"Der Blick von oben" - Predigt über Johannes 3, 31-35 von Isolde Karle
3,31

"Der Blick von oben" - Predigt über Johannes 3, 31-35 von Isolde Karle

Der Blick von oben – Predigt über Johannes 3, 31-35
Liebe Gemeinde,
als Predigttext für den heutigen Gottesdienst lese ich Johannes 3,31-35
Der von oben her kommt, ist über allen. Wer von der Erde ist, der ist von der Erde und redet von der Erde. Der vom Himmel kommt, der ist über allen und bezeugt, was er gesehen und gehört hat; und sein Zeugnis nimmt niemand an. Wer es aber annimmt, der besiegelt, dass Gott wahrhaftig ist. Denn der, den Gott gesandt hat, redet Gottes Worte.
„Der von oben her kommt, ist über allen“. In diese Perspektive von oben will ich Sie heute entführen. Deshalb gehen wir zunächst in die Höhe, bevor wir wieder zur Erde zurückkommen.
(1) Zunächst zum Blick von oben. Stellen Sie sich vor, Sie könnten wie Karlsson vom Dach in die Höhe steigen und sich hinausnehmen lassen aus dem Kreis ihrer Familie. Sie gleiten aus dem Fenster hinaus, über die Dächer hinweg, immer weiter nach oben, so hoch hinaus, wie sich der Himmel über uns wölbt. Von dort oben blicken Sie auf die Erde. Wie würde das Ihre Sicht auf die Welt verändern? Was sieht man da oben, was man von unten aus nicht sehen kann?
Ein Astronaut, der in einer internationalen Crew mitflog, schildert seine Erfahrungen:
„Am ersten Tag, wenn man in dem Raumschiff um die Erde kreist, deutet noch jeder auf sein Land: Das ist mein Land, da bin ich zuhause. Am dritten oder vierten Tag zeigt jeder auf seinen Kontinent, in dem seine Heimat liegt. Wenn man aber fünf Tage oder länger unterwegs ist“, fährt der Astronaut fort, „dann achtet niemand mehr auf die Kontinente. Da sieht jeder nur noch die Erde als einen ganzen Planeten. Dann sprechen wir nur noch von unserer Erde.“ Diese Frauen und Männer im Raumschiff wussten eigentlich, was sie erwartete, aber sie hatten es doch noch nie gesehen. Sie entdeckten die Erde als ihre gemeinsame Heimat, bei der die Unterschiede der Völker und Nationen keine Rolle mehr spielen. Sie entdeckten die eine Welt, unsere Welt. Alle Astronauten, die von ihren Erfahrungen berichteten, waren tief ergriffen und berührt von der Schönheit und Zerbrechlichkeit der Erde. Voll ungläubigen Staunens kehrten sie auf die Erde zurück. Der Blick von oben veränderte ihre Sicht auf die Erde.
Der Astronaut Thomas Reiter, der 2006 ein halbes Jahr an Bord der internationalen Raumstation ISS verbrachte, sagt in einem Interview, wie sehr ihn der Blick von außen auf die Erde fasziniert. Er schließt: „Die Prioritäten verschieben sich. Man sieht die Dinge ganz anders.“ Auch der Amerikaner Eugene Cernan, der vor über 40 Jahren mit der Apollo 17 den Mond besuchte, erzählt Ähnliches. Der Flug ins Weltall habe ihn nachdenklicher und religiöser gemacht. Während seiner Mission war ein Foto von der Erde entstanden, das später zur Ikone wurde: Es war die erste Aufnahme, die den Erdball komplett zeigt. Die schimmernde blaue Kugel im sonst tiefschwarzen All erinnerte Cernan an die Zerbrechlichkeit der Erde. Immer wieder starrte er fasziniert auf diesen kleiner werdenden Ball. In einem Interview sagt er: „Du blickst durch die Weite einer halben Million Kilometer schwarzen Weltraums zurück auf den schönsten Stern am Firmament - die Erde. Du verfolgst, wie sie sich dreht, und siehst, dass sie nicht von Seilen gehalten wird, während sie sich in einer Finsternis bewegt, die nahezu unvorstellbar ist.“ Und. „Alles wird relativ von dort oben aus. Mein Gefühl für Zeit hat sich für immer geändert.“
Auch wenn kaum einer von uns je die Chance haben wird, ins Weltall zu fliegen – wir alle brauchen den Blick von oben, um unser Leben neu sortieren und besser wahrnehmen zu können. Schon wenn man einen Berggipfel erklimmt, kann man etwas davon erahnen. Der Ausblick von oben lässt uns aufatmen, weite Horizonte sehen. Er befreit uns von unserem Fixiertsein auf uns selbst und die Kleinlichkeiten des Alltags. Der Blick von oben relativiert das unten und taucht es in ein neues Licht. Die Welt wird „von oben“ zurecht gerückt, sie bekommt wieder eine Form und ist nicht nur bedrückende Komplexität, berufliche Anforderung oder Weihnachtshetze.
