Das ganze Jonaherz
Loslassen ist Festklammern
Jona. Ich habe seine Geschichte laut gelesen. Und sein Lied mitgesungen. Immer nochmal. Ich wollte Gott heraushören. Es gibt bekanntlich viele Arten zu schweigen. Auch Gott schweigt sich gelegentlich aus. In Menschen, in Bildern, in der Welt, sogar in Worten oder zwischen den Zeilen. Selbst in der Bibel. Manchmal schweigt er laut und unüberhörbar. Das Schwerste am Schweigen, heißt es, sei das Aufhören. Das gilt offensichtlich auch für Gott. Und nicht nur Jona weiß davon sein Lied zu singen.
Wenn Gott sein Schweigen bricht, muss man sich entscheiden. Das wissen nicht nur seine Leute, wie die berühmte Antwort des Dichters Bert Brecht auf die Frage, ob es einen Gott gibt, nahelegt: “Ich rate dir nachzudenken, ob dein Verhalten sich je nach der Antwort auf diese Frage ändern würde. Würde es sich ändern, dann kann ich dir wenigstens noch so weit behilflich sein, dass ich dir sage, du hast dich schon entschieden, du brauchst einen Gott.”
Manchmal ist Gott zum Weglaufen
Ich war sieben. Und, wie an jedem Montagmorgen um halb acht, angetreten zum Fahnenappell auf dem Schulhof des kleinen Dorfes in der Mark Brandenburg. Sechzigerjahre DDR. Ich Pfarrerskind. Der einzige ohne blaues Halstuch. Der Direktor ließ mich vortreten und fragte vorwurfsvoll: “Wo ist denn nun dein Gott?” Alle lachten. Ich schwieg. Sie hissten die Fahne. Und weder der Direktor noch die beiden Blauhemden rechts und links versanken im Boden, auch nicht nach vierzig Tagen. Und der rettende Fisch kam nicht, um wenigstens mich vom Platz zu schlingen.
Manchmal ist Gott zum Weglaufen. Aber ich blieb wie angewurzelt stehen. Wer war nun geflohen? Ich oder Gott? Ließ er sich etwa auslachen? Das ist eine echte Jonafrage. Dieser aufsässige Prophet redete mir schon lange dazwischen. Besonders, wenn ich mich selbst beim Fahnenappell noch verzweifelt an meinem lieben Gott festklammerte. Vielleicht, weil er Gott nicht einfach so lassen wollte, wie er war.
Weglaufen ist Wiederkommen
“Jona und der große Fisch” hieß mein innig geliebtes Kinderbuch. Den Gebrauchsspuren nach habe ich es hunderte Male durchgeblättert. Die kurzen Texte kannte ich auswendig, lange bevor ich lesen konnte. So buchstabierte ich mir Gott zuallererst im Bilderbuch zusammen. Ich lernte aber auch zwischen den Zeilen zu lesen. Etwa, dass man vor dem Weglaufen das Wiederkommen üben muss. Und dass man sichere Wegweiser braucht. Die Farben im Buch leuchteten mir noch lange heim. Und den großen Fisch auf der Umschlagseite konnte ich nicht leicht vergessen. Die Seeleute auf den Bildern vor und nach dem Sturm hatten freundliche Gesichter. Erst als sie den flüchtigen Gottesmann auf dessen Wunsch ins Wasser warfen, sahen sie ernst und etwas verlegen aus. Dann glätteten sich die Wogen. Das Schiff verschwand klein unter dem blauen Himmel am Horizont. Mit dem Wurf über Bord misslang die Flucht des Propheten schon ganz am Anfang. Aber dieser trotzige Bote hatte Gott den Rücken gekehrt. Das nahm mich für ihn ein.
Ein solches Buch wird ja nicht nur gelesen. Es wird geliebt und gelebt. Unzählige Male habe ich Gott mit kindlichem Schweigen bestraft oder bin polternd geflohen, um irgendwann auf leisen Sohlen wiederzukommen. Eine Flucht will gelernt sein. Manchmal habe ich mir zurechtgelegt, was ich mitnehmen wollte, wenn ich, ohne Gott vorher zu fragen, den Weg aus der Mark Brandenburg in die weite Welt antreten würde.
Immer wieder von vorn: Aufs Schiff, ins Wasser, in den Fisch, an Land, in die Stadt.
