Das Gericht - Predigt zu Johannes 9, 35-41 von Matthias Wolfes
9,35
Das Gericht
„Es kam vor Jesus, daß sie ihn ausgestoßen hatten. Und da er ihn fand, sprach er zu ihm: Glaubst du an den Sohn Gottes? Er antwortete und sprach: Herr, welcher ist’s? auf daß ich an ihn glaube. Jesus sprach zu ihm: Du hast ihn gesehen, und der mit dir redet, der ist’s.Er aber sprach: HERR, ich glaube, und betete ihn an.
Und Jesus sprach: Ich bin zum Gericht auf diese Welt gekommen, auf daß, die da nicht sehen, sehend werden, und die da sehen, blind werden. Und solches hörten etliche der Pharisäer, die bei ihm waren, und sprachen zu ihm: Sind wir denn auch blind? Jesus sprach zu ihnen: Wärt ihr blind, so hättet ihr keine Sünde; nun ihr aber sprecht: ‚Wir sind sehend’, bleibt eure Sünde.“
Liebe Gemeinde,
unser Text führt uns in ein ernstes Gebiet. Es geht um ein Leben mit offenen Augen, in wachsamem Geist geführt und von Klarheit durchdrungen, und zwar Klarheit über das, worauf es ankommt. Verbunden wird das mit der Rede vom „Gericht“, als dessen Richter Jesus sich selbst bezeichnet. Er sei „zum Gericht auf diese Welt gekommen, auf daß, die da nicht sehen, sehend werden, und die da sehen, blind werden“.
Die kleine vorangehende Notiz über die Begegnung mit dem Ausgestoßenen wirkt wie eine Hinführung, eine Art vorweggenommener Illustration, und das Christus-Bekenntnis, das er ablegt, nachdem ihm die Augen geöffnet worden sind, ist gewissermaßen die einleitende Rechtfertigung des im Grunde ja maßlosen Anspruches, den der Evangelist Jesus hier in den Mund legt. Zugleich aber verbindet Johannes mit dem Gerichtsgedanken eine bestimmte Interpretation; sie leitet mich im späteren Teil meiner Ausführungen.
Ich möchte mich hierauf konzentrieren: das Gericht – sei dies nun eine endzeitliche Gesamtrechtfertigung des Einzelnen für all sein Tun und Lassen oder aber die universale Schlußabrechnung über die Gesamtheit des Daseins. Letzteres hat in der christlichen Tradition als „Jüngstes Gericht“ große Bedeutung gehabt, und die Nachwirkungen dieser Vorstellung sind bis heute gegenwärtig. Und doch ist das eine der Ideen unseres Glaubens, die stark an Gewicht verloren haben. Wir sind auf das Hier und Jetzt fixiert und versuchen darin, unser Bestes zu tun. Der pietistische Dauerappell an eine sich stets ihrer selbst bewußten Lebensgestaltung, motiviert aus dem Gedanken an die noch bevorstehende Forderung, von allem Rechenschaft ablegen zu müssen, ist uns unangenehm und fremd geworden. Bisweilen läuft uns dann wohl auch die Passage aus dem zweiten Artikel des Apostolischen Glaubensbekenntnisses: „er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters;
von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten“ beim Sprechen eher so mit unter, doch sind wir wenig geneigt, unser Nachdenken etwas genauer darauf zu lenken.
Auch mir selbst geht es immer wieder so. Der heutige Predigttext gibt aber Gelegenheit, es einmal anders damit zu halten. Immerhin ist unsere moderne Skepsis gegenüber dem Bild vom Gericht ja nun auch nicht völlig unbegründet. Das ist mein erster Punkt. Dann aber gibt es eben doch eine Seite an ihm, die man festhalten sollte, weil dies unmittelbar mit dem Wesentlichen zu tun hat, worum es uns als Christen in unserem christlichen Leben zu tun ist: ein Leben zu führen, das nicht sich verliert, sondern um das wirklich Wichtige kreist und jedenfalls um es weiß. Das wird mein zweiter Punkt sein.
I.
Weshalb ist uns der Gedanke an das Gericht, das „Jüngste Gericht“ oder auch das immerzu hier und heute an jedem Tag stattfindende Gericht, geführt durch das Gewissen und den moralischen Anspruch, nach Güte und Gerechtigkeit zu streben, aus dem Blick geraten?
Dafür scheint es mir vor allem zwei Gründe zu geben. Der eine ist: Dieser Gedanke, diese Vorstellung hat eine wahrhaft schauerliche Wirkung entfaltet und allzu unübersehbar den Glauben verzerrt und auf einen falschen Weg geleitet. Er hat die Freiheit begraben, zu der der Glaube doch zuallererst führen soll, und ungeheuer häufig zu Knechtung und Demütigung menschlichen Lebens geführt, und zwar sowohl einer Knechtung von außen wie auch von innen. Die Gerichtsvorstellung hat viel stärker zu wirklicher Sklaverei beigetragen als zu einer Befreiung der Seele.
Selbst noch das Jahrhunderte lang in millionenfachen unterdrückten Existenzen lebendige Sehnen nach einer göttlichen Bestrafung der Übeltäter und Gewalthaber, der Mörder ihrer Kinder und Zerstörer ihres Glückes ist von den Unterdrückern, Mördern und Zerstörern dazu benutzt worden, um tun zu können, was sie wollten. Nichts konnte ihnen gelegener kommen als eben diese Hoffnung bei den Opfern. Und es bedarf nur wenig, um zu sehen, weshalb eine obrigkeitlich beaufsichtigte kirchliche Verkündigung auch mit äußerster Intensität den Glauben an Himmel und Hölle, an Christus als den gewaltigen endzeitlichen Richter am Leben gehalten hat. Von einer emanzipatorischen Kraft, die den christlichen Glauben gerade doch so hell und lichtvoll macht, blieb da nichts übrig.
