen Protestantismus bildet die Reformation den identitätsstiftenden Referenzpunkt wegen des ‚Zaubers‘, der von jenem offenen vorkonfessionellen und vorstaatlichen Anfang ausgeht.“
(Dorothea Wendebourg, FAZ vom 28. Oktober 2016)
Das allerliebste Wort
Wenn ich ihm etwas mitbringen wollte, heute, am Reformationstag, zu Beginn des Reformationsjubiläums, wenn da unter mir, an seinem Grab nicht schon Blumen stünden, wie immer am Reformationstag, zwei artige Blumensträuße, einer für Martin und einer für Philipp - wenn ich ihm etwas mitbringen wollte, aus Dankbarkeit darüber, dass es ihn gab: Ich brächte ihm meine Bibeln.
Eine Kinderbibel mit den Bildern und Geschichten, die meine Seele genährt haben, als ich noch ein Kind war. Geschichten, die mich abends im Bett sehnlich wünschen ließen, es spräche einmal Gott direkt auch zu mir, so wie er zu den Menschen in der Bibel sprach, sie rief, alles hinter sich zu lassen und ihm nachzufolgen.
Ich brächte ihm die kleine rote Bibel, die in jeden Rucksack passt und aus der ich mühelos noch ohne Brille lesen konnte, damals vor vielen Jahren, am Lagerfeuer bei der Andacht.
Ich trüge das dicke Alte Testament auf Hebräisch herbei und das kleine blaue Neue Testament auf Griechisch. Und ich würde mich bei der Gelegenheit auch gleich nochmal bedanken bei ihm, dass er mir zwei Jahre Vokabeln lernen eingebrockt hat im Studium. Weil er meinte, dass ich die Sprachen kennen müsste, in denen die Bibel geschrieben wurde.
Ich würde ihm meine Bibel zeigen, die jetzt auseinanderfällt, weil ich sie so oft schnell in die Tasche gesteckt oder mit dem Rücken nach oben auf dem Schreibtisch liegen gelassen habe. Was man ja nie, nie machen soll, aber was ich oft tue. Weil ich mit ihr umgehe wie ein Handwerker mit einem Werkzeug umgeht, das er jeden Tag braucht. Und das er deswegen auch nicht immer ordentlich an seinen Platz zurückräumt.
Und ich brächte ihm eine neue Lutherbibel 2017, schön gestaltet und frisch gedruckt, mit dem unwiderstehlichen Geruch eines neuen Buches. Gestern erst haben sie diese neue Bibel feierlich eingeführt in einem Gottesdienst in Eisenach, am Fuße der Wartburg, dort wo alles begonnen hat im Herbst 1522. Als er wie ein Gefangener da oben auf der Burg bei den Krähen saß und die Zeit herumbringen musste. Und das tat, was ihm in dieser Lage das Sinnvollste erschien: Die Bibel übersetzen, damit alle Menschen sie auf Deutsch lesen können.
Ich brächte ihm diese neue Bibel. Und ich schlüge sie auf, weiter hinten, bei Paulus‘ Brief an die Christen in Rom, bei seinem Lieblingsbrief. Der kann, sagt er, „nie zu viel und zu sehr gelesen oder betrachtet werden“ (Vorrede zum Römerbrief) und deswegen ist es gut, dass wir es heute auch tun.
Und ich wäre so nett und schlüge ihm die Bibel auf bei seiner Lieblingsstelle und läse die ihm vor, obwohl er ja tot ist. Aber vielleicht hört er es ja doch. Seine Lieblingsstelle. Sein „allerliebstes Wort“:
Nun aber ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, offenbart, bezeugt durch das Gesetz und die Propheten. Ich rede aber von der Gerechtigkeit vor Gott, die da kommt durch den Glauben an Jesus Christus zu allen, die glauben.um nun, in dieser Zeit, seine Gerechtigkeit zu erweisen. So halten wir nun dafür,dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben. (Röm 3,21f.28)
Und dann stünde ich da, an seinem Grab, mit all meinen Bibeln, dankbar dafür, dass es ihn gab. Und ich könnte hören, was er selbst zu dieser Stelle einmal gesagt hat und zu dem Wort von der Gerechtigkeit Gottes:
„Tag und Nacht dachte ich unablässig darüber nach, bis Gott sich meiner erbarmte. Da fing ich an, die Gerechtigkeit Gottes als die Gerechtigkeit zu verstehen, durch die der Gerechte als durch Gottes Geschenk lebt, nämlich aus dem Glauben.
