Das Heulen des Feuermelders ernst nehmen… - Predigt zu Jesaja 58,1-9a von Marco Müller
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Das Heulen des Feuermelders ernst nehmen… - Predigt zu Jesaja 58,1-9a von Marco Müller

Das Heulen des Feuermelders ernst nehmen…

Ich stand senkrecht im Bett! Ein verwirrter Blick auf den Radiowecker bestätigte: es war lange noch nicht Morgen! 2 Uhr 30! Auf dem Flur war der Feuermelder losgegangen. Ein selbst im Schlafzimmer durch Mark und Bein gehendes Heulen hatte mich aus dem Schlaf gerissen. Ich verlor keine Zeit, wühlte mich aus dem Bett, tapste hinaus auf den Flur und schaute zur Decke: Dort oben blinkte und heulte aufgeregt das Leben rettende Gerät. Von Feuer   ––   Gott sei Dank   ––   keine Spur. Kein Brandgeruch, nichts. Nur dieses Trommelfell zerschneidende Heulen…  ––  ‚Wie geht das wieder aus?‘ Ich stellte mich auf die vierte Stufe der Treppe und konnte gerade so mit dem Arm an die Zimmerdecke langen. Ein langer Druck auf den kleinen Taster sollte reichen, hatte ich seinerzeit in der Anleitung gelesen – aber nichts passierte, der Alarmton hielt an. Ich wurde unruhig. Die Nachbar, was würden die Nachbarn denken? Und hoffentlich wacht der Kleine nicht auf! Mein Gott, ich will schlafen! Es ist 2 Uhr 30! Also griff ich nach dem ganzen Gerät. Ein kräftiger Ruck – und ich hatte es samt Dübel aus der Decke gerissen. Ich zerrte die Batterie aus der Halterung… Das Geheul wurde leiser wie ein Plattenspieler, dem man den Stecker gezogen hat. Bis endlich Ruhe war. Gott sei Dank!

Ich lese aus dem Buch des Propheten Jesaja:

Rufe aus voller Kehle, halte nicht zurück!
Erhebe deine Stimme wie ein Horn und verkünde meinem Volk sein Vergehen; und dem Haus Jakob seine Sünden! Zwar befragen sie mich Tag für Tag, und es gefällt ihnen, meine Wege zu kennen. Wie eine Nation, die Gerechtigkeit übt und das Recht ihres Gottes nicht verlassen hat, fordern sie von mir gerechte Entscheidungen, haben Gefallen daran, Gott zu nahen.
– »Warum fasten wir, und du siehst es nicht? …demütigen uns, und du merkst es nicht?«
Siehe, am Tag eures Fastens geht ihr euren Geschäften nach und drängt alle eure Arbeiter. Siehe, zu Streit und Zank fastet ihr, und um mit gottloser Faust zu schlagen. Zurzeit fastet ihr nicht so, dass ihr eure Stimme in der Höhe zu Gehör brächtet. Ist ein Fasten, an dem ich Wohlgefallen habe, etwa wie dies: Ein Tag, an dem der Mensch sich demütigt? Seinen Kopf zu beugen wie eine Binse und sich in Sacktuch und Asche zu betten? Nennst du das ein Fasten und einen dem Herrn wohlgefälligen Tag?
Ist nicht vielmehr das ein Fasten, an dem ich Gefallen habe: Ungerechte Fesseln zu lösen, die Knoten des Joches zu öffnen, gewalttätig Behandelte als Freie zu entlassen und dass ihr jedes Joch zerbrecht? Besteht es nicht darin, dein Brot dem Hungrigen zu brechen und dass du heimatlose Elende ins Haus führst? Wenn du einen Nackten siehst, dass du ihn bedeckst und dass du dich deinem Nächsten nicht entziehst?
Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell sprossen. Deine Gerechtigkeit wird vor dir herziehen, die Herrlichkeit des Herrn wird deine Nachhut sein. Dann wirst du rufen und der Herr wird antworten. Du wirst um Hilfe schreien, und er wird sagen: Hier bin ich![1]

»Erhebe deine Stimme wie ein Horn und verkünde…«
Liebe Gemeinde, es durchdringt Mark und Bein, was Jesaja den Menschen da zuruft. Es heult alarmierend. Ein irritierender, die Trommelfelle zerschneidender Ton liegt in der Luft – und lässt sich nicht einfach samt Dübel rausreißen.