Nicht nur die Erde wirkt von oben und von weitem viel schöner, als wenn man sich auf matschigen Straßen durch graue Stadtviertel bewegt. Auch in unseren Beziehungen ist das so. Wenn wir zu dicht aufeinander drauf sind, können wir den anderen nicht mehr in seiner Besonderheit und Individualität wahrnehmen. Das gilt für unsere Kinder, es gilt aber auch für unsere Partnerschaften. Liebe braucht Distanz, um die Schönheit des anderen sehen zu können und sich nicht nur im alltäglichen Kleinkram aufzureiben. Es schadet der Liebe, wenn wir sie mit zuviel Nähe und Intimität belasten und jeder und jede sein Seelenleben ständig vor dem andern offenlegt.
Die Fähigkeit, ein gesundes Maß an Distanz zu wahren, ist elementar für die Liebe. Es bedarf einer gewissen Distanz für intensive Empfindungen. Das ist wie bei der Betrachtung eines Bildes - bin ich zu nah dran, kann ich keine ästhetische Komposition mehr erkennen. Wir brauchen eine gewisse Entfernung von einem Gegenstand, um seine Gestalt und seine Muster wahrnehmen und würdigen zu können. Aus dem Abstand heraus können uns ganz neue Dinge aufgehen, Zusammenhänge, die wir vorher noch nicht gesehen haben. Obwohl die Astronauten gestählte und technikorientierte Naturwissenschaftler sind, entwickeln sie aus der Distanz des Weltalls heraus eine ganz neue, geradezu schwärmerische Liebe zur Erde. Der Blick von oben verändert ihre Perspektive auf das unten. Es ist dieser Blick von oben, der uns an Weihnachten begegnet, ein Blick, der diese Erde mit großer Liebe und Barmherzigkeit betrachtet.
(2) Der katholische Theologe Hans Hafner hat das oben und unten, die Unterscheidung von Transzendenz und Immanenz auf originelle Weise auf den christlichen Glauben bezogen – und das hat, das werden Sie gleich sehen, viel mit Weihnachten zu tun. Mit Himmel und Erde bezeichnen wir seit alters her das oben und unten. Der Himmel ist für unsere alltagsweltliche Wahrnehmung oben, er ist der unsichtbare und unzugängliche Teil von Gottes Schöpfung. Er führt uns Menschen die Grenzen unseres Wissens und unserer Erkenntnismöglichkeiten vor Augen. Der Blick von oben, vom Himmel bewahrt uns vor Selbstüberschätzung und Überheblichkeit. Das haben die Astronauten im Weltraum sehr deutlich so empfunden.