Da fühlte ich, dass ich geradezu neugeboren und durch die geöffneten Pforten in das Paradies selbst eingetreten war. Und mit welchem Hass ich vorher das Wort 'Gerechtigkeit Gottes' hasste, mit solcher Liebe schätzte ich es nun als allerliebstes Wort. So wurde mir jene Stelle bei Paulus wahrhaft Pforte des Paradieses.“
(Vorrede zu der Gesamtausgabe der lateinischen Schriften, 1545)
Diesen Brief und auch andere Bücher der Bibel hatte er vorher ja schon so sorgfältig gelesen, wie man sie überhaupt nur lesen kann. Er hatte sie in Vorlesungen ausgelegt für die Studenten in Wittenberg. Er hatte die Bibel jeden Tag aufgeschlagen, mehrmals, ihre Seiten immer wieder umgeblättert. Aber erst jetzt öffnete sich dieses Buch für ihn.
Als könnte er mit einem Mal Gott sehen, den doch kein Mensch sehen kann. So wie man einen Schatten sehen kann hinter einer Wand aus dünnem Papier, so dünn wie die Seiten in einer Bibel. Gott, auch hierin verborgen, verhüllt, nur wie im Umriss zu sehen. Aber ganz nah, mit den leisen Geräuschen seiner Anwesenheit, wie der Atem eines anderen.
Und einmal schlug er das Buch wieder auf und blätterte die Seite um und las: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht werde, allein durch den Glauben.“ Und das Buch öffnete sich. Und gleich hinter diesen Worten war Gott, nicht ganz genau zu sehen, aber ganz nah. Und er begriff: Das ist die Tür. Das ist die Pforte, um dorthin zurück zu kommen, wo wir am Anfang waren als Menschen. Im Paradies, ganz nahe bei Gott.
Und er stellte fest: Es ist anders, als ich all die Jahre gedacht habe. Gott ist anders. Seine Gerechtigkeit ist anders. Gott liebt uns. Und ich muss nichts dafür tun, gar nichts. Die Angst, die ihm bis dahin jeden Tag im Nacken gesessen hatte, war verschwunden. Die Angst, für Gott nicht genug getan zu haben und deswegen nicht geliebt zu werden.
Manche sagen ja, das sei alles lange her und hätte mit uns gar nichts mehr zu tun. Ich glaube das nicht. Denn die Angst, dass ich nicht gut genug bin, so wie ich bin, die kenne ich. Auch die Versuche, etwas dafür zu tun, dass ich geliebt werde und angesehen bin. Und ich glaube, ich bin damit nicht alleine auf der Welt. Es gibt diese Angst, nicht geliebt zu sein und nicht gesehen zu werden. Irgendjemand soll doch da sein für mich, jemand, der mich sieht und liebt, ohne dafür etwas zu verlangen. Bei den meisten Menschen ist das eine leise Angst, wie eine kleine graue Ecke im Herzen.
Aber manchmal, wenn sie zu groß wird, dann wird sie heraus geschrieen auf den Straßen, jeden Montagabend in Dresden zum Beispiel und vor den Flüchtlingsheimen überall in unserem Land. Die große Angst, nicht geliebt zu sein, zu kurz zu kommen. Sie macht, dass sie gegen die anderen schreien. Gegen die Politiker, die angeblich alle nichts tun und sich um niemanden kümmern. Gegen die Flüchtlinge, die angeblich alles bekommen und einem alles, was man überhaupt noch hat, wegnehmen werden.
