Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus sei mit euch! Amen.
Liebe Gemeinde,
Es war sein erstes Mal. Das erste Mal hat Paulus an die kleine Gemeinde in Thessalonich geschrieben. Das erste Mal hat Paulus einen Brief verfasst.
Jedenfalls kennen wir keine ältere Post von ihm.
Das erste Mal hat überhaupt ein Christ etwas schriftlich festgehalten. Jedenfalls hat man bis jetzt keinen älteren Text im Neuen Testament gefunden.
Nicht zum ersten Mal dachte Paulus daran, dass er sowas wohl zum letzten Mal macht. Denn Paulus erwartete unmittelbar, dass Jesus wieder erscheint. Jedenfalls zu seinen Lebzeiten noch. Er hoffte es. Er war sich ziemlich sicher, dass er es erleben wird.
Paulus lebte sehr gefährlich. Er wurde verfolgt und es war alles andere als sicher, Wochen, Monate und Jahre durch das Römische Reich zu reisen. Auch deshalb musste er jederzeit mit seinem eigenen Ende rechnen. Auch sehr plötzlich! Jedenfalls, wenn er sein neues Leben als Christ realistisch betrachtete.
So kommt es, dass Paulus in seinem ersten Brief schon letzte Worte schreibt. Ich lese aus seinem 1. Brief an die Thessalonicher aus dem 5. Kapitel:
14 Wir ermahnen euch aber: Weist die Nachlässigen zurecht, tröstet die Kleinmütigen, tragt die Schwachen, seid geduldig mit jedermann. 15 Seht zu, dass keiner dem andern Böses mit Bösem vergelte, sondern jagt allezeit dem Guten nach, füreinander und für jedermann. 16 Seid allezeit fröhlich, 17 betet ohne Unterlass, 18 seid dankbar in allen Dingen; denn das ist der Wille Gottes in Christus Jesus für euch. 19 Den Geist löscht nicht aus. 20 Prophetische Rede verachtet nicht. 21 Prüft aber alles und das Gute behaltet. 22 Meidet das Böse in jeder Gestalt. 23 Er aber, der Gott des Friedens, heilige euch durch und durch und bewahre euren Geist samt Seele und Leib unversehrt, untadelig für das Kommen unseres Herrn Jesus Christus. 24 Treu ist er, der euch ruft; er wird’s auch tun.
Liebe Gemeinde, stellt euch vor, dieser erste Brief wäre Paulus‘ letzte Post gewesen. Sehr gut möglich, wenn es so gekommen wäre, wie Paulus es selbst hat kommen sehen. Wüssten wir dann alles, was es für ein christliches Leben braucht?
Nein, aber alles zu wissen, wäre auch zu viel des Guten. Wir erfahren aber doch das Wesentliche. Das ist eigentlich immer so, wenn jemand letzte Worte schreibt.
Oder noch vorher, wenn einem sterblichen Menschen bewusst wird, dass es letzte Worte, letzte Gesten, letzte Male gibt. Gerhard Schöne, schon Singer-Songwriter zu DDR-Zeiten, hat davon gesprochen und gesungen:
Irgendwann
«Irgendwann siehst du zum letzten Mal Schnee ...» (Vgl. den gesamten Liedtext unter: http://www.gerhardschoene.de/lieder/irgendwann.html)
Worte werden wesentlich, wenn sie letzte Worte sind.
Worte werden wesentlich, wenn sie sich als letzte Worte erweisen. (Vgl. zu Paränesen insgesamt und von Sterbenden: https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/29983/)
Haben Sie Ihr Testament/Ihren Lebenslauf schon fertig? Ich noch nicht ganz.
Mich interessieren die allerletzten Worte des Testaments/des Lebenslaufes. Nicht, wer wie viel wovon bekommt, wer leer ausgehen soll und ob gelost werden muss, wem das Silberbesteck vererbt wird, damit es beieinanderbleibt und ja nicht aufgeteilt wird... wär‘ ja schade drum...
Nein, mich interessiert die Stelle am Schluss, die allerletzten Worte der letzten Worte.
Meine Oma zum Beispiel schrieb, leicht zittrig, aber mit gebetsgewöhnten Händen: „Behüt‘ Euch Gott!“ Sie war keine Prophetin, aber eine im guten Sinne fromme Frau. Sie war ganz sicher, dass die Familien ihrer Töchter und Enkel auch weiterhin den Segen Gottes nötig haben werden.