Aber der Himmel ist nicht einfach der Gegensatz zur Erde. Der Himmel ist auch nicht einfach identisch mit Gott. Nach dem biblischen Schöpfungsbericht ist der Himmel vielmehr – erstaunlicherweise – genauso Gottes Geschöpf wie die Erde. Ganz am Anfang der Bibel heißt es: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.“ Wenn sowohl die Erde als auch der Himmel Gottes Geschöpfe sind, dann ist Gott sowohl dem Himmel als auch der Erde gegenüber transzendent. Gott ist so transzendent, dass wir in der Immanenz eigentlich gar nichts über ihn sagen können. Wie sollten wir das von unten aus auch angemessen tun? Deshalb ist die Transzendenz in allen Religionen der klar bevorzugte Wert. Im Christentum allerdings, und das ist bemerkenswert, ist das dann doch nicht so eindeutig der Fall. Denn Gott ist nach christlicher Überzeugung nicht nur auf der Seite der Transzendenz zu verorten, sondern zugleich auch auf der Seite der Immanenz: Gott bleibt nicht oben, sondern kommt nach unten. Er kommt auf beiden Seiten vor, der Seite der Immanenz und der Transzendenz. Gott bleibt nicht Gott, sondern wird Mensch. Gott bleibt nicht in den sicheren himmlischen Sphären, sondern setzt sich den riskanten irdischen Sphären aus. Nicht nur die Transzendenz, sondern auch die Immanenz wird damit als Ort des Heils und der Gegenwart Gottes gewürdigt.
„Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit.“Gott wird Mensch und hält dabei doch konsequent die Perspektive der göttlichen Liebe durch. Das ist Weihnachten. Der engagierte und in unser Leben involvierte Gott überbrückt den unüberbrückbaren Abstand zwischen oben und unten. Das verletzliche Kind in der Krippe ist Gottes große Liebeserklärung an die Erde: „Vom Himmel hoch, da komm ich her, ich bring euch gute neue Mär“. Das Licht des Himmels strahlt über den Hirten auf dem dunklen Feld, es ist im strahlenden Stern über dem Stall in Bethlehem, es umgibt die Engel, die vom Himmel auf die Erde herabsteigen. Das, was eigentlich unsichtbar und unzugänglich ist, erscheint mitten unter uns, und das, was eigentlich niemand wissen kann, wird zum befreienden und erlösenden Wort. Gott kommt von oben zu uns herab, um mitten unter uns zu sein, um Nacht und Dunkelheit zu vertreiben und uns einen neuen, befreienden Blick auf unser Leben zu gewähren.
Es ist für uns Menschen lebenswichtig, dass wir teilhaben an der Liebe Gottes zu dieser Erde, zu dem Boden, der uns trägt, und zu dem Himmel, der sich über uns wölbt, zu den verschiedenen Menschen und Tieren, die diese Erde bevölkern. Gott wurde Mensch, um uns menschlicher zu machen und uns mit seiner Liebe anzustecken. Dass Gott uns liebt, heißt: Ich bin angenommen, ich bin etwas wert, ganz unabhängig von dem, was andere aus mir gemacht haben und auch unabhängig davon, was ich selbst aus mir gemacht habe: Ich bin wertvoll. 
(3) Ich will Ihnen dazu eine Geschichte von Rachel Naomi Remen erzählen, die ich in diesen Tagen im „Anderen Advent“ gelesen habe. Remen erzählt, wie sie in ihrer Kindheit jeden Freitagnachmittag nach der Schule ihren Großvater besuchte. Nachdem die beiden auf ganz besondere Weise ihren Tee zusammen getrunken hatten, stellte der Großvater zwei Kerzen auf den Tisch und zündete sie an. Ich zitiere: „Dann wechselte er auf Hebräisch einige Worte mit Gott. Manchmal sprach er diese Wort laut aus, aber meist schloss er einfach die Augen und schwieg. Dann wusste ich, dass er in seinem Herzen mit Gott sprach. Ich saß da und wartete geduldig, denn ich wusste, jetzt würde gleich der beste Teil der Woche kommen. Wenn Großvater damit fertig war, mit Gott zu sprechen, dann wandte er sich mir zu und sagte: „Komm her Neshumele.“ Ich baute mich dann vor ihm auf, und er legte mir sanft die Hände auf den Scheitel. Dann begann er stets, Gott dafür zu danken, dass es mich gab und dass Er ihn zum Großvater gemacht hatte.