Das ist der eine Grund. Der andere liegt in den seelischen Verirrungen, die wir erblicken, wenn uns Menschen begegnen, deren innere Welt sich in Anknüpfung an den Gerichtsgedanken in den absonderlichsten Vorstellungen bewegt. Die Beispiele dafür sind unüberschaubar. Wieviel Selbstquälerei ist da wirksam, und wie schrecklich, wie demütigend geht es bei ihnen zu? Was aber hat das Gefühl schlechthinniger Verworfenheit mit dem christlichen Glauben zu tun? Und manche setzen sich dann auch in ihrer Not, mit einem krankhaften Behagen, geradezu selbst an die Stelle des Richters, maßen sich den Überblick und die definitive Urteilskraft an und verlieren dabei den Maßstab für ein Leben in der Wirklichkeit. Ich führe ein literarisch dokumentiertes Beispiel an:
„Ich bin ein lügnerischer Mensch, ich kann das Gleichgewicht nicht anders halten, mein Kahn ist sehr brüchig. Wenn ich mich auf mein Endziel hin prüfe, so ergibt sich, daß ich nicht eigentlich danach strebe, ein guter Mensch zu werden und einem höchsten Gericht zu entsprechen, sondern, sehr gegensätzlich, die ganze Menschen- und Tiergemeinschaft zu überblicken, ihre grundlegenden Vorlieben, Wünsche, sittlichen Ideale zu erkennen, sie auf einfache Vorschriften zurückzuführen, und mich in dieser Richtung möglichst bald dahin zu entwickeln, daß ich durchaus allen wohlgefällig würde, und zwar (hier kommt der Sprung) so wohlgefällig, daß ich, ohne die allgemeine Liebe zu verlieren, schließlich, als der einzige Sünder, der nicht gebraten wird, die mir innewohnenden Gemeinheiten offen, vor aller Augen, ausführen dürfte. Zusammengefaßt kommt es mir also nur auf das Menschengericht an und dieses will ich überdies betrügen, allerdings ohne Betrug.“ So Franz Kafka in einem Brief an seine Verlobte Felice Bauer vom Herbst 1917.
Mit solchen krassen Vorstellungen wollen wir nichts zu tun haben. Hier handelt es sich um Kompensation, um den imaginierten Ausgleich für Defizite, die tief in die Seele reichen. Dies sind Menschen, die von irgendwoher traumatisiert sind und in der Gerichtsmetapher Ersatz finden, wie ja überhaupt Kompensation einer der geradezu allgegenwärtigen Aspekte religiösen Lebens ist (und auch des menschlichen Lebens im Ganzen).
Dagegen hilft nur Aufklärung. Gerade hier hat man immer wieder Anlaß genug, an die Worte zu denken, mit denen Moses – jedenfalls in der Fassung Arnold Schönbergs – seine Botschaft zusammengefaßt hat: „Reinige deinDenken, lös es vom Wertlosen, weihe es Wahrem“ (Moses und Aron [1951 / 1954], I. Akt, 2. Szene).
Nun wird niemanden, der zu jenen Paranoikern gehört, ein solcher Aufruf beeindrucken. Er erreicht ihn gar nicht, weil er aus einer anderen Welt zu ihm tönt, in einer anderen Sprache. Aber es geht uns im Moment nicht um ein Therapieprogramm, sondern darum, zu beschreiben, weshalb uns nun unsererseits jede Versessenheit auf ein dereinst oder auch jetzt schon erbarmungslos urteilendes Gericht, auf eine Nacht ohne Morgen, fremd ist.
Unser Ideal sieht ganz anders aus, aber wir wissen auch und nehmen es erneut zur Kenntnis, daß Religion ihre Schattenseiten hat. Sie kann Leben zunichte machen, statt es doch erst wahrhaft zu sich selbst zu führen. Und gerade diese Schatten, dieses Negative des Glaubens an Gott kommt für viele von uns heute, die gerne, aber eben als weltoffene und zugewandte Menschen über ihren Glauben und über Gott nachdenken, im Bild vom Jüngsten Gericht sehr klar zum Ausdruck.
Für sie ist es so, daß bei diesem Bild das Problem in ihm selbst liegt. Es leitet nicht in die richtige Richtung, und sie sagen deshalb von sich: Mein Glaube bedarf der Erwartung eines Jüngsten Gerichtes nicht. Zu meinem Ziel, meinem Streben als Christ – in traditioneller Sprache: zu meiner „Seligkeit“ – ist es nicht erforderlich.
II.
Daß die Vorstellung vom Jüngsten Gericht für den christlichen Glauben nicht erforderlich sei, haben viele neuere Theologen mehr oder weniger offen ausgesprochen. Der bekannteste ist Friedrich Schleiermacher. Ihn haben im übrigen schon in sehr jungen Jahren, als er noch Schüler einer herrnhutischen Erziehungsanstalt war, größte Zweifel daran geplagt, ob man wirklich, wie es die kirchliche Lehre verlangte, glauben solle, daß das Jüngste Gericht für alle „Ungläubigen“ die ewige Verdammnis bedeute? Er jedenfalls konnte sich das nicht zueigen machen, und mehr und mehr kam er dahin, es auch nicht zu wollen. Am Ende hat dieser Punkt ihn über seine religiöse Herkunftswelt hinausgetrieben und so dann doch, wenn auch auf paradoxe Weise, zu einer Befreiung geführt.
Hinweisen könnte man schließlich auch noch auf eine gewisse Besonderheit der Richterrolle Christi bei jenem Gerichtstag, mindestens, was das Johannesevangelium betrifft. Dort heißt es ja, Christus sei von Gott nicht in die Welt gesandt, „daß er die Welt richte, sondern daß die Welt durch ihn selig werde“ (Joh 3, 17; vgl. Lk 19, 10). „Wer an ihn glaubt, der wird nicht gerichtet; wer aber nicht glaubt, der ist schon gerichtet, denn er glaubt nicht an den Namen des eingeborenen Sohnes Gottes. Das ist aber das Gericht, daß das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht; denn ihre Werke waren böse“ (Joh 3, 18-19). Hier wird das Gericht denn doch sehr anders, gerade nicht endzeitlich, sondern „präsentisch“ vorgestellt. Und diese Ausrichtung auf das Jetzt finden wir auch in unserem Abschnitt, wenn Jesus sagt: „Ich bin zum Gericht auf diese Welt gekommen, auf daß, die da nicht sehen, sehend werden, und die da sehen, blind werden.“
Alles das kann man anführen. Und hat es nicht wirklich etwas Skurriles, um das Mindeste zu sagen, wenn uns dann wieder andere Texte versichern, die Gläubigen, insbesondere die Märtyrer, dürften sich auf den Tag des Gerichts freuen im Wissen, daß ihre Erlösung naht (Lk 21, 28), da der wiederkommende Christus die Strafe am Kreuz bereits getragen habe (Mt 8, 17)? Von der bildreichen Darstellung des Gerichts in der Apokalypse des Johannes am Ende des Neuen Testamentes oder den nicht selten ziemlich blutigen Ausgestaltungen in der Geschichte der christlichen Kunst will ich dabei noch nicht einmal reden.
