Predigt zu Hoheslied 2,8-13 im Rahmen der Predigtreihe "Gottesbilder"
im Französischen Dom zu Berlin
Pfarrerin Kathrin Oxen, Wittenberg
Diese schlichte Einsicht, dass erst ein auf uns gerichtetes Begehren, das ausschließlich uns will, den Wert unseres Selbst hochtreibt. (Uwe Timm)
Es ist kein Winter mehr und noch kein Frühling. Am Mittag halte ich manchmal schon das Gesicht in die Sonne. Ihr Licht liegt klar auf allem, was ist. Aber noch ist da nichts, was Antwort geben könnte auf ihren Glanz. Graubraun und stumpf das Gras, noch keine Blätter an den Bäumen. Und winterblass meine Haut. Aber es ist schon hell, wenn ich jetzt den Frost von der Scheibe kratze. Erste Vogelstimmen, im-merhin. Man wird ja bescheiden mit der Zeit. Geht vor Schneeglöckchen auf die Knie und freut sich über eine halbe Stunde mehr Licht am Abend. Der Winter ist doch eine Zumutung. Aber der Winter geht vorbei.
Mein Geliebter hob an und sprach zu mir:
Steh auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm!
Sieh doch, dahin ist der Winter,
vorbei, vorüber der Regen.
Die Blumen sind im Land zu sehen,
die Zeit des Singens ist gekommen,
und das Gurren der Taube hört man in unserem Land.
Der Feigenbaum lässt seine Früchte reifen,
und die Weinstöcke blühen und duften.
Steh auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm! (Hoheslied 2, 10-13)
In jedem Frühling hört die jüdische Gemeinde diese Worte. Am Passahfest wird im Synagogengottesdienst das Hohelied gelesen. Die Lesung zu diesem Fest der Befreiung ist nicht etwa die Ge-schichte vom Auszug aus Ägypten, wie man denken könnte. Diese Geschichte wird erst später, am Sederabend beim gemeinsamen Essen noch einmal gelesen und nacherlebt. Die Lesung zum Fest der Befreiung ist ein Liebeslied. Das Hohelied singt von der Liebe in ihrer besten Zeit, im Frühling, wenn der Winter endlich vorbei ist. Ein Lied, das die Sehnsucht wecken kann, nach Frühling und nach Liebe. Eine Sehnsucht weit über den Kalender hinaus - nicht nur im Jahr, sondern im Leben.
Wie dieses Lied eigentlich zu seinem Platz in der Bibel gekommen ist, das weiß niemand so genau. Es steht ja, wenn man so will, in der Bibel in den Kapiteln "Gefühle", bei den Psalmen, den Sprüchen und dem Buch des Predigers. Klage, Zweifel und Angst, aber auch Trost und Geborgenheit kommen in diesen Kapiteln vor. Und mit dem Hohenlied auch die Liebe. Menschliche Erfahrungen, alle Höhen und Tiefen des Lebens und darin immer verborgen die Frage, ob und auf welche Weise sie etwas mit Gott zu tun haben. Irgendwann war das Kapitel "Liebe" drin in der Bibel. Irgendwann geriet das Lied der Lieder in das Buch der Bücher. Wie genau, das bleibt ein Geheimnis. Und wir fragen uns bis heute, was dieses Liebeslied nun mit Gott zu tun hat.
In der jüdischen Auslegung ist die Beziehung zwischen dem Geliebten und seiner Freundin die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk. So war es etwa für Rabbi Akiba im 2. Jahrhundert ganz selbstverständlich, Gott mit dem Geliebten und das Volk Israel mit der Freundin gleichzusetzen. Später ist die christliche Auslegung ähnlich verfahren. Zum Geliebten wurde Christus und die Freundin war die Kirche oder auch die Seele des gläubigen Menschen. Ein Versuch, mit dem Lied der Lieder von Gott zu reden, obwohl von Gott darin nie die Rede ist. Zwar ist ganz am Ende des Hohenliedes einmal von der Liebe als einer "Flamme des Herrn" die Rede. Aber das könnte man auch anders übersetzen, etwa im Sinne von "die Liebe ist eine starke, lodernde Flamme" – dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen.
Ein Lied im Frühling. Ein Lied von der Liebe. Ein Lied von Gott?
Horch, mein Geliebter!
Sieh, da kommt er, springend über die Berge, hüpfend über die Hügel.
Einer Gazelle gleicht mein Geliebter oder dem jungen Hirsch.
