Das mit dem Menschenfischen – Predigt zu 1. Korither 1,18-25 von Kathrin Oxen
1,18-25

Ich kenne einen, der es macht. Das mit dem Menschenfischen. Er heißt Klaus Vogel und er ist Kapitän auf großer Fahrt. Er steuerte viele Jahre lang große Containerschiffe über die Weltmeere. Er weiß, dass nach dem internationalen Seerecht alle Schiffe dazu verpflichtet sind, Schiffbrüchige außerhalb der 12-Meilen-Zone zu retten. Er hat erlebt, dass das nicht immer geschieht, wenn ein Schiff auf dem Mittelmeer unterwegs ist. Und wenn die Schiffbrüchigen in einem vollgestopften Schlauchboot sitzen und schwarze Haut haben.
Eines Tages hat er bei seiner Reederei gekündigt und zusammen mit anderen eine Hilfsorganisation gegründet. Sie heißt SOS Méditerranée. Ihr Ziel: mit einem eigenen Schiff im Mittelmeer Flüchtlinge retten. Seit Februar ist die Aquarius vor der libyschen Küste unterwegs. Klaus Vogel sagt, er hätte nicht damit gerechnet, wie schlecht es den Menschen geht, die gerettet werden. Sie waren jahrelang unterwegs. Sie sind misshandelt worden. Fast alle Frauen wurden vergewaltigt. Niemand von ihnen hat auch nur eine Vorstellung davon, was es heißt, auf das Meer hinaus zu fahren. Und man setzt sie in Boote, die höchstens ein bis zwei Tage durchhalten können, bevor sie sinken. Die Aquarius hat bis jetzt fast 2000 Menschen gerettet. An Bord wurde auch schon ein Baby geboren.
Klaus Vogel hat alles zurückgelassen am Ufer seines bisherigen Lebens. Er fischt jetzt Ertrinkende aus dem Mittelmeer. Jesus hat das so wörtlich nicht gemeint, als er vom Menschenfischen gesprochen hat. Aber er muss so etwas gemeint haben, als er sagte: Folge mir nach!

Ich kenne einen, der es macht. Ein Mensch wie Klaus Vogel rettet nicht „nur“ Flüchtlinge vor dem Ertrinken. Er rettet auch meine Hoffnung auf eine andere Welt als die Welt, in der wir gerade leben. Eine Welt, in der am liebsten alle Länder Inseln wären wie Großbritannien und ablegen wollen und sich losmachen von einer gemeinsamen Verantwortung und von gemeinsamen Werten. Eine Welt, in der aus einem Land ganz ohne Küste, aus Österreich, allen Ernstes Vorschläge kommen, dass die Flüchtlinge doch auf irgendeine Insel gebracht werden sollen. Was dann weiter mit ihnen passieren soll, hat leider niemand gesagt. Denn:

Nicht umsonst heißt es in der Schrift:
»Die Klugen werde ich an ihrer Klugheit scheitern lassen;
die Weisheit derer, die als weise gelten, werde ich zunichte machen.«
Wie steht es denn mit ihnen, den Klugen, den Gebildeten, den Vordenkern unserer Welt?

Ich habe genug von der Klugheit dieser Welt. Mir geht es so, wie es der Schriftsteller Navid Kermani sagt. Er hat bei der Trauerfeier für Rupert Neudeck gesprochen, für den anderen großen Menschenfischer, den Gründer von Cap Anamur.
Ich will „nicht die Mitleidlosigkeit aushalten, denn sie entspricht mir überhaupt nicht, weder den Anlagen, die Gott mir mitgegeben hat, noch der Fürsorge, die ich durch meine Eltern erfahren habe und schon gar nicht der Zivilisation, in der ich aufgewachsen bin. Das Mitgefühl ist der natürliche, der menschliche Impuls, nicht die Gnadenlosigkeit.“ (Navid Kermani im SPIEGEL 25/2016)

Ich habe genug von der Klugheit dieser Welt und von den Bildern im Fernsehen, die mir die Tränen in die Augen treiben. Ich weine aus Mitleid. Und aus Ohnmacht über die Gnadenlosigkeit in der europäischen Politik. Aus Wut über die Herzlosigkeit und Dummheit all der Menschen, die Leuten nachlaufen und Leute wählen, die sagen, dass es am besten ist, wenn man sich das Mitleid abgewöhnt und gnadenlos wird.

