„Den anderen, findigen Gott - und die andern auch alle“ - Predigt zu Lukas 15,1-3.11-32 von Dörte Gebhard
15,1-3.11-32

„Den anderen, findigen Gott - und die andern auch alle“ - Predigt zu Lukas 15,1-3.11-32 von Dörte Gebhard

„Den anderen, findigen Gott - und die andern auch alle“

(Predigt im OpenAirGottesdienst in Bottenwil/Schweiz)

Liebe Gemeinde

Wie oft schon ist dieser Sohn vor unseren Ohren fortgegangen und heimgekehrt!
Wie oft schon haben wir die unglaubliche Geschichte aus dem Lukasevangelium gehört,
wie oft sagen wir immer noch, es sei das Gleichnis vom „verlorenen Sohn“.

Davon handelt die Passage im Lukasevangelium ganz höchstens am Rande. Hören Sie selbst, wie der berühmt-berüchtigte Sohn gerade nicht verloren geht:

1 Alle Zöllner und Sünder suchten seine Nähe, um ihm zuzuhören. 2 Und die Pharisäer und Schriftgelehrten murrten: Der nimmt Sünder auf und isst mit ihnen. 3 Er aber erzählte ihnen das folgende Gleichnis:

11 Und er sprach: Ein Mann hatte zwei Söhne. 12 Und der jüngere von ihnen sagte zum Vater: Vater, gib mir den Teil des Vermögens, der mir zusteht. Da teilte er alles, was er hatte, unter ihnen. 13 Wenige Tage danach machte der jüngere Sohn alles zu Geld und zog in ein fernes Land. Dort lebte er in Saus und Braus und verschleuderte sein Vermögen. 14 Als er aber alles aufgebraucht hatte, kam eine schwere Hungersnot über jenes Land, und er geriet in Not. 15 Da ging er und hängte sich an einen der Bürger jenes Landes, der schickte ihn auf seine Felder, die Schweine zu hüten. 16 Und er wäre zufrieden gewesen, sich den Bauch zu füllen mit den Schoten, die die Schweine frassen, doch niemand gab ihm davon. 17 Da ging er in sich und sagte: Wie viele Tagelöhner meines Vaters haben Brot in Hülle und Fülle, ich aber komme hier vor Hunger um. 18 Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. 19 Ich bin es nicht mehr wert, dein Sohn zu heissen; stelle mich wie einen deiner Tagelöhner. 20 Und er machte sich auf und ging zu seinem Vater.

Er war noch weit weg, da sah ihn sein Vater schon und fühlte Mitleid, und er eilte ihm entgegen, fiel ihm um den Hals und küsste ihn. 21 Der Sohn aber sagte zu ihm: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. Ich bin es nicht mehr wert, dein Sohn zu heissen. 22 Da sagte der Vater zu seinen Knechten: Schnell, bringt das beste Gewand und zieht es ihm an! Und gebt ihm einen Ring an die Hand und Schuhe für die Füsse. 23 Holt das Mastkalb, schlachtet es, und wir wollen essen und fröhlich sein! 24 Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist gefunden worden. Und sie fingen an zu feiern. 25 Sein älterer Sohn aber war auf dem Feld. Und als er kam und sich dem Haus näherte, hörte er Musik und Tanz. 26 Und er rief einen von den Knechten herbei und erkundigte sich, was das sei. 27 Der sagte zu ihm: Dein Bruder ist gekommen, und dein Vater hat das Mastkalb geschlachtet, weil er ihn gesund wiederbekommen hat. 28 Da wurde er zornig und wollte nicht hineingehen. Sein Vater aber kam heraus und redete ihm zu. 29 Er aber entgegnete seinem Vater: All die Jahre diene ich dir nun, und nie habe ich ein Gebot von dir übertreten. Doch mir hast du nie einen Ziegenbock gegeben, dass ich mit meinen Freunden hätte feiern können. 30 Aber nun, da dein Sohn heimgekommen ist, der da, der dein Vermögen mit Huren verprasst hat, hast du für ihn das Mastkalb geschlachtet. 31 Er aber sagte zu ihm: Kind, du bist immer bei mir, und alles, was mein ist, ist dein. 32 Feiern muss man jetzt und sich freuen, denn dieser dein Bruder war tot und ist lebendig geworden, war verloren und ist gefunden worden.