Und das ist auch ein fester Glaube, denn es geht, wie wir wissen, nicht um Argumente dabei. Es geht um das Gefühl tief im Herzen, nicht gesehen und nicht geliebt zu werden. Ein grauer, trauriger Glaube, dem viele Menschen anhängen. Wie ein Schatten liegt über unserem ganzen Land.
Aber Glaube ist etwas anderes. Das weiß ich von dir, Martin. Du hast das neu entdeckt und es hat dir die Angst genommen und dich frei gemacht. Du sagst:
„Glaube ist eine lebendige, verwegene Zuversicht auf Gottes Gnade, so gewiß, daß er tausendmal drüber stürbe. Und solche Zuversicht und Erkenntnis göttlicher Gnade macht fröhlich, trotzig und voller Lust gegen Gott und alle Kreaturen. Daher wird der Mensch ohne Zwang willig und voller Lust, jedermann Gutes zu tun, jedermann zu dienen, allerlei zu leiden, Gott zu Liebe und zu Lob, der einem solche Gnade erzeigt hat.“ (Vorrede zum Römerbrief)
Ich stehe hier, an deinem Grab, mit all meinen Bibeln. Ich habe sie dir mitgebracht, weil ich sie genauso brauche, wie du sie gebraucht hast. Gott war für mich immer zu sehen, in all diesen Bibeln, auch ohne Bilder, hinter dem dünnen Papier ihrer Seiten, in Umrissen, aber nahe. In der Kinderbibel, in der kleinen roten, der dicken hebräischen, der schmalen griechischen, in der, die jetzt auseinanderfällt und in der, die noch ganz neu riecht.
Gott war mir immer nahe: Dem Kind, das sich wünscht, dass es einen Platz findet in der Welt und eine Aufgabe für sein Leben. Der Jugendlichen auf der Suche nach Gemeinschaft und Orientierung. Der Studentin auf der Suche nach Erkenntnis und der Pfarrerin, für die die Bibel ein Werkzeug und Arbeitsmittel ist, mit Gebrauchsspuren und gleichzeitig die Mitte und die Quelle für alle meine Arbeit. Gott ist mir nahe in diesem Buch. Es ist mein allerliebstes Buch. Mein allerliebstes Wort.
Und wenn ich dankbar bin für dein Leben, Martin, dann bin ich dir dankbar für deine Liebe zu diesem Buch und dein Vertrauen in die Kraft von Worten, bloß von Worten auf dünnem Papier. Und ich bin dankbar für die Mühe und die Arbeit, die du dir mit diesem Buch gemacht hast, auf der Burg bei den Krähen und später in Wittenberg zusammen mit den anderen, als ihr um die richtigen Worte gerungen habt für eure Übersetzung.
Ach Martin, und ich wünschte mir, du hättest nicht aufgehört damit, dieses Buch so genau zu lesen wie am Anfang. Du hättest doch gelesen, dass die selig sind, die Frieden stiften und die für die bitten, die sie verfolgen. Du hättest den Krieg nicht gutheißen können und die Gewalt. Und du hättest doch niemals diese schrecklichen Worte sagen können über die Juden, von denen wir doch das Gesetz haben und die Propheten und von dem Juden Paulus diesen Brief, mit deinem allerliebsten Wort darin.
Ich stehe hier, mit all meinen Bibeln, und heute ist Reformationstag und morgen beginnt das große Jubiläumsjahr. Das schönste Geschenk zum Reformationsjubiläum habe ich schon bekommen. Das ist die neue Lutherbibel.
Aber ich habe trotzdem noch Wünsche. Dass wir diesen grauen, traurigen Glauben loswerden, der über unserem Land liegt und die Angst, zu kurz zu kommen. Dass uns klar wird: Wir Christen werden gebraucht in dieser Welt. Wir haben eine Aufgabe für unser Leben, wir haben Gemeinschaft, wir wissen, was gut und was böse ist. Und unser Glaube soll fröhlich sein und trotzig und voller verwegener Zuversicht auf Gott. Dass wir Lust bekommen, jedermann Gutes zu tun. Es ist doch leicht, die anderen zu lieben. Weil Gott uns so liebt.
Amen.