Insoferne gehört der Komplex „Jüngstes Gericht“ oder allgemeiner: Endzeitgericht tatsächlich zu denjenigen Bereichen der überlieferten christlichen Glaubens- und Sprachwelt, die mit recht problematisiert werden. Die Frage, ob es sich dabei nun um ein schlechterdings unverzichtbares, substantielles Stück handelt oder nicht, scheint mir offen zu sein. Auch dies muß letztlich jeder für sich selbst entscheiden, wie man ja generell (jedenfalls als Protestant) dazu aufgerufen ist, in eine Bewegung des bewußten Umganges mit dem Glauben einzutreten. Ein Glaube, der nicht denkt, ist Aberglaube.
Nun bleibt aber der Umstand bestehen, daß viele biblische Texte, alt- und neutestamentliche, mit großem Ernst von einem solchen Gericht sprechen. Darüber kann man nicht einfach hinweggehen. Worin besteht aber dann, wenn es doch eine Reihe nicht unwesentlicher Bedenken gibt, der Sinn dieses Gedankens? Läßt sich die messianische Herrschaft, das Reich Gottes nur denken, wenn man diese Eingangsschwelle gleich mitdenkt und ihre Notwendigkeit gelten läßt?
Gewiß ist das wohl nicht von der Hand zu weisen. Das endzeitliche Reich ist ja eines der Gerechtigkeit. Es handelt sich um eine Gegenwirklichkeit, in der das herrliche Dasein des paradiesischen Ursprungs wiederhergestellt wird (vgl. Jes 11, 1-9). Das „Urteil“, das da gesprochen werden soll, folgt nicht den weltlichen Maßstäben, denen wir uns in unserem Dasein beugen und die wir selbst jeden Tag wieder bekräftigen und bestätigen. Sondern es verwirklicht die Idee der Gerechtigkeit.
Wenn nun dann aber nicht Gerechtigkeit schon tatsächlich über allem steht, eben auch über dem Eintreten des Gottesreiches, dann bleibt das nur eine leere Phantasie. Es kann doch wohl nicht gleichgültig sein, welchen Grundsätzen man hier, im „diesseitigen“ Leben, gefolgt ist, was man sich hat „zuschulden“ kommen lassen, ja, welche Untaten man gegebenenfalls angehäuft hat, wenn von einer neuen Wirklichkeit nach dem Gerechtigkeitsprinzip die Rede ist.
Dies will ich gar nicht weiter ausführen. Es bezieht sich zu sehr auf andere, auf Heinrich Himmler und so weiter – und das ist mir in dem heutigen Zusammenhang ein zu schwieriges Thema, als daß ich darauf nebenher zu sprechen kommen wollte. Ich möchte statt dessen lieber von uns sprechen, die wir doch immerhin den Anspruch haben, auch jetzt schon unser Leben nach den Grundsätzen der Güte und Gerechtigkeit zu führen.
Ich komme gleich zum entscheidenden Punkt. Meiner Ansicht nach, sollten wir es uns sehr gut überlegen, bevor wir zu der Auffassung gelangen, es handele sich hier nicht um einen wichtigen Bestandteil des christlichen Glaubens. Der Gedanke an das endzeitliche Gericht spielt eine Rolle, er hat Bedeutung. Und zwar gerade, wenn wir von dem Leben her denken, das zu führen uns aufgetragen ist.
Gericht heißt: Rechenschaft geben. Es heißt: sich verantworten müssen, für sich einstehen und sich der Konfrontation mit der eigenen Biographie stellen. Es ist gut, meine ich, sein Tun und Lassen unter die Maßgabe zu stellen, man werde zu gegebener Zeit „Rechenschaft“ zu geben haben. Ich setze das Wort in Anführungszeichen, weil es ja aus einer buchhalterischen Denkweise stammt. Der Aspekt der Rechnung, also auch der Be-Rechnung, scheint mir unpassend für das zu sein, worum es uns geht. Wohl aber handelt es sich um eine Art von Rechtfertigung: Man soll einstehen können für sich selbst, einstehen können für das Einzelne und das Ganze des Lebens, das man geführt hat.
Das kann etwa auch bedeuten, daß ich sage (beziehungsweise dann sagen werde): Unter den damals mir bekannten Umständen und in der Situation, in der ich mich seinerzeit befunden habe, schien es mir so richtig oder doch wenigstens angemessen, wenn nicht gar notwendig gewesen zu sein. Vielleicht muß ich sogar hinzufügen: Schon wenig später, ja unmittelbar danach, als dies oder das eintrat oder ich weiteres erfuhr, was mir zuvor unbekannt geblieben war, erkannte ich, daß ich besser anders gehandelt hätte, doch damals eben war ich nicht in dieser Lage. So etwa stelle ich mir das vor. Und dann, wenn es um solche Rechenschaft geht, wird es gewiß auch so sein, daß ich uneingeschränkt einräumen muß: Ich habe damals falsch gehandelt. Ich wußte es im Augenblick des Tuns, und ich habe es dennoch getan.
Ich meine, daß es durchaus von Bedeutung ist, eine solche „Stunde der Abrechnung“ gleichsam in seinen Plan aufzunehmen. Wer sein Leben führt im Bewußtsein, dies sei „eines Tages“ von ihm gefordert, hat einen Bewegungsvorsprung. Der Gedanke daran kann wohl zwar auch zu einer Belastung werden. Aber das gilt ja im Grunde von jeder religiösen Vorstellung und Überzeugung, wenn man sich in sie hineinsteigert und den Zusammenhang aus den Augen verliert.