Liebe Gemeinde

Wäre der Sohn letztlich und ganz und gar verloren gegangen, hätte Lukas diese Passage nicht in sein Evangelium aufnehmen müssen.
Er hätte es als bekannt voraussetzen können. Wir wissen, wie jemand in die grosse, weite Welt hinauszieht und dabei natürlich auch verloren gehen kann, wie jemand nur eine halbe Weltreise schafft, wie jemand abbricht, was er vorhatte, zerbricht an sich selbst ...
Wir kennen solche Söhne, die in die Welt hinausgezogen sind, von denen nie wieder jemand hörte, die für uns verloren gegangen sind.
Wir kennen sogar Väter, die im Alkohol verloren gehen, wenn das Leben daheim misslingt, auch ohne dass sie je gross losgezogen wären.
Wir kennen solche Mütter, die sich selbst verlieren in der Sorge um ihre Kinder, die das Mass des Sinnvollen verloren haben ...
Wir kennen solche Töchter, die ihr Leben verlieren, nur weil sie es verloren glaubten, die bei der Suche nach echtem Leben den echten Tod früher finden.
Wir kennen uns selbst – zur Genüge, wie wir uns verlieren können in Nichtigkeiten, wie schnell wir die Suche aufgeben, wenn etwas verloren gegangen ist, ...
Damals kannten alle Juden auch das Gebot der Thora, was mit so einem scheinbar verlorenen, widerspenstigen Sohn zu geschehen hat. Wer alles verloren hat, was er zum Leben nötig hat, sollte einst auch sein Leben verlieren. Es heisst in der Thora, im 5. Buch Mose:

Wenn jemand einen widerspenstigen und ungehorsamen Sohn hat, der der Stimme seines Vaters und seiner Mutter nicht gehorcht und auch, wenn sie ihn züchtigen, ihnen nicht gehorchen will, so sollen ihn Vater und Mutter ergreifen und zu den Ältesten der Stadt führen und zu dem Tor des Ortes und zu den Ältesten der Stadt sagen: Dieser unser Sohn ist widerspenstig und ungehorsam und gehorcht unserer Stimme nicht und ist ein Prasser und Trunkenbold. So sollen ihn steinigen alle Leute seiner Stadt, dass er sterbe, und du sollst so das Böse aus deiner Mitte wegtun, dass ganz Israel aufhorche und sich fürchte ...
(5. Mose 21,18-21)


Steinigen ist wieder alltäglich geworden auf unserer Welt, und nicht nur steinigen, so zeigen es  die Videos der Terroristen, die voller Stolz und unerträglicher Menschenverachtung im Namen Gottes auftreten und doch nur ihre eigene Gewalttätigkeit vergöttert haben.
Steinigen kann jeder, so lehren es die grausamen Bilder dieser Tage,
normale Menschen lassen sich radikalisieren und werden fähig, ihre eigenen Leute, ihre Nächsten umzubringen.

Gewaltexzesse sind der Menschheit zu keiner Zeit ‚abhanden’ gekommen, foltern und steinigen sind nicht nur vereinzelten Psychopathen möglich, sondern können sich offenbar immer wieder ausbreiten, wenn Menschen Gehirnwäschen unterzogen und ihr Aggressionspotential entdeckt und fürchterlich fruchtbar gemacht wird.

Steinigen ist nicht so weit entfernt, wie es der steinalte Bibeltext nahelegt.
Auch im 21. Jahrhundert gehen Menschen verloren, finden sich Menschen zum Steinigen bereit und leben in der Gewissheit, dass es mehr als gut und gerecht ist, was sie tun. Und beschämt müssen wir bekennen, dass auch in Europa die Hoffnungslosigkeit unter manchen Jugendlichen so gross ist, dass sie sich Lebenssinn und Anerkennung, sogar ein besseres Leben versprechen, wenn sie nach Syrien reisen und sich dem Islamischen Staat, dem IS, anschliessen.
Ob diese Söhne und Töchter verloren sind?
Die Passage im Lukasevangelium lässt anderes hoffen.

Liebe Gemeinde

Das alte Steinigungsgebot und die aktuellen Gewaltausbrüche setzt Lukas als bekannt voraus. Anderes, Neues muss er berichten, vor allem von einem anderen, findigen Vater.