Nichts als Ostern
Der aufsässige Prophet nahm mich mehr als einmal mit auf seine bilderbuchreife Reise. Schon auf Seite zwei machten wir uns aus dem Staub. Gott hatte das Nachsehen. Furcht kannten wir nicht, denn wir wussten immer schon auf Seite drei, dass die Geschichte für alle Beteiligten – und damit auch für mich als blinden Passagier – gut ausgehen wird. Kaum angekommen in dem dunklen Bauch des Fisches, umgeben vom tiefsten Schweigen des Meeres fing Jona an zu singen. Er sang sein ganzes Menschenleben so lange vor sich hin, bis er selbst ein Psalm war. Oder er stimmte die schönsten und hellsten Töne an, die er kannte. Immer von neuem. Auch wenn niemand zuhörte, sang er laut und eindringlich. In der schwärzesten Menschenferne klang Vieles vergeblich. Aber sein unaufhörliches Psalmodieren rettete ihn wohl am Ende. Denn er sang so lange, bis der Fisch ihn ausspuckte.
Drei dunkle Tage und drei helle Nächte sang er.
Was er sang? Nichts als Ostern. Wer sich in seinen Gesang, wie er in der Bibel erklingt, hineinhorcht, wird gewahr, wie er sich vom dunklen Karfreitagsweinen ganz am Anfang immer weiter nach oben singt, Ton um Ton um Ton hinauf in immer helleren Osterjubel.
(Predigttext verlesen)
Zeichen des Jona
Schon Jesus selbst hatte geheimnisvoll andeutend auf das Zeichen des Jona verwiesen: “Wie Jona drei Tage und drei Nächte im Bauch des Fisches war, so wird der Menschensohn drei Tage und drei Nächte im Schoß der Erde sein” (Matthäus 12,48). Für die Christenheit wurde Jonas Herabsinken in die Tiefe des Meeres, seine Gefangenschaft im Bauch des Fisches und schließlich seine wunderbare Rettung zur Verstehenshilfe für alles, was von Karfreitag bis Ostern geschah. So wie der Fisch Jona nicht in sich behalten konnte, so konnte das Grab Jesus nicht festhalten. Der Tod musste seine Beute wieder hergeben. Zwar nicht in meinem Jona-Kinderbuch, aber auf zahlreichen mittelalterlichen Darstellungen, vielfach auf Grabsteinen, wird anschaulich, wie der Fisch Jona an Land speit – als Vorab-Hinweis, wie nach kurzer Zeit, am dritten Tag, Jesus aus Dunkelheit und Tod befreit und auferweckt wird und der Osterjubel sich Bahn bricht.
Was allen in die Kindheit scheint
Die Predigt, die der Dichter Rudolf-Otto Wiemer meinem Kinderbuch-Jona in den Mund legte, gefällt mir heute noch. In zwei Sätzen und ganzen elf Worten ist alles gesagt.
„Jona stellte sich auf den Markt und predigte. Er rief: ‚Noch vierzig Tage, dann wird Ninive untergehen.‘ Die Leute erschraken. Sie fragten: ‚Was sollen wir tun?‘ Jona sagte: ‚Ihr sollt euch ändern.‘ Da glaubten sie seinen Worten und änderten sich.”
Dass eine Predigt so prompt durchschlagende Wirkung zeigt, dürfte selbst einem Propheten nur selten gegeben sein. Aber auch die anschließende Beschreibung ist nicht nur für Kinder unvergesslich. Sie lässt die Welt in einem österlichen Licht erscheinen.
„Die Zornigen schämten sich. Die Geizigen beschenkten die Armen. Die Lügner sagten die Wahrheit. Wer betrogen hatte, wurde ehrlich. Wer prächtige Kleider trug, legte sie ab. Alle fasteten sie. Unaufhörlich beteten sie zu Gott.”
Das ganze Gottesprogramm wird widerspruchslos umgesetzt. Jona ruht sich aus. Erschöpft von der Größe des Bekehrungswunders, das er mit seiner Auftragspredigt in Gang gesetzt hat, legt er sich in den Schatten eines Baumes. Das Kinderbuch ist hier zu Ende. Es schließt mit dem Blick auf eine Welt, die sich mit eisernem Willen und knappen Anweisungen erfolgreich zum Guten ändern lässt.
“Was allen in die Kindheit scheint”, nannte der Philosoph Ernst Bloch liebevoll diese unverwüstliche Hoffnung auf eine Zukunft, in der Frieden und Gerechtigkeit sich küssen. Aber, wie im richtigen Leben, bleibt die Bibel beim Happy End nicht stehen.
Gott hat zwar sein Schweigen gebrochen. Aber dann stellt er selbst alles Gesagte in Frage. Er tut einfach nicht, was er sagt. Die Stadt geht nicht, wie angekündigt, unter.
