Das eine Wort und das Bleiben in ihm - Predigt zu Johannes 15,1-8 von Ralf Hoburg
15,1-8

Das eine Wort und das Bleiben in ihm

Liebe Gemeinde,

„Ich bin drin…“ So lautete vor über 20 Jahren ein Werbeslogan für einen großen Internetanbieter. Wer „drin“ ist, der ist dabei. Wer „draußen“ ist, gehört nicht mehr dazu. Innen und außen bilden nicht selten Unterscheidungskriterien. Beliebt ist diese Unterscheidung, die geradezu eine Trennungslinie markiert, seit langem  im Bereich der Mode. Wer eine bestimmte Marke trägt, ist im Kreis derjenigen, die „up to date“ sind und die Marke fordert von ihren Mitgliedern auch eine gewisse Markentreue.  „Bleibt bei mir“… so werben inzwischen Firmen von der Autobranche bis zum Telefonmarkt. In ungleich größerem Masse als im harmlosen Bereich der Mode oder Werbung ist dieses Unterscheidungskriterium von „drinnen“ und „draußen“ derzeit in der Asyl- und Flüchtlingsfrage, wo es dramatische Formen angenommen hat. Was sich in den vergangenen Tagen auf hoher See zum wiederholten Male im Mittelmeer an der Grenze zu Europa abgespielt hat, tangiert die Menschenrechte. Europa ist eine Festung geworden, die ihr „Inneres“ gegen ein „Außen“ abschottet. Wer drinnen ist, ist sicher und wer draußen steht, steht „draußen vor der Tür“, so der Titel des bekannten Buches von Wolfgang Borchert. Borchert verstand sein Buch in den späten 40er Jahren nach dem 2. Weltkrieg als einen mahnenden Appell an die Gesellschaft, die „draußen“ Stehenden nicht zu vergessen. Draußen zu sein – so Borcherts Erfahrung – „tötet“.

Dieses Bild von dem außen und dem Innen drängte sich mir im ersten Moment auf, als ich wieder den Text aus dem Johannesevangelium las. Es geht um das Bleiben im Inneren bzw. den Folgen, wenn man nicht mehr im Innenkreis steht. Vielleicht erstaunt es, dass dieses Prinzip in gewisser Weise auch für Religionen – nicht nur dem Christentum, sondern auch dem Islam – gilt. In der Antike und auch im Mittelalter sprach mal von der sog. „Arkandisziplin“, d.h. einem Wissen, das nur Eingeweihten zugänglich ist. Denke ich im gegenwärtigen Zeitkontext über den Text aus dem Johannesevangelium nach, gilt es, sich dabei eben auch mit dem Unterscheidungskriterium von „dabei sein“ und „nicht dabei sein“ auseinanderzusetzen. Diese Auseinandersetzung kann vielfältige Bezüge haben, wie bereits angedeutet. Auch für die Institution Kirche ist das Thema von „innen“ und „außen“ hoch aktuell und noch mehr muss sich die Kirche heute auch mit dem Phänomen des „Bleibens in ihr“ auseinander setzen.

Es ist nicht zu leugnen: Viele Menschen haben sich inzwischen von der Kirche abgewendet. Zeitungs- und Medienberichten zu Folge haben sich im Jahr 2014 mehr Menschen als in den Jahren zuvor wieder von der Institution Kirche getrennt. Als Grund hierfür wurde die Erhebung von Kirchensteuern auf die Kapitalertragssteuer genannt. Manche Kritiker sprechen hier bereits von einem „Eigentor“. Die Süddeutsche kommentierte in einem Bericht vom 15.8.2014, dass nach Auffassung der Kirche der „Reiche sich nicht mehr so leicht davor drücken können“ sollte, „das angemessene Scherflein der Kirche zukommen zu lassen.“ Wie realitätsfern! Statt indes den Fehler zu korrigieren, der rechtlich zwar korrekt, aber moralisch Abgründe aufzeigt, spricht man in der Kirche von offizieller Seite des Kirchenamtes der EKD selbstgefällig davon, man habe das Ganze eher ungeschickt kommuniziert.  Die, die „drinnen“ stehen haben offensichtlich nicht verstanden, dass sie inzwischen diejenigen sind, die eigentlich „draußen vor der Tür“ stehen; vor einer Tür der Gesellschaft, die weitgehend religiös indifferent geworden ist. Weniger der Verlust an Religion, sondern vielmehr der Glaubwürdigkeitsverlust der Institution treibt die Menschen aus der verwalteten Kirche. Es scheint so, als würde in unserer Gesellschaft ein neuer Typ von Organisation entstehen, der einerseits immer weniger Mitglieder aufweist und andererseits über immer mehr Geld verfügt.    