Mehr noch aber – und deshalb spreche ich von einem „Vorsprung“ – ist von Gewicht: Er verhilft ihm, womöglich in jedem Moment seines Daseins, zu einem ganz anderen Umgang mit dem eigenen Leben. Es gibt ihm einen viel klareren Blick auf sich selbst und treibt dazu an, sein Leben wirklich zu führen, statt sich von den Pflichten des Tages, den Neigungen des Herzens oder den Bedürfnissen des Körpers immer nur lenken zu lassen. Das ist nicht wirkliche Lebensführung; sondern erst, wenn ich mit Klarheit und Offenheit mich selbst im Auge habe, wenn ich mir bewußt mache, daß es um etwas geht, wenn ich, wie es in Psalm 39, 5 heißt, „ein Ziel habe“, dann kann man davon sprechen.
Das aber ist es ja, was wir als Christen wollen. Die größte Gefahr besteht darin, sich an das Nichtige zu verlieren. „Zerstreuung“ ist dafür das Stichwort. Wie unermeßlich groß ist die Zahl an Versuchungen in dieser Richtung. Hinter der Zerstreuung lauert das wahrhaft Dämonische, das Nichts, das Irrationale und Böse. Wer sich hingegen seinen Aufgaben widmet, verläßlich ist, seine Dinge mit Verantwortung und im Bewußtsein des Guten und Gerechten versieht, ganz gleich, wo er steht und was er zu tun hat, der ist vor jener Gefahr gewappnet. Dessen Leben hat Tiefe und Bedeutung, und ich glaube nicht, daß er dann einer Stunde mit Sorge entgegensehen müßte, in der Rechenschaft gefordert wird.
Tiefe und Bedeutung – das ist der Anspruch, den wir an uns selbst haben. Es ist dies ein unverzichtbarer Anspruch. Es gibt auch keinen Grund, darin etwas Künstliches und Gewolltes zu sehen, sondern, recht betrachtet, in diesem Streben ist das Grundgefühl des christlichen Lebens ausgedrückt. Man braucht nur das Vater Unser zu sprechen, und indem man das tut, ruft man sich die Mahnung an sich selbst wieder ins Gedächtnis. Jedes Lied des Gesangbuches, jede Stunde aufmerksamer Bibellektüre, jeder besuchte Gottesdienst, jedes ernsthafte christliche Gespräch ruft mir in Erinnerung: Sieh’ Dich realistisch an; gib Dich nicht dem Augenblick hin; sei dir bewußt, daß es um etwas geht.
Nun mögen Sie sagen: Soll man denn etwa immer und jederzeit auf Haltung achten? Soll man seinen Tag wirklich in solch einer Stimmung hinbringen, die ja doch irgendwie militärisch anmutet? Das Leben findet doch nicht auf einem Kasernenhof statt. Das ist sicher richtig, und auch ich selbst genüge dem Anspruch nur höchst ungenügend. Ich kenne auch die Notwendigkeit der Entspannung und des unbeschwerten Dahintreibens. Aber mir ist doch selbst dann das Ziel nicht ganz aus dem Blick entschwunden.
Die eigentliche Unzulänglichkeit besteht aber darin, daß man sich eben immer wieder erst selbst ermahnen muß und also in einem Zwiespalt bleibt. Etwas ganz anderes wäre es, wenn einem der Antrieb zu einem geregelten und in diesem Sinne vernünftigen Leben zu etwas Selbstverständlichem geworden ist. Das ist gelingendes Leben. Solange man hingegen an der Vorstellung festhält, gut sei es, abends bei einem schönen Glas Wein und einer prächtigen Zigarre in einem Lehnsessel zu Hause in aller Ruhe dazusitzen, vielleicht noch mit dem Hund zu Füßen, solange läuft man auf einer faschen Bahn.
Man muß eine Beziehung zu sich selbst aufbauen. Sonst geht gar nichts. Ich habe inzwischen gelernt, daß es eine irrige Vorstellung ist, man könne über sich selbst wie ein Diktator herrschen. Diese Haltung führt bloß dazu, daß ich permanent entmutigt werde und nach ganz kurzer Zeit schon erschöpft alle guten Vorsätze fallen lasse, weil es ja doch nicht funktioniert, bis dann ein neuer Schub kommt und die Sache von neuem anhebt. Erst, wenn man sich selbst respektvoll behandelt, kann man selbstständig werden und sich als der, der man ist, entfalten. In diesem Sinne muß man sich als einen Partner betrachten, mit dem man gerne zusammenarbeitet. Wenn man sich selbst nicht mag, dann ist auch das Streben nach „Tiefe und Bedeutung“ aussichtslos. –
Der Gedanke an ein endzeitliches Gericht gibt uns den Maßstab für das ganze Tun und Treiben, das uns jeden Tag wieder so sehr beschäftigt. Er kann wie ein Richtungsanzeiger sein, der uns aus dem Getriebe herausleitet, der uns ein sicheres Bewußtsein gibt für Wichtig und Nicht-so-wichtig. Der Gerichtsgedanke, also die Vorstellung, ich müsse einstehen können für das, was ich tue, hilft mir, meine Dinge in Ordnung zu halten, mich zu beobachten, anstatt daß ich alles einfach so laufen lasse und irgendwie sehe, daß ich mitkomme.
Je selbstverständlicher mir dieser Gedanke ist, desto leichter wird es auch fallen, nicht immerzu nur von „Tiefe und Bedeutung“ zu sprechen, sondern dem Leben wirklich eine entsprechende Gestalt zu geben. Ich denke dann gar nicht so sehr an diese Sache selbst, sondern ich lebe einfach im Bewußtsein meiner Verantwortung vor mir und den anderen. Das aber ist das Wesentliche, wenn wir unser Leben nach dem Maßstab der Güte und Gerechtigkeit, als Christen und aus christlichem Geist führen wollen.
Amen.
Verwendete Literatur:
Jürgen Becker: Das Evangelium nach Johannes. Teilband 1: Kapitel 1 – 10 (Ökumenischer Taschenbuchkommentar zum Neuen Testament. Band 4 / 1 / Gütersloher Taschenbücher Siebenstern. Band 505), Gütersloh 1979.
Franz Kafka: Briefe an Felice [Bauer] und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit. Herausgegeben von Erich Heller und Jürgen Born. Durchgesehene Taschenbuchausgabe (Fischer Taschenbuch. Band 1697), Frankfurt am Main 1986. (Die angeführte Passage findet sich dort auf den Seiten 755 und 756; die Herausgeber weisen noch auf eine zugehörige Tagebucheintragung von September / Oktober 1917 sowie einen Brief an Max Brod von Anfang Oktober desselben Jahres hin.)