König David liegt auf dem Sterbebett. Er ruft seinen Sohn Salomo und macht ein mündliches Testament: Halte dich an Gott, vor allem an seine Gebote und Regeln. Ordnung muss sein (vgl. 1. Kön 2, 2-3)!
David liegt im Sterben, aber er bleibt streng.
Meine Schwiegermutter schrieb unter ihren selbstverfassten Lebenslauf gewissermassen als ‚geistliches Testament‘: „Vergesst die Armen nicht!“ Sie hatte in Afrika gearbeitet und deshalb eine genaue Vorstellung davon, was Armut ist – und hatte erlebt, wie Menschen Ratten brieten und schmackhaft zubereiteten.
Paulus schreibt etwas ausführlicher als die beiden sehr alten Frauen in meiner Verwandtschaft und König David. Paulus schreibt aber auch nicht nur für eine alte Familie oder eine junge Dynastie, sondern für eine ganze Gemeinde. Da sind nicht alle miteinander verwandt. Manche kennen sich wahrscheinlich noch fast gar nicht.
Paulus schreibt das erste Mal. Aber er denkt, es sei das letzte Mal. Daher muss alles gesagt werden. Alles auf einmal.
Er bringt in seinen letzten Sätzen nicht nur hart, aber herzlich alle notwendigen Ermahnungen unter, sondern auch noch ein kleines Glaubensbekenntnis, mehrere Ansagen, was Gottes Wille und wie Gottes Charakter vorzustellen ist, ein pathetisches Segenswort und jede Menge Hoffnung für die kommende Zeit und Welt. Dafür ist der Text dann wieder sehr kurz und so überfüllt, dass er kaum zu bewältigen ist.
Kennen Sie solche Briefe, die man 17mal lesen muss, ehe man durchsieht?
Hart, aber herzlich sind Paulus‘ Worte, weil man zuerst zugeben muss, dass es nachlässige Leute in der Gemeinde gibt, die zurechtgewiesen werden müssen. Luther übersetzt „Unordentliche“. Noch genauer möchte ich das gar nicht wissen! Die neugierigen Skandalliebhaber unter den Theologen haben ihrer Fantasie oft freien Lauf gelassen.
Danach sagt Paulus frei heraus, dass manche in der Gemeinde kleinmütig seien. Solche kenne ich auch: die ständig Pessimistischen, die Frustrierten, die Bedenkenträgerinnen, jene, die immer erstmal abwarten wollen und traurig sind über Kirchenaustritte. Manchmal bin ich selbst auch so eine. Sie sollen jedoch nicht ermahnt, sondern getröstet werden. Wir machen es oft genau umgekehrt: Wir trösten nicht selten nachlässige Leute (‚Macht doch nix, was Du machst!‘) und ermahnen dafür die Ängstlichen: ‚Reiß dich zusammen!‘ Das ist nicht in Paulus‘ Sinn! Die Nachlässigen sollen wir neu orientieren, die Kleinmütigen trösten.
Nicht zu übersehen ist die Tatsache, dass es Schwache gibt. Aber sehr von Herzen kommt die Bitte, die Schwachen zu tragen, zu ertragen. Jede Generation muss das neu lernen. Wer schwach ist, will nicht verglichen werden, will nicht gemobbt werden, will nicht auf Instagram erfahren, wie viel schwächer als stark sie ist. Ein schwacher Mensch ist auf die Stärke der anderen angewiesen. Wenn die Aktualisierung gestattet ist: Wer sich wegen bestimmter Vorerkrankungen nicht impfen lassen kann, ist auf die Impfbereitschaft der anderen angewiesen.
Dann folgen noch viele Ermutigungen und Ermahnungen und Ermunterungen und Einsichten und Erkenntnisse und Erinnerungen, alles auf einmal: geduldiger sein, keine Rache üben, dem Guten hinterher sein, Fröhlichkeit verbreiten, regelmäßig beten, die Gründe zur Dankbarkeit erkennen und die Wirkungen des Heiligen Geistes auch. Alles prüfen, das Gute behalten. Das Böse meiden, egal, wie schön es aussieht.
Wir sind Schöftlerinnen und Schöftler, nicht Thessalonicherinnen und Thessalonicher, aber offensichtlich lesen wir immer noch Paulus‘ Post. Was antworten wir ihm?