Ich war gestern im Freibad mit meinen Kindern und da waren eine ganze Menge junge Männer aus Syrien, die hatten genauso viel Spaß auf der Wasserrutsche wie mein Sohn. Und ich habe gedacht: Es ist vielleicht das erste Mal für sie, dass sie so etwas erleben: Wasser und Sonne - und keine Angst mehr haben. Und in unserer Stadt sehe ich Kinder, die ganz bestimmt nicht in Sachsen-Anhalt geboren sind und die fahren so ein bisschen mit ihrem Fahrrad herum an einem Sommerabend, wie Kinder es gerne machen, meine Kinder auch. Und die Häuser um sie herum sind heil und es fallen keine Bomben. Und sie sind hier und in Sicherheit. Ich weiß nicht, warum ich ihnen nicht gönnen sollte, was ich mir selbst doch auch wünsche, für mich und für meine Kinder. Ich habe wirklich genug von der Klugheit der Welt.
Hat Gott die Klugheit dieser Welt nicht als Torheit entlarvt?
Denn obwohl sich Gottes Weisheit in der ganzen Schöpfung zeigt,
hat ihn die Welt mit ihrer Weisheit nicht erkannt.
Deshalb hat er beschlossen, eine scheinbar unsinnige Botschaft verkünden zu lassen, um die zu retten, die daran glauben.
Die Juden wollen Wunder sehen, die Griechen fordern kluge Argumente.
Wir jedoch verkünden Christus, den gekreuzigten Messias.
Für die Juden ist diese Botschaft eine Gotteslästerung
und für die anderen Völker völliger Unsinn.
Für die hingegen, die Gott berufen hat, Juden wie Nichtjuden,
erweist sich Christus als Gottes Kraft und Gottes Weisheit.

Ich habe genug von der Klugheit der Welt und vor allem von den Menschen, die angeblich auch noch das christliche Abendland verteidigen wollen. „Das Christentum, auf das sie sich manchmal berufen, hat sie die Gnadenlosigkeit nicht gelehrt. Wenn die deutsche oder die abendländische oder überhaupt irgendeine Kultur etwas lehrt, dann ist er der Großmut und die Gastfreundschaft.“ (Navid Kermani)
Ja, es könnte sein, dass der Großmut und die Gastfreundschaft irgendwann einmal jeden von uns etwas kostet. Ich habe bis jetzt aber noch keinen einzigen Cent unfreiwillig für all die Flüchtlinge bezahlen müssen, die jetzt bei uns sind. Was Deutschland im vergangenen Jahr getan hat, als die Grenzen offen waren, das war für die anderen Völker Europas offenbar völliger Unsinn. Für mich war es das Zeichen einer Kraft und einer Weisheit, die zu Gott gehören.

Mit der Botschaft vom Kreuz ist es nämlich so:
In den Augen derer, die verloren gehen, ist sie etwas völlig Unsinniges;
für uns aber, die wir gerettet werden, ist sie der Inbegriff von Gottes Kraft.

Ich kenne noch einen, der es gemacht hat. Gott ist nichts Besseres eingefallen, als sich an ein Kreuz nageln zu lassen, damit die Welt auf ihn aufmerksam wird. Und die Botschaft vom Kreuz steht jetzt in der Welt. Gott selbst hängt da, am Rande der Stadt, gefoltert, nackt und verrenkt, erstickt und verdurstet. Und alle schauen dabei zu. Oder schauen lieber weg, was man ja auch wirklich verstehen kann. Nein, haben sie schon zu Paulus in Korinth gesagt, so haben wir uns das mit Gott nicht vorgestellt. Das ist doch kein Gott, da am Kreuz. Das ist nur schrecklich und abstoßend.

