Der Buchsbaumzweig - Predigt zu Johannes 12,12-19 von Wolfgang Vögele
Der Buchsbaumzweig
Vorbemerkung: Das in der Predigt angesprochene Bild von Alfred Stevens und ein Bild eines geschnitzten Palmesels können abgerufen werden unter: https://wolfgangvoegele.wordpress.com/2015/03/25/palmsonntag-bilder/
„Als am nächsten Tag die große Menge, die aufs Fest gekommen war, hörte, dass Jesus nach Jerusalem käme, nahmen sie Palmzweige und gingen hinaus ihm entgegen und riefen: Hosianna! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn, der König von Israel! Jesus aber fand einen jungen Esel und ritt darauf, wie geschrieben steht (Sacharja 9,9): „Fürchte dich nicht, du Tochter Zion! Siehe, dein König kommt und reitet auf einem Eselsfüllen.“ Das verstanden seine Jünger zuerst nicht; doch als Jesus verherrlicht war, da dachten sie daran, dass dies von ihm geschrieben stand und man so mit ihm getan hatte. Das Volk aber, das bei ihm war, als er Lazarus aus dem Grabe rief und von den Toten auferweckte, rühmte die Tat. Darum ging ihm auch die Menge entgegen, weil sie hörte, er habe dieses Zeichen getan. Die Pharisäer aber sprachen untereinander: Ihr seht, dass ihr nichts ausrichtet; siehe, alle Welt läuft ihm nach.“
Liebe Gemeinde,
zusammen mit Ihnen möchte ich ein Bild betrachten. Es trägt den Titel „Palmsonntag“ und stammt von dem belgischen Maler Alfred Stevens, der 1823 in Brüssel geboren wurde, und 1906 nach langen erfolgreichen Jahren in Paris in seiner Heimatstadt starb. Wer nun auf der Leinwand eine jubelnde Menge, einen Esel mit dem Heiland oder die Stadtmauern Jerusalems zu sehen hofft, der täuscht sich. Statt dessen blicken wir auf den abgedunkelten Innenraum eines Salons. Eine blonde junge Frau, eine Schönheit im langen schwarzen Kleid ist auf einen Sessel gestiegen, um ein hoch an einer grauen Wand angebrachtes kleines Bild zu erreichen. Das Porträt zeigt vermutlich ihre Mutter. Die junge Frau klemmt einen Buchsbaumzweig hinter den Rahmen des Porträts. Sie achtet sorgfältig darauf, daß das Bild nicht vom Haken stürzt. In ihrem Blick liegt eine gewisse Sehnsucht, nach der Mutter, die vielleicht schon nicht mehr lebt. Ihr Blick zeigt eine schwermütige Erinnerung an Kindertage, als man am Palmsonntag in der Wohnung die Buchsbaumzweige aufhängte. Im Blick der jungen Frau liegt auch die kleine Hoffnung, daß der Buchsbaumzweig den ersehnten Segen für ihr Elternhaus und vielleicht auch für sie selbst bringen möge.
Vom gewaltigen Einzug Jesu in Jerusalem ist nur der Buchsbaumzweig übriggeblieben. Aus der Massenszene vor der Stadtmauer Jerusalems ist eine behütete bürgerliche Idylle geworden. Dabei haben unzählige Generationen von Christen die Geschichte von Jesu Einzug in Jerusalem stets mit besonderer Faszination gehört haben. Die Geschichte übte so starke Faszination aus, daß Maler die Szene auf Ikonen und Tafeln festgehalten haben. Im Mittelalter zogen am Palmsonntag riesige Prozessionen durch die Stadt. Dabei zogen angesehene Bürger der Stadt einen lebensgroßen hölzernen Esel mit einer Christusfigur an den jubelnden Menschen vorbei. Die Menge schwenkte begeistert Palmwedel. Wo das Klima das Wachstum von Palmen nicht zuließ, also in kälteren Regionen Europas verwendete man Buchsbaumsträuße als Ersatz. So erklärt sich der kleine Buchsbaumstrauß auf dem Bild des belgischen Malers Stevens. Wenn der sogenannte Palmesel mit dem hölzernen Jesus vorbeigezogen war, nahmen die Zuschauer die Buchsbaumwedel mit nach Hause, um sie dort in der Wohnung aufzuhängen. Davon erhoffte man sich Segen, Gesundheit, Wohlergehen. Die Reformation hat diesen Prozessionen im evangelischen Raum ein Ende gemacht, und diesem Verbot fielen auch die Palm- und Buchsbaumwedel zum Opfer. Die Reformatoren hielten nichts von Palmwedeln und Buchsbaum, weil sie den Verdacht hatten, daß die Menschen ihnen abergläubische Kräfte zuschrieben.