Heute, am Sonntag Estomihi, sozusagen am Tor in die Fastenzeit, drei Tage vor Aschermittwoch, da höre ich diese Generalkritik am Fasten Israels mit offenen Ohren… Und ich will nicht der Versuchung erliegen, zu schnell einzustimmen in die Überschrift der Lutherbibel und vom „falschen und echten Fasten“ reden, so als wüsste ich es so viel besser. Das ist ja verführerisch!

Israel hält sich an Gott. Es sucht Tag für Tag seine Nähe. Es befragt ihn, ruft zu ihm, versucht in ihn zu dringen und seine Wege zu verstehen. Jesaja lässt keinen Zweifel daran: Israel ist orientiert. Es hat einen klaren Blick auf Gott, es ringt mit ihm, wie vielleicht nur Israel das kann. Ich habe keinen Grund an der Wahrhaftigkeit dieses Suchens zu zweifeln!  Gerade deshalb klingt die Stimme Jesajas ja so schrill. Auch in meinen Ohren…

Auf geheimnisvolle Weise teilen wir womöglich die gleichen Perspektiven, die gleichen Fragen und Sehnsüchte; und erhoffen in gleicher Weise, dass da einer antwortet: Hier bin ich!

Sie blickt ängstlich auf die kleine Kerze, die sie für ihn angezündet hat. Vorsichtig drückt sie sie in den Sand der Schale neben dem Kreuz. Sie schließt die Augen. Ohne dass sie das geplant hat, finden ihre Hände zueinander. Sie ist es nicht gewohnt zu beten. Sie weiß auch nicht, wie sie anfangen soll. Und so horcht sie nur in die große Stille dieser Kirche. Und füllt sie aus mit ihrer Sehnsucht und ihren Fragen. Welches Beten könnte ehrlicher sein? „Warum, Gott? Warum lässt du all das zu? Ich habe solche Angst.“ Es sind mehr die Gefühle, die zu Worten werden als die Gedanken. So versucht sie in Gott zu dringen und seine Wege zu verstehen. Ganz wahrhaftig, ganz nah dran. Sie würde so gern hören: Hier bin ich, hab keine Angst!

Die Stimme Jesajas geht durch Mark und Bein. Sie stört die Ruhe, die ich vor Gott suche. Ich nenne es nicht immer Fasten, aber dieses Suchen nach innerer Ruhe Tag für Tag, dieses Gottesdienst-Feiern und gerade dort die Kraft für eine neue Woche tanken – das kenne ich doch auch. Und ich kenne auch die Sieben Wochen Ohne in der Passionszeit, die mich erden sollen; durch die ich manchen Überfluss hinter mir lassen will, um wieder konzentriert zu sein auf den, der die Fülle ist… Auch ich versuche mich Gott zu nahen; im Stammeln eines Gebets, indem ich meine Sehnsucht ernst nehme.

Auf geheimnisvolle Weise teilen wir womöglich Israels Perspektiven. Die Fragen und Sehnsüchte; und erhoffen, dass da einer auf all unsere Fragen antwortet: Hier bin ich!

Aber heute muss ich mir etwas gefallen lassen! »Erhebe deine Stimme wie ein Horn und verkündige…« Es ist, als käme einer und wollte uns die Brillen zurechtrücken. Nicht abreißen und wegwerfen – so höre ich das nicht; aber doch abnehmen, putzen und neu aufsetzen. Schaut, seht noch einmal hindurch: bleibt nicht allein bei Euch, höre ich. Als korrigierte mir einer die Perspektive. Das tut manchmal weh. Petrus wüsste Lieder davon zu singen, wie weh das tun kann, wenn einer dir neue Perspektiven zeigt: »…du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist«[2]

‘Ihr fastet und senkt die Köpfe; ihr faltet die Hände und verliert Euch im Gebet. Und überseht, was es doch zu sehen gäbe…‘ Plötzlich korrigiert einer meine Perspektive und ich beginne schärfer zu sehen. Womöglich Zusammen­hänge, die ich gar nicht so scharf sehen wollte! Ich höre Worte von ungerechten Fesseln, von Unterjochten, von Misshandelten und Hungrigen, von Heimatlosen. Das ganze Elend dieser Welt wird aufgerufen und steigt vor mir empor. Bedrohlich und überwältigend und lässt mich erstarren. Wie sollte ich da nicht ohnmächtig in mir zusammensinken!?