„Es kam vor Jesus, daß sie ihn ausgestoßen hatten. Und da er ihn fand, sprach er zu ihm: Glaubst du an den Sohn Gottes? Er antwortete und sprach: Herr, welcher ist’s? auf daß ich an ihn glaube. Jesus sprach zu ihm: Du hast ihn gesehen, und der mit dir redet, der ist’s.Er aber sprach: HERR, ich glaube, und betete ihn an.
Und Jesus sprach: Ich bin zum Gericht auf diese Welt gekommen, auf daß, die da nicht sehen, sehend werden, und die da sehen, blind werden. Und solches hörten etliche der Pharisäer, die bei ihm waren, und sprachen zu ihm: Sind wir denn auch blind? Jesus sprach zu ihnen: Wärt ihr blind, so hättet ihr keine Sünde; nun ihr aber sprecht: ‚Wir sind sehend’, bleibt eure Sünde.“
Liebe Gemeinde,
unser Text führt uns in ein ernstes Gebiet. Es geht um ein Leben mit offenen Augen, in wachsamem Geist geführt und von Klarheit durchdrungen, und zwar Klarheit über das, worauf es ankommt. Verbunden wird das mit der Rede vom „Gericht“, als dessen Richter Jesus sich selbst bezeichnet. Er sei „zum Gericht auf diese Welt gekommen, auf daß, die da nicht sehen, sehend werden, und die da sehen, blind werden“.
Die kleine vorangehende Notiz über die Begegnung mit dem Ausgestoßenen wirkt wie eine Hinführung, eine Art vorweggenommener Illustration, und das Christus-Bekenntnis, das er ablegt, nachdem ihm die Augen geöffnet worden sind, ist gewissermaßen die einleitende Rechtfertigung des im Grunde ja maßlosen Anspruches, den der Evangelist Jesus hier in den Mund legt. Zugleich aber verbindet Johannes mit dem Gerichtsgedanken eine bestimmte Interpretation; sie leitet mich im späteren Teil meiner Ausführungen.
Ich möchte mich hierauf konzentrieren: das Gericht – sei dies nun eine endzeitliche Gesamtrechtfertigung des Einzelnen für all sein Tun und Lassen oder aber die universale Schlußabrechnung über die Gesamtheit des Daseins. Letzteres hat in der christlichen Tradition als „Jüngstes Gericht“ große Bedeutung gehabt, und die Nachwirkungen dieser Vorstellung sind bis heute gegenwärtig. Und doch ist das eine der Ideen unseres Glaubens, die stark an Gewicht verloren haben. Wir sind auf das Hier und Jetzt fixiert und versuchen darin, unser Bestes zu tun. Der pietistische Dauerappell an eine sich stets ihrer selbst bewußten Lebensgestaltung, motiviert aus dem Gedanken an die noch bevorstehende Forderung, von allem Rechenschaft ablegen zu müssen, ist uns unangenehm und fremd geworden. Bisweilen läuft uns dann wohl auch die Passage aus dem zweiten Artikel des Apostolischen Glaubensbekenntnisses: „er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters;
von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten“ beim Sprechen eher so mit unter, doch sind wir wenig geneigt, unser Nachdenken etwas genauer darauf zu lenken.
Auch mir selbst geht es immer wieder so. Der heutige Predigttext gibt aber Gelegenheit, es einmal anders damit zu halten. Immerhin ist unsere moderne Skepsis gegenüber dem Bild vom Gericht ja nun auch nicht völlig unbegründet. Das ist mein erster Punkt. Dann aber gibt es eben doch eine Seite an ihm, die man festhalten sollte, weil dies unmittelbar mit dem Wesentlichen zu tun hat, worum es uns als Christen in unserem christlichen Leben zu tun ist: ein Leben zu führen, das nicht sich verliert, sondern um das wirklich Wichtige kreist und jedenfalls um es weiß. Das wird mein zweiter Punkt sein.
I.
Weshalb ist uns der Gedanke an das Gericht, das „Jüngste Gericht“ oder auch das immerzu hier und heute an jedem Tag stattfindende Gericht, geführt durch das Gewissen und den moralischen Anspruch, nach Güte und Gerechtigkeit zu streben, aus dem Blick geraten?
Dafür scheint es mir vor allem zwei Gründe zu geben. Der eine ist: Dieser Gedanke, diese Vorstellung hat eine wahrhaft schauerliche Wirkung entfaltet und allzu unübersehbar den Glauben verzerrt und auf einen falschen Weg geleitet. Er hat die Freiheit begraben, zu der der Glaube doch zuallererst führen soll, und ungeheuer häufig zu Knechtung und Demütigung menschlichen Lebens geführt, und zwar sowohl einer Knechtung von außen wie auch von innen. Die Gerichtsvorstellung hat viel stärker zu wirklicher Sklaverei beigetragen als zu einer Befreiung der Seele.
Selbst noch das Jahrhunderte lang in millionenfachen unterdrückten Existenzen lebendige Sehnen nach einer göttlichen Bestrafung der Übeltäter und Gewalthaber, der Mörder ihrer Kinder und Zerstörer ihres Glückes ist von den Unterdrückern, Mördern und Zerstörern dazu benutzt worden, um tun zu können, was sie wollten. Nichts konnte ihnen gelegener kommen als eben diese Hoffnung bei den Opfern. Und es bedarf nur wenig, um zu sehen, weshalb eine obrigkeitlich beaufsichtigte kirchliche Verkündigung auch mit äußerster Intensität den Glauben an Himmel und Hölle, an Christus als den gewaltigen endzeitlichen Richter am Leben gehalten hat. Von einer emanzipatorischen Kraft, die den christlichen Glauben gerade doch so hell und lichtvoll macht, blieb da nichts übrig.