Sieh, da steht er hinter unserer Mauer,
schaut herein durch die Fenster, späht durch die Gitter. (Hoheslied 2, 8 und 9)
Gott kommt als Geliebter, als junger Mann. Er hat es eilig, zu seiner Freundin zu kommen, so wie es junge Männer immer eilig haben, zu ihrer Freundin zu kommen. Wie eine Gazelle, wie ein Hirsch kommt er zu ihr. Mühelos überwindet er die Berge und die Hügel, so jung und voller Kraft, wie er ist. Springend und hüpfend kommt er, noch in seinen Bewegungen dieser Überschuss an Kraft und Leben. Still steht er erst vor dem Haus der Freundin, an ihrer Tür oder vor ihrem Fenster. Er bleibt stehen an dem Ort, wo sich die Geliebten, die Liebhaber immer schon eingefunden haben, wo schon immer ihr Ort war. Wo er immer sein wird. Und dann ist da nur noch die Tür zwischen den beiden. Seine Gegenwart durchdringt alles, seine Schultern sind schon im Türrahmen zu ahnen, der Umriss seines Gesichts hinter der Scheibe. Es braucht kein Zeichen mehr von ihm, kein Klopfen oder Rufen. Denn sie kommt ihm ja schon entgegen und öffnet ihm - mehr als nur die Tür. Auch ihr Herz.
Eine Szene, so alt wie das Leben. Es kommt einer, der will nur zu mir. Kommt über die Berge und Hügel, zu Fuß, zu Pferde, mit dem Fahrrad, dem Mofa, der ersten Karre, kommt und steht vor mei-ner Tür, mit dem Wind in den Haaren und dem Geruch von draußen in seiner Jacke und will zu mir. Und der Winter ist vorbei und es ist Frühling. Ganz egal, ob es draußen wirklich Frühling ist. Auch egal, ob es gerade der Frühling meines Lebens ist oder sein Sommer, Herbst oder Winter. Denn es kommt einer, der will nur zu mir.
Mein Geliebter hob an und sprach zu mir:
Steh auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm!
Ein Lied vom Frühling und von der Liebe. Ein Lied von Gott. Dass er die Liebe ist, das habe ich schon oft gehört. Aber nicht so. Die Liebe, die Gott ist – darunter verstehe ich nicht die frühlingshafte Liebe, sondern eher eine Liebe wie nach gemeinsamen Jahren: Ich kenne dich gut. Bei mir kannst du sein, wie du wirklich bist. Du kannst mir vertrauen. Ich bleibe bei dir. Zu mir kannst du immer zurückkommen.
Aber Gott als Geliebter, als Liebhaber, der nur zu mir will, der es nicht erwarten kann, bei mir zu sein und der mich ruft: Steh auf, meine Schöne, und komm! Das sind doch andere Wünsche – nebenbei bemerkt, sicher nicht nur weibliche, auch wenn im Hohenlied die Rollen ja eher klassisch verteilt sind und ich in die weibliche Rolle leicht hineinfinden kann. Steh auf, meine Schöne und komm! Dass das einer zu mir sagt und es wirklich so meint. Dass der Frühling wiederkommt, wo schon so lange Winter ist und das Leben so graubraun und stumpf aussieht wie das Gras Anfang März. Das sind andere Wünsche. Und sie sind erlaubt, wenn es um die Beziehung zu Gott geht. Werd bloß nicht so bescheiden mit der Zeit.
Ja, Gott ist da, und wir können ihm vertrauen und immer zu ihm kommen. Aber er kommt auch zu uns, wie ein Geliebter, wie ein junger, schöner Mann mit zu viel Kraft und Wind in den Haaren. Gott steht gleich hinter der Wand, weil er bei mir sein will, nur bei mir. Martin Luther hat diesen Satz aus dem Hohenlied auf Gott bezogen: "Unter den Leiden, die uns von ihm scheiden wollen wie eine Wand, ja wie eine Mauer, steht er verborgen und sieht doch auf mich und verlässt mich nicht. Denn Gott steht und ist immer bereit, in Gnaden zu helfen, und durch die Fenster des dunklen Glaubens lässt er sich sehen."
Gott ist es, der draußen steht und herein will zu mir, nur zu mir. Es ist anders, als das was ich von der Liebe unter uns Menschen weiß und kenne. Denn ich bin immer auf der anderen Seite, ob als Frau oder als Mann. Ich bin nie draußen vor der Tür.
Die Angst vor einer Tür, die verschlossen bleibt und an der alles Klopfen und Rufen vergeblich ist, muss nicht meine Angst sein. Das ist nur die Angst von Gott. In der Geschichte Gottes mit seinem Volk gibt es viele Episoden, in denen sich Gott wie ein enttäuschter oder eifersüchtiger Liebender aufführt. In denen er seinen Menschen nachgeht, immer wieder einen Anfang macht, es gegen ge-gen alle Vernunft und Erfahrung wieder und wieder mit ihnen versucht. So ein Liebender ist Gott. Und mit dieser Liebe hat er Israel abgeholt damals, aus dem Sklavenhaus.
Und die Angst, dass es noch ewig dauert mit dem Frühling oder irgendwann sowieso vorbei ist damit? Diese Angst brauchst du bei Gott nicht zu haben. Deswegen gibt es das Lied vom Frühling und von der Liebe. Das Lied der Lieder im Buch der Bücher. Hör es dir an. Damit es Frühling wird in dir.
Hör doch die Stimme:
Steh auf, meine Schöne und komm!
Amen.
Mit Dank an Klaus Eulenberger für seine Predigt zum gleichen Text, zugänglich unter:
http://www.ekd.de/zentrum-predigtkultur/download/20121209_stichwort.pdf