Das „Schlimme“ ist: durch diese frisch geputzte Brille kommen Perspektiven in den Blick, die Zusammenhänge aufzeigen. »Am Tag Eures Fastens geht ihr euren  Geschäften nach und drängt alle eure Arbeiter; …zu Streit und Zank fastet ihr; …um mit gottloser Faust zu schlagen.« Ich hänge mit drin! Ich bin Teil dieses Systems! Das zu erkennen, muten diese Worte mir zu! Die Bedrängten dieser Welt und ich – wir sind im Zahnrädersystem dieser Welt miteinander verbunden. Die leidenden Kreaturen und ich, da gibt es Beziehungen, die ich nicht wegdiskutieren kann! ‘…ihr fastet und macht ansonsten so weiter wie bisher…!‘

Es ist schräg, wenn ich in Tränen vor dem Fernseher sitze und das Leid der Hühner in den Fabrikhallen von Wiesenhof und Co beklage, während ich tags drauf die halben Broiler für 2 Euro 49 an der Imbissbude kaufe. Es ist schräg, fassungslos den Kopf zu schütteln, wenn davon berichtet wird, wie kleine Bauernfamilien in Lateinamerika auf den Koka-Anbau als lukrative Quelle setzen, während ich tags darauf zum günstigen Kaffee greife, durch den vernünftige Löhne systematisch verhindert werden. Es ist sogar schräg, auf die Waffengewalt korrupter Staatschafs zu schimpfen, während die deutschen Waffenexporte in alle Welt Jahr für Jahr Spitzenwerte toppen und so auch meinen Lebensstandard heben helfen. Ich hänge mit drin in den Strukturen der Ungerechtigkeit! Ich bin Teil dieses Systems – auch wenn ich mir das nie ausgesucht habe! Das tut weh.

Diese Perspektive muss sich mir gefallen lassen! Die Bedrängten und ich – wir sind im Zahnräderwerk dieser Welk verbunden. Die leidenden Kreaturen – sie existieren nicht unabhängig von mir…

Ich bin Leben, das Leben will. Inmitten von Leben, das leben will. Albert Schweitzers Kernsatz gilt genau hier. Und Jesaja erinnert: Alles hängt zusammen – die Fesseln, mit denen wir beizeiten unsere Blicke festhalten, um nicht zu weit hinter den Horizont zu gucken, sind nicht selten die Enden derselben Fesseln, die andere Menschen und Kreaturen binden… Das zu hören, tut weh. Es ist ein alarmierendes Heulen in meinen Ohren. Dabei wollte ich doch Ruhe finden. Wollte horchen, ob Gott antworten würde auf mein Suchen und Fragen… Ob er endlich Heil bringen würde für mich und die, für die ich bete… Stattdessen weckt er mich auf durch dieses heulende Signal: »Rufe aus voller Kehle, halte nicht zurück!«

Christus-Pavillon. Hannover im Jahr 2000. Ich war übers Expo-Gelände geschlendert. Und stand schließlich in jenem riesigen Kubus  am Messeschnellweg. Hoch und klar, weit und offen. Und still. In diesen Gottesdienst-Raum trat ich und näherte mich langsam dem Altar. Plötzlich fiel mein Blick auf das Kreuz, ein Kruzifix. Jedenfalls in Teilen: Ein Torso hing dort. Christus am Kreuz, den Blick gesenkt, der Körper ausgemergelt, kraftlos. Eine Schnitzerei aus dem Mittelalter. Der Zahn der Zeit hatte an ihm genagt. Vielleicht auch die Holzwürmer. Ihm fehlten die Beine. Und die Hände. Gottes Sohn – der Füße beraubt, die ihn  zu den Menschen tragen könnten; beraubt der Arme, nach deren Umarmung doch auch ich mich so oft sehne! ‚Hier bin ich.‘ Auch ich will das hören!