Das ist der eine Grund. Der andere liegt in den seelischen Verirrungen, die wir erblicken, wenn uns Menschen begegnen, deren innere Welt sich in Anknüpfung an den Gerichtsgedanken in den absonderlichsten Vorstellungen bewegt. Die Beispiele dafür sind unüberschaubar. Wieviel Selbstquälerei ist da wirksam, und wie schrecklich, wie demütigend geht es bei ihnen zu? Was aber hat das Gefühl schlechthinniger Verworfenheit mit dem christlichen Glauben zu tun? Und manche setzen sich dann auch in ihrer Not, mit einem krankhaften Behagen, geradezu selbst an die Stelle des Richters, maßen sich den Überblick und die definitive Urteilskraft an und verlieren dabei den Maßstab für ein Leben in der Wirklichkeit. Ich führe ein literarisch dokumentiertes Beispiel an:
„Ich bin ein lügnerischer Mensch, ich kann das Gleichgewicht nicht anders halten, mein Kahn ist sehr brüchig. Wenn ich mich auf mein Endziel hin prüfe, so ergibt sich, daß ich nicht eigentlich danach strebe, ein guter Mensch zu werden und einem höchsten Gericht zu entsprechen, sondern, sehr gegensätzlich, die ganze Menschen- und Tiergemeinschaft zu überblicken, ihre grundlegenden Vorlieben, Wünsche, sittlichen Ideale zu erkennen, sie auf einfache Vorschriften zurückzuführen, und mich in dieser Richtung möglichst bald dahin zu entwickeln, daß ich durchaus allen wohlgefällig würde, und zwar (hier kommt der Sprung) so wohlgefällig, daß ich, ohne die allgemeine Liebe zu verlieren, schließlich, als der einzige Sünder, der nicht gebraten wird, die mir innewohnenden Gemeinheiten offen, vor aller Augen, ausführen dürfte. Zusammengefaßt kommt es mir also nur auf das Menschengericht an und dieses will ich überdies betrügen, allerdings ohne Betrug.“ So Franz Kafka in einem Brief an seine Verlobte Felice Bauer vom Herbst 1917.
Mit solchen krassen Vorstellungen wollen wir nichts zu tun haben. Hier handelt es sich um Kompensation, um den imaginierten Ausgleich für Defizite, die tief in die Seele reichen. Dies sind Menschen, die von irgendwoher traumatisiert sind und in der Gerichtsmetapher Ersatz finden, wie ja überhaupt Kompensation einer der geradezu allgegenwärtigen Aspekte religiösen Lebens ist (und auch des menschlichen Lebens im Ganzen).
Dagegen hilft nur Aufklärung. Gerade hier hat man immer wieder Anlaß genug, an die Worte zu denken, mit denen Moses – jedenfalls in der Fassung Arnold Schönbergs – seine Botschaft zusammengefaßt hat: „Reinige deinDenken, lös es vom Wertlosen, weihe es Wahrem“ (Moses und Aron [1951 / 1954], I. Akt, 2. Szene).
Nun wird niemanden, der zu jenen Paranoikern gehört, ein solcher Aufruf beeindrucken. Er erreicht ihn gar nicht, weil er aus einer anderen Welt zu ihm tönt, in einer anderen Sprache. Aber es geht uns im Moment nicht um ein Therapieprogramm, sondern darum, zu beschreiben, weshalb uns nun unsererseits jede Versessenheit auf ein dereinst oder auch jetzt schon erbarmungslos urteilendes Gericht, auf eine Nacht ohne Morgen, fremd ist.
Unser Ideal sieht ganz anders aus, aber wir wissen auch und nehmen es erneut zur Kenntnis, daß Religion ihre Schattenseiten hat. Sie kann Leben zunichte machen, statt es doch erst wahrhaft zu sich selbst zu führen. Und gerade diese Schatten, dieses Negative des Glaubens an Gott kommt für viele von uns heute, die gerne, aber eben als weltoffene und zugewandte Menschen über ihren Glauben und über Gott nachdenken, im Bild vom Jüngsten Gericht sehr klar zum Ausdruck.
Für sie ist es so, daß bei diesem Bild das Problem in ihm selbst liegt. Es leitet nicht in die richtige Richtung, und sie sagen deshalb von sich: Mein Glaube bedarf der Erwartung eines Jüngsten Gerichtes nicht. Zu meinem Ziel, meinem Streben als Christ – in traditioneller Sprache: zu meiner „Seligkeit“ – ist es nicht erforderlich.
II.
Daß die Vorstellung vom Jüngsten Gericht für den christlichen Glauben nicht erforderlich sei, haben viele neuere Theologen mehr oder weniger offen ausgesprochen. Der bekannteste ist Friedrich Schleiermacher. Ihn haben im übrigen schon in sehr jungen Jahren, als er noch Schüler einer herrnhutischen Erziehungsanstalt war, größte Zweifel daran geplagt, ob man wirklich, wie es die kirchliche Lehre verlangte, glauben solle, daß das Jüngste Gericht für alle „Ungläubigen“ die ewige Verdammnis bedeute? Er jedenfalls konnte sich das nicht zueigen machen, und mehr und mehr kam er dahin, es auch nicht zu wollen. Am Ende hat dieser Punkt ihn über seine religiöse Herkunftswelt hinausgetrieben und so dann doch, wenn auch auf paradoxe Weise, zu einer Befreiung geführt.
Hinweisen könnte man schließlich auch noch auf eine gewisse Besonderheit der Richterrolle Christi bei jenem Gerichtstag, mindestens, was das Johannesevangelium betrifft. Dort heißt es ja, Christus sei von Gott nicht in die Welt gesandt, „daß er die Welt richte, sondern daß die Welt durch ihn selig werde“ (Joh 3, 17; vgl. Lk 19, 10). „Wer an ihn glaubt, der wird nicht gerichtet; wer aber nicht glaubt, der ist schon gerichtet, denn er glaubt nicht an den Namen des eingeborenen Sohnes Gottes. Das ist aber das Gericht, daß das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht; denn ihre Werke waren böse“ (Joh 3, 18-19). Hier wird das Gericht denn doch sehr anders, gerade nicht endzeitlich, sondern „präsentisch“ vorgestellt. Und diese Ausrichtung auf das Jetzt finden wir auch in unserem Abschnitt, wenn Jesus sagt: „Ich bin zum Gericht auf diese Welt gekommen, auf daß, die da nicht sehen, sehend werden, und die da sehen, blind werden.“
Alles das kann man anführen. Und hat es nicht wirklich etwas Skurriles, um das Mindeste zu sagen, wenn uns dann wieder andere Texte versichern, die Gläubigen, insbesondere die Märtyrer, dürften sich auf den Tag des Gerichts freuen im Wissen, daß ihre Erlösung naht (Lk 21, 28), da der wiederkommende Christus die Strafe am Kreuz bereits getragen habe (Mt 8, 17)? Von der bildreichen Darstellung des Gerichts in der Apokalypse des Johannes am Ende des Neuen Testamentes oder den nicht selten ziemlich blutigen Ausgestaltungen in der Geschichte der christlichen Kunst will ich dabei noch nicht einmal reden.