Er sprach dann immer irgendwelche Dinge an, mit denen ich mich im Verlauf der Woche herumgeschlagen hatte, und erzählte Gott etwas Echtes über mich. Jede Woche wartete ich bereits darauf, zu erfahren, was es diesmal sein würde. Wenn ich während der Woche irgendetwas angestellt hatte, dann lobte er meine Ehrlichkeit, darüber die Wahrheit gesagt zu haben. Wenn mir etwas misslungen war, dann brachte er seine Anerkennung dafür zum Ausdrucken, wie sehr ich mich bemüht hatte. Wenn ich auch nur kurze Zeit ohne das Licht meiner Nachttischlampe geschlafen hatte, dann pries er meine Tapferkeit, im Dunkeln zu schlafen. Und dann gab er mir seinen Segen und bat die Frauen aus ferner Vergangenheit, die ich aus seinen Geschichten kannte – Sara, Rahel, Rebekka und Lea –, auf mich aufzupassen.
Diese kurzen Momente waren in meiner ganzen Woche die einzige Zeit, in der ich mich völlig sicher und in Frieden fühlte. In meiner Familie von Ärzten und Krankenschwestern rang man unablässig darum, noch mehr zu lernen und noch mehr zu sein. Da gab es offenbar immer noch etwas mehr, das man wissen musste. Es war nie genug. Wenn ich nach einer Klassenarbeit mit einem Ergebnis von 98 von 100 Punkten nach Hause kam, dann fragte mein Vater: „Und was ist mit den restlichen zwei Punkten?“ Während meiner ganzen Kindheit rannte ich unablässig diesen zwei Punkten hinterher. Aber mein Großvater scherte sich nicht um solche Dinge. Für ihn war mein Dasein allein schon genug. Und wenn ich bei ihm war, dann wusste ich irgendwie mit absoluter Sicherheit, dass er Recht hatte.
Mein Großvater starb, als ich sieben Jahre alt war. [...] es war schwer für mich, ohne ihn zu leben. Er hatte mich auf eine Weise angesehen, wie es sonst niemand tat, und er hatte mich bei einem ganz besonderen Namen genannt – „Neshumele“, was „geliebte kleine Seele“ bedeutet. Jetzt war niemand mehr da, der mich so nannte. Zuerst hatte ich Angst, dass ich, wenn er mich nicht mehr sehen und Gott erzählen würde, wer ich war, einfach verschwinden würde. Aber mit der Zeit begann ich zu begreifen, dass ich auf irgendeine geheimnisvolle Weise gelernt hatte, mich durch seine Augen zu sehen.“
Rachel Naomi Remen führt uns vor Augen, was es heißt, die Welt, unser Leben und das Leben derer, mit denen wir zusammen leben, mit den Augen Gottes zu sehen und zu lieben. Sie zeigt uns, dass Gott nicht oben und fern geblieben ist, sondern dass er unter uns und nahe ist. Gott freut sich an uns und unserem Dasein, wie sich der Großvater an Neshumele freute. Gott macht das Beste aus uns und befreit uns von Kleinlichkeit und Kränkung. Mit dieser göttlich-liebevollen Sicht auf uns selbst gewinnen wir eine innere Festigkeit und Frieden wie Neshumele. Mit diesem Blick aus der Höhe lässt sich das Leben auf Erden neu beginnen und feiern. In diesem Sinn: frohe und gesegnete Weihnachten Ihnen und Euch allen! Amen.
Lied:Vom Himmel hoch, EG 24, 1-3 u. 13
Wesentliche Anregungen zu dieser Predigt verdanke ich:
- Martin M. Penzoldt, Ein Blick von oben, Predigt zum Christfest I, in: Kanzelreden 5, Stuttgart 2012
- Johann Ev. Hafner, Gott ist nicht der Himmel. Die Notwendigkeit einer nichtgöttlichen Transzendenz, in: Das Jenseits, hg. v. S. Schreiber et. al, 143ff.
- Die Erzählung über ihren jüdischen Großvater von Rachel Naomi Remen ist aus: Der Andere Advent 2012, 11.12.12
- Online-Medien (Recherche zu den Zitaten) zu den Astronauten