Geht hin in alle Welt, schoss mir durch den Kopf. Hier im Christus-Pavillon auf der Weltausstellung. Und plötzlich begann dieser Torso zu sprechen, zu sprechen durch das Werk der Holzwürmer: ‘Geht hin in alle Welt! Ihr seid meine Füße; ihr seid meine Hände. Durch Euch will ich wirken. Durch Euch soll es hell werden. Auch durch Euch. Stellt euer Licht nicht unter einen Scheffel.‘

Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell sprossen. Deine Gerechtigkeit wird vor dir herziehen…

Liebe Gemeinde, all das geschieht ja bereits. Daran glaube ich. All das ist ja längst auf dem Weg. Es gibt keinen Grund zusammenzubrechen vor der Größe dieser Aufgabe. Die Morgenröte  ist ja schon zu sehen – immer wieder wird die Passionszeit vom Osterlicht durchbrochen. Heilung ereignet sich unter uns – manchmal in kleinen Zeichen, die alles auf den Kopf stellen. Und Gottes Gerechtigkeit geht doch längst vor uns her: sie stützt uns, wo wir fallen; sie hilft uns auf, wo wir scheitern; er sucht uns immer wieder, wo wir ihn vergessen haben.

Aber in all dem gilt es, nicht zu vergessen: Ihr werdet gebraucht! Ihr seid viele, ihr seid nicht allein – und auch auf Euch kommt es an! Ihr tragt Verantwortung, weil Gott euch das zutraut! Er baut auf Euch. Glaubt nicht die relativierenden Worte, dass all das egal sei. Traut nicht dem Kraft zehrenden Gefasel vom Tropfen auf den heißen Stein. Lasst Euch nicht irritieren von denen, die die Mitarbeit am Reich Gottes abqualifizieren. Von jenen, die sich Worte ausdenken, um zu diskreditieren: Gutmenschentum – als wäre daran etwas von Übel, das Gute zu suchen. Tugendterror[3] – als wäre es falsch, seinem Handeln hehre Ziele zu geben…

Ihr seid meine Füße; ihr seid meine Hände. Durch Euch will ich wirken. Geht hin in alle Welt, höre ich Christus sagen. Dieses Mal will ich das Heulen des Feuermelders nicht aus der Wand reißen. Denn es brennt ja tatsächlich. Riecht Ihr es nicht? Es gibt Zeiten, in denen ist es dran, sich neue Perspektiven zeigen zu lassen, bevor man wieder Ruhe finden darf. Da ist es dran, neue Wege zu gehen. Zu meinem Nächsten, zu denen, die gebeugt sind, die die Fesseln dieser Welt tragen. Diese Wege können sehr unterschiedlich aussehen… Ich spüre, wie ich Gottes Geistkraft brauche, um sie phantasievoll betreten zu können.

Noch immer sitzt sie vor der kleinen Kerze in der Kirche. „Warum, Gott? Warum lässt du all das zu? Ich habe solche Angst.“ Sie versucht ruhig zu werden. Hier in der Kirche klappt das ganz gut. Sie würde so gern hören: Hier bin ich, hab keine Angst! Als sie gerade aufstehen will, um zu gehen, legte eine alte Frau ihr die Hand auf die Schulter – phantasievoll auf dem Weg zu jemandem, der Fesseln trägt. Und sie flüstert ihr etwas ins Ohr: „Hab keine Angst, spricht Gott, ich stärke dich, ich helfe dir auch, ich halte dich durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit.“

AMEN.



[1] Jes 58,1-19a in der Elberfelder Übersetzung nach der Revision von 2006.

[2] Evangelium des Sonntags: Mk 8,31-38.

[3] Vgl. Thilo Sarrazin, Der neue Tugendterror. Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland, 2014.