Es ist ein Vater, wie ihn die Welt nicht alle Tage sieht, aber stets nötig hat.
Wir sollten einen solchen Vater kennen!
Das Gleichnis handelt vor allen Dingen von Gott, viel mehr noch als von einem losgezogenen und heimgekehrten Sohn.

Denn ein normaler, orientalischer Patriarch täte das Geschilderte alles nicht und schon gar nicht in dieser Reihenfolge!
Zuerst sieht er seinen Sohn schon von weitem, als hätte er Tag und Nacht nach ihm Ausschau gehalten.
Er war noch weit weg, da sah ihn sein Vater schon ...
Wer von uns hält denn dauerhaft Ausschau nach dem, was er für verloren, sogar für tot hält? Wer hält das aus? Wer hält das durch?
Manche Menschen vermögen es, aber sie werden selten berühmt und wir kennen ihre Namen nicht. Aber es gibt sie und es gibt:
Gott, den anderen, findigen Vater.

Er war noch weit weg, da sah ihn sein Vater schon und fühlte Mitleid.
Wer von uns kann auf weite Distanz Mitleid empfinden? Wen jammert ein Leid, das er nur im Fernsehen sieht? Eine Not, die er nur von Ferne sieht?
Und wer hat Mitleid, überhaupt, wenn es vollkommen selbstverschuldet abwärts ging?

Manche Menschen vermögen es, und brechen auf, um zu helfen in den Krisen- und Kriegsgebieten dieser Welt; solche, die es nicht nötig hätten, gehen zu den „Ärzten ohne Grenzen“, obwohl sie auch ein  vergleichsweise beschauliches Arbeitsleben in einem westeuropäischen Krankenhaus wählen könnten.
Wir kennen ihre Namen kaum, aber doch einen, der zu diesem besonderen Mitleid immer fähig ist:
Gott, den anderen, findigen Vater.

Er war noch weit weg, da sah ihn sein Vater schon und fühlte Mitleid, und er eilte ihm entgegen, fiel ihm um den Hals und küsste ihn.

Ein normaler, orientalischer Patriarch rennt grundsätzlich nicht, schon gar nicht so einem entgegen!

Wenn wir von jemandem Reue erwarten, mindestens eine Entschuldigung, dann lassen wir ihn zu uns kommen und hören das an, natürlich, wir sind anständig. Aber rennen wir raus und herzen und küssen einen, der noch mit keinem Ton um Vergebung gebeten hat? Von dem es beim besten Willen nichts Positives zu berichten gibt?
Manche Menschen haben ein so weites Herz und wohl dem, der auch nur einen von ihnen kennt, und:
Gott, den anderen, findigen Vater.

Es ist mehr als gut zu erkennen: Gottes ‚Findigkeit’ ist grösser als unsere menschlichen Möglichkeiten, ganz verloren zu gehen.

Das ist Grund zu einer Freude, mit der sich Menschen manchmal schwer tun.
Und sie fingen an zu feiern. 
Das wäre eigentlich ein geeigneter, letzter Satz!
Aber, leider, nur sie feierten, nicht: Alle feierten.
Wir kennen solche älteren Brüder, die sich nicht freuen können, solche, die immer alles richtig gemacht haben, jahrelang, solche, die nun auch auch einen solchen Vorrat an Rechtschaffenheit aufgehäuft haben, dass er für jahrelange Vorwürfe reicht: Ich habe immer gearbeitet, ich habe nie gefeiert ...
All die Jahre diene ich dir nun, und nie habe ich ein Gebot von dir übertreten. Doch mir hast du nie einen Ziegenbock gegeben, dass ich mit meinen Freunden hätte feiern können.

Echtes, hilfreiches Mitleid ist nicht alle Tage zu finden. Ehrliche Mitfreude aber ist noch seltener anzutreffen.
Mitleid, so schreibt Jürgen Moltmann[1], ist viel leichter zu haben als Mitfreude.
Mitfreude ist ein Wort, dass wir fast zuerst erfinden müssen, so ungewohnt kommt es uns über die Lippen.
Im Mitleid können wir uns hinabbeugen, kommen also von oben. Mitfreude aber bedarf des Aufblickens, der völligen Selbstlosigkeit für einen Moment. Jedes Nachrechnen, jeder Vergleich mit dem Eigenen verdirbt sofort alles. Wenn das Herz voller Neid ist, hat die Freude keinen Platz daneben. Echte Mitfreude braucht viel Raum, braucht Zeit.