Die schlechte Nachricht zuerst: Paulus‘ Programm ist noch nie vollständig umgesetzt worden. Immer hat es Ungeduldige gegeben oder solche, die doch schadenfroh, neidisch und missgünstig auf Vergeltung sannen. Fröhlich haben die Christen nicht immer gewirkt. Ein besonders griesgrämiger Pfarrerssohn hat es ihnen dann prompt vorgeworfen. Friedrich Nietzsche guckt jedenfalls auch nicht gerade heiter auf Fotos. Gab es zu viel Arbeit oder zu viel Ärger oder beides, ging auch das Beten ab und an vergessen. Die Gründe zur Dankbarkeit hatten sich dann meist schon vorher aus dem Staub gemacht.
Bei den Wirkungen des Heiligen Geistes hat es in mehr als einem Jahrhundert Missverständnisse gegeben. Dieses Prüfet alles, das Gute behaltet! hat man auch nicht immer richtig verstanden. Es kam eher heraus: Probiert alles aus, schaut dann, ob überhaupt etwas übrigbleibt, was man bewahren und weitergeben kann: vom Planeten, von der Schöpfung.
Nun aber die gute Nachricht:
Paulus hat nach Thessalonich geschrieben, beim ersten Mal nur nur dorthin. Jedenfalls er sich das so vorgestellt – und wirklich: Dort ließen sie den Brief allen Brüdern vorlesen (1. Thess 5, 27), wie er es verlangt hat. Aber inzwischen wird sein Brief seit fast 2000 Jahren vorgelesen, überall. Nicht nur im Römischen Reich, nein, auf der ganzen Welt! Und auch Schwestern können ihn inzwischen vorlesen!
Paulus ist erst nachträglich ein grossartiger Briefschreiber geworden.
Jedenfalls ist er für uns der Apostel, der mit Abstand die meiste Post hinterlassen hat. Wir lesen alle seine Briefe immer und immer wieder. Wir stellen fest: Er hat sich gewaltig geirrt, was Jesu Wiederkehr angeht. Aber wie kostbar die Zeit ist, die wir hier auf Erden haben, lehrt er uns wie kaum ein anderer.
Ich würde Paulus zurückschreiben: Glaub uns, wir haben noch nicht aufgegeben. Deine Listen, was zu tun ist, sind lang. Im ersten Moment viel zu lang. Aber wir arbeiten dran. Wir jagen dem Guten immer noch nach, wie du es völlig richtig genannt hast.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der stärke und bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, Amen
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Predigen werde ich für alle Menschen, die in die Kirche kommen, und via Zoom zu manchen Gemeindegliedern aufs Laptop auf dem Stubentisch. Seit Corona ist diese Möglichkeit dazugekommen und wird von Einzelnen sehr geschätzt. Im wachsenden Bibel-gesprächskreis haben wir den 1. Thessalonicherbrief und den Römerbrief gelesen, manchen haben sich Paulus‘ Briefe in den insgesamt zwei Jahren der Lektüre neu erschlossen. Aber auch für alle anderen ist die Predigt gedacht.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Beflügelt hat mich die Aussicht auf wunderbare Musik im Gottesdienst; zwei Musiker reisen aus Leipzig an. Sie werden heiter und „urst fetzig“ (ein DDR-Ausdruck) musizieren, dass keine „Grabesschwere“ wegen der letzten Worte aufkommen kann.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Mir gibt die Predigt wichtige Impulse für die Seelsorge, dort genauer hinzuhören, was jemand in seine Patientenverfügung, in sein Testament schreibt, was in der Abdankungspredigt unbedingt noch gesagt werden soll. Seit knapp einem Vierteljahrhundert beobachte ich, wie Menschen sich vertiefter und intensiver mit dem Sterben und dem Tod beschäftigen. Das Thema enttabuisiert sich allmählich, hoffentlich auch durch eine solche Predigt ein winziges Bisschen.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die coachenden Hinweise sind für mich sehr wertvoll, manches muss einer auch immer wieder gesagt werden. Das Feedback aus der Gemeinde ist viel weniger genau oder erfolgt erst sehr viel später, z. B. bei einem Einzelgespräch. Es bleibt bei der guten, alten Regel: Weniger ist mehr.