Wer steht drinnen und wer steht draußen? Bei dieser Grundsatzfrage kommt es entscheidend auf die Sichtweise an und drehen sich langsam aber allmählich die Verhältnisse um. Vor vielen Jahren erschien von einem bekannten Theologen ein Buch mit dem Titel: „Es bröckelt an den Rändern“. Gemeint war mit der Metapher der Ränder die als sog. „kirchlich Distanzierte“ bezeichnete Gruppe von Menschen, die sich von der Volkskirche abgewendet hatten. Seit dem geht es kirchlichen Reformbemühungen darum, diejenigen „an den Rändern“ wieder zu gewinnen. Aber inzwischen steht die Kirche selbst eher am Rand der Gesellschaft. Ist sie noch „drin“ oder steht sie schon „draußen“?

In dieser Situation stellt der Predigttext aus dem Johannesevangelium eine geradezu prophetische Mahnung dar, wenn es dort  warnend in V. 4 heißt: „Bleibt in mir und ich in Euch“.  Hier gibt es mehrere Möglichkeiten, die Analyse der Zeit mit Hilfe des Predigttextes zu verstehen. „Bleibt in mir und ich in Euch“ (Joh 15,4) könnte bedeuten, dass sich die Kirche zu einer Wagenburg formiert und in einem trotzigen „Wir sind drin“ sich gegen eine heidnischer werdende Umwelt abzuschotten versucht. Diesen Weg könnte der Predigttext sogar legitimieren, indem dann „die da draußen“ mit Vernichtung bedroht werden, wie Joh 15,6 nahe legen könnte: „Wer nicht in mir bleibt, der wird weggeworfen wie eine Rebe und verdorrt…“ Oder heißt das „bleibt in mir“ eher die Konzentration auf die Theologie und das Bleiben im Wort der Offenbarung? Das würde die Frage nach den Kriterien stellen, an die sich die Kirche als Gemeinschaft der Heiligen jetzt und in Zukunft hält. Liest man Joh. 15 weiter über V. 8 hinaus heißt es mit einem beschwörenden Appell in V. 9: „Bleibt in meiner Liebe!“  Hier ist der Weg zu suchen und das Unterscheidungskriterium ist gegeben. Die Zukunft der Kirche entscheidet sich im Bleiben der Liebe.  

I)                     

Der Grund der Gemeinschaft

Mehr als die synoptischen Evangelien lebt das Johannesevangelium aus der Wahrung der Tradition und der Herstellung der Gemeinschaft. Im Zentrum der johanneischen Ekklesiologie steht die Abendmahlsgemeinschaft, die mit Kap. 15 im Mittelpunkt steht. So sind die Verse des Predigttextes aus Joh. 15,1-8 für den Sonntag Jubilate im Kontext des gesamten Kapitels zu lesen und erst ab V. 9 wird das Materialprinzip genannt, das als Kriterium für das Bleiben in Gott gilt. Woher aber kommt die Gemeinschaft und wir wird sie im Johannesevangelium begründet? Wenn man so will lebt das Johannesevangelium intensiv von dem trinitarischen Gedanken, in dessen Mitte die Beziehung zwischen Vater und Sohn steht. Dieses Verhältnis, das im Innenverhältnis als Beziehung zwischen Vater und Sohn selbst auf Liebe beruht,  bildet die theologische Achse des Johannesevangeliums. Das Kapitel 15 nutzt hierfür die Metapher vom Weingärtner, dem Weinstock und den Reben. Mit diesem Bild verwendet das Evangelium die Alltagssprache der Menschen der Antike, für die der Wein ein bekanntes und dennoch besonderes Getränk darstellt. Bekanntlich gilt der Weinbau als eine Art der Landwirtschaft, die sehr viel Mühe kostet und es bedarf der Zeit, bis Weintrauben als Früchte an den Reben wachsen und geerntet werden können. Bereits im Alten Testament wird das Bild des Weinbergs bei den Psalmen und Propheten eingeführt; dabei wird es auf das Volk Israel bezogen, das JHWH aus Ägypten holt. (Ps. 80,9-18) Gott selbst wird aber dort nicht als Weingärtner dargestellt. Das Johannesevangelium nimmt diese Metapher auf und führt sie im Sinne der Offenbarungstheologie weiter.

In der Theologie des Evangeliums nach Johannes wird Gott als Schöpfer der Welt und Jesus Christus als der Sohn in Eins gesetzt. Gott der Vater und der Sohn sind eines Wesens. Zentral für diesen Gedanken, von dem aus sich die Denkweise des gesamten Evangeliums entschlüsselt, ist der Prolog des Evangeliums im 1. Kapitel, in dem es heißt: „Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns…“ (Joh. 1,14) Schlagartig wird beim Lesen dieser Worte klar: hier geht es um das Ganze, denn die Offenbarung birgt eine gewisse Totalität in sich. Diese Worte dringen durch und enthalten einen tiefen Sinn. So stellt sich Ehrfurcht und eine gewisse Scheu ein. Das meint Offenbarung, dass Gottes Sein in Jesus Christus anwesend ist, sich Gott also geradezu körperlich geworden und sich in einem Menschen dingfest gemacht hat.       

