Dem Himmel nahekommen - Predigt zu Römer 2,1-11 von Frank Fuchs
2,1-11

Darum, o Mensch, kannst du dich nicht entschuldigen, wer du auch bist, der du richtest. Denn worin du den andern richtest, verdammst du dich selbst, weil du ebendasselbe tust, was du richtest. Wir wissen aber, dass Gottes Urteil zu Recht über die ergeht, die solches tun. Denkst du aber, o Mensch, der du die richtest, die solches tun, und tust auch dasselbe, dass du dem Urteil Gottes entrinnen wirst? Oder verachtest du den Reichtum seiner Güte, Geduld und Langmut? Weißt du nicht, dass dich Gottes Güte zur Buße leitet? Du aber, mit deinem verstockten und unbußfertigen Herzen, häufst dir selbst Zorn an für den Tag des Zorns und der Offenbarung des gerechten Gerichtes Gottes, der einem jeden geben wird nach seinen Werken: ewiges Leben denen, die in aller Geduld mit guten Werken trachten nach Herrlichkeit, Ehre und unvergänglichem Leben; Zorn und Grimm aber denen, die streitsüchtig sind und der Wahrheit nicht gehorchen, gehorchen aber der Ungerechtigkeit; Trübsal und Angst über alle Seelen der Menschen, die das Böse tun, zuerst der Juden und auch der Griechen; Herrlichkeit aber und Ehre und Frieden allen denen, die das Gute tun, zuerst den Juden und ebenso den Griechen. Denn es ist kein Ansehen der Person vor Gott. (Röm 2,1-11)

Liebe Gemeinde,
vor 2 ½ Wochen haben wir in dieser Kirche den Reformationstag gefeiert. Der Thesenanschlag Martin Luthers war nun 499 Jahre her. Damit begann das Festjahr zum großen Jubiläum im nächsten Jahr. Aus diesem Anlass fanden in den vergangenen Wochen vier Gesprächsabende der vier christlichen Gemeinden in Babenhausen zum Thema Reformation statt. Es wurde die Frage behandelt, wie die vier christlichen Gemeinden zur Reformation stehen. Die Pfarrer und Pastoren der jeweiligen Gemeinden haben dazu einen Vortrag gehalten. Sie haben ihre Gemeinde und Kirche vorgestellt und bedacht, inwiefern sie heute reformatorischen Gedanken nahestehen. Darüber kamen wir miteinander ins Gespräch. Im Vordergrund stand das Verbindende. Aus katholischer Sicht wurde an Martin Luther wertgeschätzt, dass er den Blick wieder auf die Bibel gelenkt hat. Aus dem Blickwinkel der freien Gemeinde wurde als positiv angesehen, dass er den Glauben umfassend leben wollte, was in der Gemeinde in Gebets- und Hauskreisen geschieht. Und von Seiten der Pfingstgemeinde wurde vermerkt, dass sich Luther nach seinem Gewissen entschieden hat und damit auch dem Geist Gottes Raum geben wollte.

Unser Predigttext ruft uns heute zur Demut auf. Denn Paulus richtet seinen Appell gegen jene, die ihre eigene Sicht über andere stellen und sie negativ beurteilen. Wer Christ wird, versteht sein Leben auf andere und neue Weise. Diese neue Erkenntnis lässt sich allzu leicht als Waffe gegen anderen einsetzen.[i] Diese Gefahr sieht der Apostel Paulus auch in der Gemeinde in Rom. Dort haben sich Christen anscheinend gegen andere gestellt, was zu Konflikten geführt hat. Im Brief an die Römer mahnt Paulus also zur Mäßigung. Andere sollen nicht abgekanzelt oder eben gerichtet werden.
In der Geschichte unserer Kirchen und Gemeinden unterlagen viele dieser Gefahr. Denn es ist ja auch eine Geschichte der Trennungen. Auf diese Weise wären auch unsere Gespräche der vier Gemeinden schiefgelaufen. Wenn wir unsere Sichtweise absolut setzen, können wir die anderen nur negativ beurteilen. Wir kritisieren uns gegenseitig und sehen die Fehler der anderen.
Paulus spricht aber davon, dass Gottes Güte zur Buße führt. Denn das ist die Konsequenz aus der Rechtfertigungslehre im Römerbrief, die Martin Luther später wiederentdeckt hatte und die zum Ausgangspunkt seiner theologischen Überzeugungen wurde. Wenn ich glaube, dass Gott mich gerecht spricht, nicht wegen meiner besonderen Taten, sondern allein aus Glauben, dann darf ich die anderen in Glaubensfragen nicht richten. Vielmehr muss ich davon ausgehen, dass auch der andere freigesprochen ist. So ist es folgerichtig, dass es Gottes Güte ist, die ich für mein Leben annehme und die mich zur Buße führt. Buße bedeutet dann, dass ich umkehre und nicht mehr andere abkanzle und aburteile, sondern mit Achtung begegne. Dann wirkt sich Gottes Güte spürbar für andere aus.