Genau das hatte Jona befürchtet.Nun fühlt er sich vor den Menschen blamiert und ist gekränkt. Weil er, ganz im Gegensatz zu uns Nachgeborenen, die österliche Freudenpartitur noch nicht entziffern kann, hört er nur Misstöne. Dabei ist es ihm herzlich egal, ob das Licht, hinter das er geführt wird, österliche Züge trägt.
Gott ist sich selbst und ihm ins Wort gefallen. Für immer. Nicht Untergang und Tod haben fortan das Sagen, sondern Erlösung und Rettung. Nicht nur im Fischbauch, sondern weltweit kommt ein anderer Ton zum Vorschein. Dafür nimmt Gott selbst Tod und Verderben auf sich, wird verspottet und verlacht und stirbt verlassen am Kreuz. Drei Tage und drei Nächte währt die Gottesferne. Dann ist die Welt für immer eine andere.
Das ganze Jonaherz
Ich Pfarrerskind.
Ich habe gelernt zu fliehen. Ich fragte, was ich sah. Ich übte, was ich sagte, ich sagte, was ich glaubte. Was ich verlor, verbarg ich. Stündlich. Täglich. Nicht immer rechtzeitig. Aber ich entkam den Wörtern, dem Schweigen, dem Redenmüssen, der Einsamkeit. Ich floh vor Heiligen, vor Engeln, vor Thron und Altar. Vor dem Nachthimmel, vor dem Kelch. Vor wohlfeiler Zuversicht. Vor manchen Psalmtönen.
Nicht entkommen bin ich der Angst. Vor dem Scheppern der Riegel. Vor dem Singen der Schlüssel. Vor den Lügen der Vernehmer. Vor den Stiefeln der Bewacher.
Ich Pfarrerskind.
Ich habe gelernt zu bleiben. Ich habe geübt zu schweigen. Beim Fahnenappell immer hinten, immer im Dunkeln. Ich habe geübt zu singen. Wenn einer singt, kann es hell werden, österlich hell. Mit Miriams Trommeln. Mit Davids Psalmen. Mit Bachs Magnifikat. Und mit einem Wort von Martin Luther, gemeißelt in mein Jonaherz:
"Mit wem Gott einmal redet, sei es im Zorn oder in der Gnade, der ist gewiss unsterblich.”
Das ganze Jonabuch in einem Satz.
Aber manchmal schwieg Gott mich plötzlich an.
Einmal sogar mitten im Gottesdienst, mitten im Wort. Buchstäblich.
Da dachte ich: Ohne Gott wird es überall eng, ganz gleich, ob auf der Kanzel oder im Fisch.
Immer fällt mir Jona ein. Wie er sang und wie sein ganzes menschliches Leben auf einmal Gottes Wort wurde. Das Zeichen des Jona. Dann fasse ich mir an mein Jonaherz. Ich Pfarrerskind. Dann singt es in mir. Egal ob Kanzel oder Fisch, es ist mein Ostern, mein Cante jondo, mein eigener "Gesang von tief innen" aus dem Fischbauch:
"Gewiss unsterblich." Das ganze Jonaherz in zwei Worten.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Eine Gemeinde vor den Toren einer Großstadt in ländlicher Region in Ostwestfalen. Neben traditionellen Angeboten gibt es eine rege Jugend- und Konfirmandenarbeit. Die Gottesdienste sind in der Regel gut besucht. Die ehemalige Patronatskirche liegt zentral im alten Dorfkern, es gibt vielfältige Kirchenmusik. Im Gottesdienst wird die Kantorei singen. Und auch sonst wird viel gesungen – nach der Corona-bedingten Schweigezeit. Das Lied "Der schöne Ostertag" (EG 117) wird vor der Predigt gesungen.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Den trotzigen Propheten Jona im Laufe der Vorbereitung immer österlicher predigen und singen zu hören, weckte kindliche und erwachsene Erinnerungen an eigene österliche Auf- und Ausbrüche.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Das ganze Jonaherz in mir selbst so laut pochen zu hören erweckt durch die lebendigen Bilder und eindringlichen Wahrheiten eines alten Kinderbuches, von dem ich mir einbildete, es längst vergessen zu haben – das war selbst ein kleines Ostern. Die eigenen Versuche, dem Schweigen oder den (vermeintlichen und wirklichen!) Anreden Gottes zu entkommen und immer wieder zu ihnen zurückzukehren, halten an und sind nicht weniger aufregend als in der Kindheit.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die behutsamen Hinweise des Predigtcoaches ließen mich den Text ganz anders lesen und die österliche "Partitur" in dem Jona-Psalm erst wirklich hören und verstehen. Die ganze Predigt bekam durch diese Hinweise erst ein neues, österliches Licht.