Die Offenbarung Gottes in seinem Sohn Jesus Christus stellt die Gemeinschaft der Gläubigen zu Gott auf andere Füße. Die Gemeinschaft zu Gott erhält nun einen neuen Grund. Deutlicher als die anderen Evangelien stellt das Johannesevangelium die Menschwerdung Gottes in den Mittelpunkt. Gott offenbart sich und wird Mensch. Durch diesen Schritt der Selbstmitteilung erhält der Mensch nun einen anderen Zugang zu Gott als bisher. Auch seinem erwählten Volk Israel teilte sich Gott auf verschiedene Weisen mit. In der Tora ist die Verbindung zwischen Gott und Mensch auf Glaubensregeln aufgebaut. Moses war hierzu der Mittler, der die Gebote empfing. Aber immer verbarg Gott sein Antlitz. In der Offenbarung bleibt Gott der Aktive. Er allein hat entschieden zu zeigen wer er ist. Mit der Offenbarung legt sich Gott fest. Der Predigttext definiert dieses Verhältnis geradezu als das zwischen Vater und Sohn, wenn es in Joh 15,1 heißt: „Ich bin der wahre Weinstock, und mein Vater der Weingärtner“. Das traditionelle Bild des Weinstockes und der Weinreben, wie es aus dem Alten Testament bekannt ist, wird hier neu und anders gewendet. Der „Freund“, von dem in Jes. 5,1-7 in der Erzählung vom unfruchtbaren Weinberg die Rede war, ist der Weingärtner selbst. Auf diese Weise korrespondieren beide Erzählungen miteinander und interpretieren sich. Wie der Prophet Jesaja erkennt auch der Evangelist Johannes die Gefahr, dass der Weinberg und seine Reben, die Gaben Gottes und Ergebnis seiner Liebe darstellen, vergehen. Sie bringen keine Frucht mehr. Dieser Gefahr will das Johannesevangelium wehren.  

II)                   

Die Mitte der Gemeinschaft

Der Sohn ist identisch mit dem Vater. Jesus Christus bildet die Mitte, von der aus sich nun die neue Gemeinschaft gründet. Der Apostel Paulus schreibt an einer Stelle im Korintherbrief in einer ganz ähnlichen Weise: „Einen anderen Grund kann niemand legen außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.“ (1. Kor. 3) Im Johannesevangelium wird dieser Grund nun mit den sog. „Ich bin…“ – Worten beschrieben: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben.“ Diese neue Mitte bildet den Orientierungspunkt der Gläubigen. Von hier aus wird Gemeinschaft konstituiert. Die christliche Kirche versteht sich als eine Gemeinschaft, für die die Erinnerung an das sog. „letzte Abendmahl“, d.h. dem Beisammensein Jesu mit seinen Jüngern vor der Hinrichtung am Kreuz, den Mittelpunkt bildet. Als die Gemeinschaft des Wortes feiert die sich versammelnde Gemeinde auch das Abendmahl. In der jüngeren Geschichte der evangelischen Kirche hat sich an dieser Stelle durchaus ein Richtungsstreit entzündet, der sich um die Frage der Abendmahlspraxis rankte. Während eher die eine Richtung die Exklusivität und Besonderheit des Abendmahles betonte, plädierte eine andere Fraktion eher in die Richtung, jeden Gottesdienst mit dem Abendmahl  zu beenden. Die Abendmahlsgemeinschaft gehört zur alltäglichen Gottesdienst- und Gemeindepraxis. Hier wird das „in ihm bleiben“ als Form der ästhetisch-sinnlichen Verkörperlichung rituell praktiziert und gelebt. Der „Tröster“ bzw. Paraklet übernimmt hierzu im Johannesevangelium die Funktion der Vermittlung zwischen Vater, Sohn und der Gemeinde. 

In dieser Exklusivität der Abendmahlsgemeinschaft findet sich dann auch letzten Endes das inkludierende oder exkludierende Element dieses Textes wieder. Die Orientierung an der Mitte legt im Sinne des Johannesevangeliums offen, wer dazu gehört und wer „draussen vor der Tür“ steht. Für heutige Ohren klingt dieses Kriterium in einer Gesellschaft, die sich um Integration und Inklusion bemüht, recht barsch und hart. Gleichzeitig stimmt diese Exklusivitätsregel noch nachdenklicher, wenn man überlegt, dass sich in der modernen Welt viele Menschen freiwillig dafür entscheiden, „draußen vor der Tür“ der Kirche zu stehen und sie leben ihr Leben gut und vermissen nichts. Die Drohgebärde eines möglichen Verdorrens trifft die heutige Gesellschaft nicht mehr.   