Paulus führt in drastischen Worten aus, dass diejenigen, die Geduld üben mit guten Werken das ewige Leben erwarten, diejenigen aber, die streitsüchtig und ungerecht sind, Zorn und Grimm zuteil wird. Dieses Gericht vollzieht sich an denen, die sich erheben und über andere urteilen. Dabei gibt es kein Ansehen der Person. Es trifft Juden wie Griechen gleichermaßen.
Es zeigt sich, dass das Verhalten heute das erwartete Gericht vorausnimmt. Wie sich die Menschen früher das Gericht Gottes vorgestellt haben, zeigt eine Freske im Chorraum unserer Stadtkirche, die aus dem Anfang des 15. Jahrhunderts stammt. Oben thront Christus, der Gericht hält. Neben ihm befinden sich zwei Engel, die in die Posaune blasen. In den Gräbern sind Tote zu sehen und manche Menschen erheben sich bereits aus den Gräbern. Zwei Menschengruppen sind dargestellt, die hintereinander in zwei Richtungen laufen. Auf der rechten Seite laufen sie in den Schlund eines Ungeheuers. Sie sind gefangen durch ein Seil und werden hineingezogen. Auf der linken Seite ist die Freske teilweise verloren gegangen. Man sieht nicht, wohin die Menschengruppe läuft. Es sind aber oberhalb noch einige Dächer zu sehen, die eine Stadt darstellen. Vermutlich ziehen sie ins himmlische Jerusalem ein, wie die Stadt in der Offenbarung beschrieben wird. (Off 21)
Bei unseren Gesprächsabenden wurden durchaus verschiedene Verständnisse auf die Vorstellung vom Weltgericht deutlich.
Es gibt die Ansicht, die sich eher an dem traditionellen Bild orientiert, das die Menschen in zwei Bereiche aufteilt: in Verderben und in den Himmel.
Es gibt die Ansicht, dass Gottes Güte so groß ist, dass sogar eine Erlösung aller Menschen möglich ist.
In diesen Tagen wird aber auch ein Dilemma ersichtlich. Die Kirche versucht, das 500-jährige Reformationsjubiläum zu nutzen, um ihre Botschaft in der Öffentlichkeit bekannt zu machen. In den Zeitungskommentaren und Internetforen wird allerdings kritisiert, dass die Kirche kaum noch Theologie treibe und einfach das „Liebsein“ Gottes beim Gedenken an den Thesenanschlag in den Vordergrund stelle.[ii] Seine Thesen waren aber im damaligen Weltbild verwurzelt, nach dem Menschen das Gericht fürchteten. Sie hatten bildlich gesprochen Angst, in den Schlund des Ungeheuers getrieben zu werden. Die Kirche heute will und kann den Menschen keine Angst mehr machen. Wenn aber der Eindruck entsteht, dass Gott nur noch auf sein „Liebsein“ reduziert wird, ist das eine unzulässige Vereinfachung. Das Dilemma scheint mir kaum auflösbar. Denn die Befreiung, die Martin Luthers Wiederentdeckung der Rechtfertigungslehre für die Menschen bedeutete, war für das mittelalterliche Weltbild nachvollziehbar. Heute scheint es fern zu liegen. Eher spüren wir einen diesseitigen Leistungsdruck und Optimierungswahn, der uns Kräfte raubt und bindet. In diesem Zusammenhang kann die Botschaft von Rechtfertigung allein aus Glauben befreiend wirken. Aber das wäre dann wieder rein diesseitig gedacht.
Paulus stellt uns beide Seiten vor Augen: ewiges Leben auf der einen Seite und den Zorn Gottes bzw. das Gericht auf der anderen. In den Vordergrund stellt er aber Gottes Güte, die uns leiten soll. Mit Güte haben wir an unseren Gesprächsabenden miteinander gesprochen. Auf diese Weise haben wir erfahren, dass uns unser Christsein untereinander viel mehr verbindet als trennt. Wenn wir ganz bewusst damit leben, dass uns Gottes Güte gilt, können wir uns gar nicht über andere erheben. Diese Botschaft schließt ein, sanftmütig gegenüber anderen zu sein. Mit Martin Luther lässt sich die Botschaft des Predigttextes wie folgt zusammenfassen:
Sanftmut ist der Himmel, Zorn die Hölle, die Mitte zwischen beiden ist diese Welt. Darum, je sanftmütiger du bist, desto näher bist du dem Himmel.[iii]
Amen.

 

[i] An der Exegese von Klaus Berger orientiert sich Werner Grimm, Göttinger Predigtmeditationen, Jahrgang 2003-2004, S. 527f.

[ii] Zuletzt Jürgen Kaube, FAZ vom 31.10.2016

[iii] Quelle: Luther, Tischreden oder Colloquia, 1566

 

Perikope
16.11.2016
2,1-11