Insoferne gehört der Komplex „Jüngstes Gericht“ oder allgemeiner: Endzeitgericht tatsächlich zu denjenigen Bereichen der überlieferten christlichen Glaubens- und Sprachwelt, die mit recht problematisiert werden. Die Frage, ob es sich dabei nun um ein schlechterdings unverzichtbares, substantielles Stück handelt oder nicht, scheint mir offen zu sein. Auch dies muß letztlich jeder für sich selbst entscheiden, wie man ja generell (jedenfalls als Protestant) dazu aufgerufen ist, in eine Bewegung des bewußten Umganges mit dem Glauben einzutreten. Ein Glaube, der nicht denkt, ist Aberglaube.
Nun bleibt aber der Umstand bestehen, daß viele biblische Texte, alt- und neutestamentliche, mit großem Ernst von einem solchen Gericht sprechen. Darüber kann man nicht einfach hinweggehen. Worin besteht aber dann, wenn es doch eine Reihe nicht unwesentlicher Bedenken gibt, der Sinn dieses Gedankens? Läßt sich die messianische Herrschaft, das Reich Gottes nur denken, wenn man diese Eingangsschwelle gleich mitdenkt und ihre Notwendigkeit gelten läßt?
Gewiß ist das wohl nicht von der Hand zu weisen. Das endzeitliche Reich ist ja eines der Gerechtigkeit. Es handelt sich um eine Gegenwirklichkeit, in der das herrliche Dasein des paradiesischen Ursprungs wiederhergestellt wird (vgl. Jes 11, 1-9). Das „Urteil“, das da gesprochen werden soll, folgt nicht den weltlichen Maßstäben, denen wir uns in unserem Dasein beugen und die wir selbst jeden Tag wieder bekräftigen und bestätigen. Sondern es verwirklicht die Idee der Gerechtigkeit.
Wenn nun dann aber nicht Gerechtigkeit schon tatsächlich über allem steht, eben auch über dem Eintreten des Gottesreiches, dann bleibt das nur eine leere Phantasie. Es kann doch wohl nicht gleichgültig sein, welchen Grundsätzen man hier, im „diesseitigen“ Leben, gefolgt ist, was man sich hat „zuschulden“ kommen lassen, ja, welche Untaten man gegebenenfalls angehäuft hat, wenn von einer neuen Wirklichkeit nach dem Gerechtigkeitsprinzip die Rede ist.
Dies will ich gar nicht weiter ausführen. Es bezieht sich zu sehr auf andere, auf Heinrich Himmler und so weiter – und das ist mir in dem heutigen Zusammenhang ein zu schwieriges Thema, als daß ich darauf nebenher zu sprechen kommen wollte. Ich möchte statt dessen lieber von uns sprechen, die wir doch immerhin den Anspruch haben, auch jetzt schon unser Leben nach den Grundsätzen der Güte und Gerechtigkeit zu führen.
Ich komme gleich zum entscheidenden Punkt. Meiner Ansicht nach, sollten wir es uns sehr gut überlegen, bevor wir zu der Auffassung gelangen, es handele sich hier nicht um einen wichtigen Bestandteil des christlichen Glaubens. Der Gedanke an das endzeitliche Gericht spielt eine Rolle, er hat Bedeutung. Und zwar gerade, wenn wir von dem Leben her denken, das zu führen uns aufgetragen ist.
Gericht heißt: Rechenschaft geben. Es heißt: sich verantworten müssen, für sich einstehen und sich der Konfrontation mit der eigenen Biographie stellen. Es ist gut, meine ich, sein Tun und Lassen unter die Maßgabe zu stellen, man werde zu gegebener Zeit „Rechenschaft“ zu geben haben. Ich setze das Wort in Anführungszeichen, weil es ja aus einer buchhalterischen Denkweise stammt. Der Aspekt der Rechnung, also auch der Be-Rechnung, scheint mir unpassend für das zu sein, worum es uns geht. Wohl aber handelt es sich um eine Art von Rechtfertigung: Man soll einstehen können für sich selbst, einstehen können für das Einzelne und das Ganze des Lebens, das man geführt hat.
Das kann etwa auch bedeuten, daß ich sage (beziehungsweise dann sagen werde): Unter den damals mir bekannten Umständen und in der Situation, in der ich mich seinerzeit befunden habe, schien es mir so richtig oder doch wenigstens angemessen, wenn nicht gar notwendig gewesen zu sein. Vielleicht muß ich sogar hinzufügen: Schon wenig später, ja unmittelbar danach, als dies oder das eintrat oder ich weiteres erfuhr, was mir zuvor unbekannt geblieben war, erkannte ich, daß ich besser anders gehandelt hätte, doch damals eben war ich nicht in dieser Lage. So etwa stelle ich mir das vor. Und dann, wenn es um solche Rechenschaft geht, wird es gewiß auch so sein, daß ich uneingeschränkt einräumen muß: Ich habe damals falsch gehandelt. Ich wußte es im Augenblick des Tuns, und ich habe es dennoch getan.
Ich meine, daß es durchaus von Bedeutung ist, eine solche „Stunde der Abrechnung“ gleichsam in seinen Plan aufzunehmen. Wer sein Leben führt im Bewußtsein, dies sei „eines Tages“ von ihm gefordert, hat einen Bewegungsvorsprung. Der Gedanke daran kann wohl zwar auch zu einer Belastung werden. Aber das gilt ja im Grunde von jeder religiösen Vorstellung und Überzeugung, wenn man sich in sie hineinsteigert und den Zusammenhang aus den Augen verliert.