Jürgen Moltmann, der grosse Theologe der Hoffnung, hat ein altersweitsichtiges Buch geschrieben. Rainer Haak fasst die Freude zusammen, wenn man das überhaupt kann:

„Freude ist der Sinn menschlichen Lebens. Für die Freude an Gott wurden Menschen geschaffen. Für die Freude am Leben wurden sie geboren. Damit werden die oft gestellten Lebensfragen: Wozu bin ich da? Bin ich noch brauchbar? Kann ich mich nützlich machen? aus den Angeln gehoben. Es gibt keine Zwecke und keinen Nutzen, für die menschliches Leben da sein muss. Es gibt keine ethischen Ziele oder idealen Zwecke, mit denen sich menschliches Leben rechtfertigen muss. Das Leben selbst ist gut. Dasein ist schön und Hiersein ist herrlich. Wir leben, um zu leben.
Die Arbeitswelt der modernen Industriegesellschaft erzieht schon Kinder in der Kita mit solchen bedrohlichen Existenzfragen, nach denen der Sinn des Lebens in Zwecken und Nutzen liegen soll. Wer aber den Sinn seines Lebens in Brauchbarkeiten und Nützlichkeiten findet, kommt unausweichlich in Lebenskrisen, wenn er krank, behindert oder alt wird. Der „Sinn“ des Lebens liegt nicht außerhalb des Lebens, sondern in ihm selbst. …“[2]

Die Religion, die Rückbindung Gott, sei daher, so Moltmann, an den Fest-punkten des Lebens entstanden. Rel-igion begann, wenn es etwas zu feiern gab, nicht an den Unglücksorten eines Volkes. Gott war bei unseren frühen Vorfahren nicht zuerst gefragt, wenn es not-wendig war, sondern wenn sein Dasein Grund zur Freude gab.
Im älteren Testament wird immer wieder betont, dass Gott nicht nur Freude macht, sondern sich selbst auch freut.
Der Prophet Zephania hat davon eine echte Ahnung und ist erfüllt von Mitfreude:

Fürchte dich nicht, Zion! Lass deine Hände nicht sinken! Denn der HERR, dein Gott, ist bei dir, ein starker Heiland. Er wird sich über dich freuen und dir freundlich sein, er wird dir vergeben in seiner Liebe und wird über dich mit Jauchzen fröhlich sein. (Zeph 3, 16f).

Gott hat Freude – beim Suchen und noch mehr beim Finden.
So kann man sich vorstellen, dass Gott auch Freude erhofft, spontan und erstaunt, später auch die Mitfreude. Das Gleichnis bei Lukas hört auf, ehe wir erfahren, ob der ältere Bruder noch feiern konnte.

Aber wir hoffen es! So kann der allerletzte Satz im Gleichnis über den anderen, findigen Vater und die andern alle doch für uns heissen: „Freude herrscht.“[3]

Die Betonung lag damals auf „Freude herrscht!“ – nun wäre zu sagen: „Freude herrscht!“
Für den einen ist das leicht, für den anderen und überhaupt: für die 99 Gerechten ein wenig schwieriger, aber es ist zu schaffen, dass „Freude herrscht!“

Und der Friede und die Freude Gottes, die höher sind als unsere Vernunft, die stärken und bewahren Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, Amen

 

[1]  Vgl. zum ganzen Gedankengang über die Freude Jürgen Moltmann, Der lebendige Gott und die Fülle des Lebens. Auch ein Beitrag zur Atheismusdebatte unserer Zeit, Gütersloh 2014, S. 91-101.

[2]  Rainer Haak: Glaubenssplitter. Ein frischer Blick auf den „alten“ Glauben, unter www.glaubenssplitter.com, abgerufen am 17. 6. 2015 in seinen Gedanken zu Moltmanns Buch.

[3]  Adolf Ogi. Als der erste Schweizer Astronaut Claude Nicollier die Erde umkreiste, begrüsste ihn Adolf Ogi am 7. August 1992 mit seinem rasch zum Bonmot gewordenen «Freude herrscht».