III)                 

Das Bleiben in der Gemeinschaft

Die zentrale Botschaft des Textes, geradezu der von dieser Passage ausgehende Mahnruf besteht in der Beschwörung, in Jesus Christus zu bleiben und am Glauben festzuhalten. Nach Auffassung des Johannesevangeliums besteht das Ziel des christlichen Glaubens darin, in der Welt wirksam zu sein. Dem Erweis dieser Wirksamkeit dient das metaphorische Bild von den Früchten der Reben. Traditioneller Weise wird diese Passage des Textes gerne in Predigten dazu verwendet, die Gläubigen sanft zu ermahnen, „viel Frucht“ zu bringen. Aber was heißt das? Ist damit der in der Geschichte der Kirche in der Diakonie zum Tragen kommende Liebesdienst gemeint? Deutlich wird aus dem Kontext des Textes zumindest eines: Im Sinne der Metapher vom Weinstock ist die Frucht nur möglich durch das Bleiben im Weinstock. Wie sich dieses konkretisieren kann, zeigt V. 7: Es geht um das Bleiben im Wort. In einer Predigt zum Text hebt der ehemalige Ratsvorsitzende der EKD, Nikolaus Schneider, hervor, dass das Bleiben in der Beziehung das Entscheidende ist. Damit ist die Beziehung zu Jesus Christus gemeint. Mit keiner Silbe erwähnen die Predigten die Folgen der Abwendung von Jesus Christus. So hat der Text im negativen Sinne eine harte Seite. Die Konzentration auf das „Bleiben“ verwischt mithin auch den Bezugspunkt, nämlich das „Wort“.

Das Wort steht im Mittelpunkt der Gemeinschaft, die sich um das Abendmahl herum bildet. Für Luther macht diese Fixierung auf das Wort geradezu die Theologie des Abendmahles aus. Nur das Wort macht das Zeichen zu einem Sakrament. Diese Zentrierung auf das Wort relativiert in gewisser Weise die durch den Text so oft verkündigte Metapher der Frucht. Der Frucht-Appell: „Seid aktive Gemeindeglieder“, d.h. gestaltet das Gemeindeleben mit lebendiger Gruppenarbeit und typisch evangelischer Klebe- und Bastelpädagogik und seid „drin“, indem ihr eine „gestaltete“ Mitte habt, tritt zurück hinter den Gedanken, dass alle Aktivität vom Wort selber ausgeht. Dem Johannesevangelium geht es darum, dass das Wort die Priorität erhält und in euch bleibt. Das „Im Wort-Sein“ ist das Entscheidende.  Erst nachgeordnet geht es dann auch um das Bleiben in der Liebe.    

Das Wort zu verlieren ist dann die Gefahr an der Grenze und entscheidet zwischen „drinnen sein“ und „draußen sein“. Jetzt erhält der Text eine ziemlich aktuelle Note, wenn man ihn als eine Mahnung an die christliche Gemeinschaft versteht. In der Zeit als das Johannesevangelium historisch entstand, gab es diese Gefahr, dass die Gemeinschaft der Kirche auseinander zu brechen drohte. Der Schwung des Anfangs sank und die Euphorie auf das Reich Gottes verschwand allmählich. Die Wiederkehr des Auferstanden ließ auf sich warten. In dieser Situation mahnt das Evangelium das Erbe des Anfangs an. Der Text erinnert an den Ursprung der Gemeinschaft.

Also zu guter Letzt noch einmal gewendet: Wer ist „drinnen“ und wer ist „draußen“? Was heißt das: „Bleibt in mir“? im heutigen Gesellschaftskontext? Für mich heißt das, dass die Kirche zwar drinnen in der Gesellschaft als eine Institution existiert, aber ihre Position hat sich verändert. Sie ist ein kleiner werdender Teil am Rand einer vielstimmigen Religionslandschaft in einer offenen Zivilgesellschaft. Der Predigttext ruft danach, dass die Kirche „in ihm bleibt“, d.h. sich auf die Verkündigung des Evangeliums und auf das Wort der Offenbarung konzentriert und vor allem in den eigenen Reihen der Gemeinde in der Liebe bleibt (Joh 15,9).  Mit dem Hören auf das Wort entspricht sie dem Sein des Weingärtners. Diese Konzentration auf das geoffenbarte Wort war die Mitte, aus der die Reformation ihre Kraft und Energie bezog. Das Hören auf dieses Wort Gottes zog im 16. Jahrhundert den Umbau und die Umgestaltung der Kirche nach sich. Und heute?

Perikope
26.04.2015
15,1-8