Mehr noch aber – und deshalb spreche ich von einem „Vorsprung“ – ist von Gewicht: Er verhilft ihm, womöglich in jedem Moment seines Daseins, zu einem ganz anderen Umgang mit dem eigenen Leben. Es gibt ihm einen viel klareren Blick auf sich selbst und treibt dazu an, sein Leben wirklich zu führen, statt sich von den Pflichten des Tages, den Neigungen des Herzens oder den Bedürfnissen des Körpers immer nur lenken zu lassen. Das ist nicht wirkliche Lebensführung; sondern erst, wenn ich mit Klarheit und Offenheit mich selbst im Auge habe, wenn ich mir bewußt mache, daß es um etwas geht, wenn ich, wie es in Psalm 39, 5 heißt, „ein Ziel habe“, dann kann man davon sprechen.
Das aber ist es ja, was wir als Christen wollen. Die größte Gefahr besteht darin, sich an das Nichtige zu verlieren. „Zerstreuung“ ist dafür das Stichwort. Wie unermeßlich groß ist die Zahl an Versuchungen in dieser Richtung. Hinter der Zerstreuung lauert das wahrhaft Dämonische, das Nichts, das Irrationale und Böse. Wer sich hingegen seinen Aufgaben widmet, verläßlich ist, seine Dinge mit Verantwortung und im Bewußtsein des Guten und Gerechten versieht, ganz gleich, wo er steht und was er zu tun hat, der ist vor jener Gefahr gewappnet. Dessen Leben hat Tiefe und Bedeutung, und ich glaube nicht, daß er dann einer Stunde mit Sorge entgegensehen müßte, in der Rechenschaft gefordert wird.
Tiefe und Bedeutung – das ist der Anspruch, den wir an uns selbst haben. Es ist dies ein unverzichtbarer Anspruch. Es gibt auch keinen Grund, darin etwas Künstliches und Gewolltes zu sehen, sondern, recht betrachtet, in diesem Streben ist das Grundgefühl des christlichen Lebens ausgedrückt. Man braucht nur das Vater Unser zu sprechen, und indem man das tut, ruft man sich die Mahnung an sich selbst wieder ins Gedächtnis. Jedes Lied des Gesangbuches, jede Stunde aufmerksamer Bibellektüre, jeder besuchte Gottesdienst, jedes ernsthafte christliche Gespräch ruft mir in Erinnerung: Sieh’ Dich realistisch an; gib Dich nicht dem Augenblick hin; sei dir bewußt, daß es um etwas geht.
Nun mögen Sie sagen: Soll man denn etwa immer und jederzeit auf Haltung achten? Soll man seinen Tag wirklich in solch einer Stimmung hinbringen, die ja doch irgendwie militärisch anmutet? Das Leben findet doch nicht auf einem Kasernenhof statt. Das ist sicher richtig, und auch ich selbst genüge dem Anspruch nur höchst ungenügend. Ich kenne auch die Notwendigkeit der Entspannung und des unbeschwerten Dahintreibens. Aber mir ist doch selbst dann das Ziel nicht ganz aus dem Blick entschwunden.
Die eigentliche Unzulänglichkeit besteht aber darin, daß man sich eben immer wieder erst selbst ermahnen muß und also in einem Zwiespalt bleibt. Etwas ganz anderes wäre es, wenn einem der Antrieb zu einem geregelten und in diesem Sinne vernünftigen Leben zu etwas Selbstverständlichem geworden ist. Das ist gelingendes Leben. Solange man hingegen an der Vorstellung festhält, gut sei es, abends bei einem schönen Glas Wein und einer prächtigen Zigarre in einem Lehnsessel zu Hause in aller Ruhe dazusitzen, vielleicht noch mit dem Hund zu Füßen, solange läuft man auf einer faschen Bahn.
Man muß eine Beziehung zu sich selbst aufbauen. Sonst geht gar nichts. Ich habe inzwischen gelernt, daß es eine irrige Vorstellung ist, man könne über sich selbst wie ein Diktator herrschen. Diese Haltung führt bloß dazu, daß ich permanent entmutigt werde und nach ganz kurzer Zeit schon erschöpft alle guten Vorsätze fallen lasse, weil es ja doch nicht funktioniert, bis dann ein neuer Schub kommt und die Sache von neuem anhebt. Erst, wenn man sich selbst respektvoll behandelt, kann man selbstständig werden und sich als der, der man ist, entfalten. In diesem Sinne muß man sich als einen Partner betrachten, mit dem man gerne zusammenarbeitet. Wenn man sich selbst nicht mag, dann ist auch das Streben nach „Tiefe und Bedeutung“ aussichtslos. –
Der Gedanke an ein endzeitliches Gericht gibt uns den Maßstab für das ganze Tun und Treiben, das uns jeden Tag wieder so sehr beschäftigt. Er kann wie ein Richtungsanzeiger sein, der uns aus dem Getriebe herausleitet, der uns ein sicheres Bewußtsein gibt für Wichtig und Nicht-so-wichtig. Der Gerichtsgedanke, also die Vorstellung, ich müsse einstehen können für das, was ich tue, hilft mir, meine Dinge in Ordnung zu halten, mich zu beobachten, anstatt daß ich alles einfach so laufen lasse und irgendwie sehe, daß ich mitkomme.
Je selbstverständlicher mir dieser Gedanke ist, desto leichter wird es auch fallen, nicht immerzu nur von „Tiefe und Bedeutung“ zu sprechen, sondern dem Leben wirklich eine entsprechende Gestalt zu geben. Ich denke dann gar nicht so sehr an diese Sache selbst, sondern ich lebe einfach im Bewußtsein meiner Verantwortung vor mir und den anderen. Das aber ist das Wesentliche, wenn wir unser Leben nach dem Maßstab der Güte und Gerechtigkeit, als Christen und aus christlichem Geist führen wollen.
Amen.
Verwendete Literatur:
Jürgen Becker: Das Evangelium nach Johannes. Teilband 1: Kapitel 1 – 10 (Ökumenischer Taschenbuchkommentar zum Neuen Testament. Band 4 / 1 / Gütersloher Taschenbücher Siebenstern. Band 505), Gütersloh 1979.
Franz Kafka: Briefe an Felice [Bauer] und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit. Herausgegeben von Erich Heller und Jürgen Born. Durchgesehene Taschenbuchausgabe (Fischer Taschenbuch. Band 1697), Frankfurt am Main 1986. (Die angeführte Passage findet sich dort auf den Seiten 755 und 756; die Herausgeber weisen noch auf eine zugehörige Tagebucheintragung von September / Oktober 1917 sowie einen Brief an Max Brod von Anfang Oktober desselben Jahres hin.)
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