Ich kenne einen, der es trotzdem so gemacht hat. Ich glaube: Was wir da am Kreuz sehen, das ist Liebe, in ihrer äußersten Form. Wir denken Liebe zuerst oft als das, was sich zwischen zwei Menschen abspielt. Und auch dabei geht es um Hingabe. Wer weiß das nicht? Liebe ist so, sie riskiert doch immer, dass sie nicht verstanden und nicht angenommen wird.
Und zu jeder großen Liebe gehört eine Hingabe, die mehr tut als das, was noch vernünftig oder überhaupt vernünftig wäre. Dass man sterben könnte für den anderen, das wird meistens im Überschwang der Gefühle gesagt. Aber das das tatsächlich mehr ist als nur romantische Worte, dass das wirklich passieren kann, weiß jeder, der schon einmal in die Tiefen der Liebe geraten ist:
In einer sehr großen Liebe zwischen zwei Menschen kann das so sein. Es ist in der Liebe zu dem eigenen Kind. Auch on der Hilflosigkeit an einem Krankenbett und am Sarg eines geliebten Menschen. Da gibt man etwas von seinem eigenen Leben her um der Liebe willen. Da würde man etwas von seinem eigenen Leben geben für den anderen.

Gott ist nichts anderes eingefallen, damit wir auf ihn aufmerksam werden, als uns diese Liebe und Hingabe zu zeigen. In Jesus ist sie lebendig geworden. Ein Mensch, der nicht für sich, sondern nur für andere gelebt hat. Familie und Besitz waren ihm völlig egal. So konsequent war er in seiner Liebe, dass er denen, die ihn geschlagen haben, noch die andere Wange hingehalten hat.
Sein Weg endete am Rand der Stadt, geschlagen und gekreuzigt, nackt, erstickt, verdurstet. Und Gott war in diesem Menschen. Ach, schon damals in Korinth wollten sie Gott nicht in einem solchen Menschen erkennen. Und heute auch nicht. Denn die Botschaft vom Kreuz ist Hingabe und ein Leben, das man für andere lebt.
Ich habe genug von der Klugheit der Welt. Ich will mir mein Mitleid nicht abgewöhnen müssen und meine Tränen verstecken. Und ich glaube: Gott ist in all den Menschen, die zu uns kommen als Fremde, an den Rand unserer Städte, hungrig und durstig, nackt und krank, gefoltert und gefangen. Und deswegen brauche ich Menschen wie Klaus Vogel und Rupert Neudeck. In ihnen erkenne ich die radikale Liebe und Hingabe Jesu wieder. Navid Kermani sagt über sie: „Es brauchte zu allen Zeiten einzelne Menschen, die alles geben, die so vielen Menschen helfen wie es eben nur geht, ohne zu fragen, was für sie selbst übrig bleibt.

Ich weiß nicht genau, wie Klaus Vogel es im Moment mit seinem Lebensunterhalt macht. Er geht einen Weg, den ich nicht gehen kann, weil ich so gebunden bin durch meine Familie und durch Besitz. Aber er tut, was ich am liebsten auch tun würde.
Es ist wichtig für mich, dass ich wenigstens einen kenne, der es macht.
Damit ich nicht verrückt werde an dieser Welt.
Damit ich mit gerettet werde.

Mit der Botschaft vom Kreuz ist es nämlich so:
In den Augen derer, die verloren gehen, ist sie etwas völlig Unsinniges;
für uns aber, die wir gerettet werden, ist sie der Inbegriff von Gottes Kraft.

Amen.

Perikope
26.06.2016
1,18-25