Mir kommt es nicht auf die segensreiche Wirkung von Buchsbaumsträußchen an. Das Buchsbaumsträußchen, das ein Palmwedel sein soll, verknüpft die alte Geschichte vom Einzug mit der Gegenwart. Der frisch geschnittene Buchsbaum bringt Wünsche zum Ausdruck: Ich möchte mit eigenen Augen sehen, wie Jesus auf dem Esel reitet. Möchte ihm zujubeln. Möchte mich für ihn begeistern. Möchte von dieser Begeisterung etwas nach Hause mitnehmen, aus der Vergangenheit in die Gegenwart. Denn in dieser tristen Gegenwart könnte ich ein wenig von der Begeisterung des Glaubens gut gebrauchen.
Begeben wir uns also nochmals mitten in diese Geschichte hinein und schauen uns um in dem, was der Evangelist Johannes erzählt. Im Grunde genommen geschieht ganz wenig: Jesus reitet auf einem Esel nach Jerusalem. Die Menge jubelt mit Palmzweigen. Aus und fertig. Aber der Evangelist reichert diese Geschichte an mit anderen Zeitebenen. Die Gegenwart der Geschichte ist mit Vergangenheit und Zukunft vernetzt.
Johannes erinnert an den Propheten Sacharja. Er hat das schon gesagt, daß der König, Messias, Heiland auf einem Esel in die heilige Stadt einziehen. Die auf den ersten Blick banale Gegenwart stellt sich also als erfüllte, Wirklichkeit gewordene Prophezeiung dar. Verheißung ist Gegenwart geworden.
Und der Evangelist spielt auch die Zukunft in die Anreise nach Jerusalem ein. Später, nach der Verherrlichung, sagt der Evangelist, gingen den Jüngern die Augen auf. Nach der Verherrlichung meint: nach der Auferstehung, nachdem Jesus den Frauen und den Jüngern in Visionen erschienen war. Denn Jesus wurde ja bekanntlich nach seinem triumphalen Einzug in Jerusalem gefangengenommen, gefoltert und hingerichtet. Die Jünger stürzte das in eine große Katastrophe geistlicher Enttäuschung. Sie flohen nach Galiläa, weil sie sich verlassen glaubten. Nachdem ihnen der Auferstandene erschienen war, erkannten sie plötzlich die vielen prophetischen Zeichen, die nicht Jesu Hinrichtung, sondern seine Verherrlichung vorwegnahmen. Der Heilandskönig auf dem Esel wird zwar hingerichtet, aber damit findet sich Gott nicht ab.
Kurzum: In der Gegenwart der erzählten Geschichte, damals als der Esel in Richtung Stadttor trabte, hätte man das alles schon sehen, spüren und glauben können, wie sich Vergangenheit der Verheißung, Gegenwart des anwesenden Heilands und die Zukunft seiner Herrlichkeit in einer Weise vereinten, daß der Menge gar nichts anderes übrigblieb als enthusiastisch zu jubeln.
Man kann die Erzählung also nur verstehen, wenn man sie einbettet in Vor- und Nachgeschichte. Das Netzwerk von Verheißung und Erfüllung, von Gottes Zeit und menschlicher Zeit will berücksichtigt sein. Johannes gelingt es, dieses geistliche Netzwerk der Geschichte in wenigen Andeutungen zu entfalten.
Es wäre allerdings ein Fehler, den Einzug Jesu in Jerusalem nur von seinem Ende her zu betrachten. Wer die Geschichte Jesu nur von der Auferstehung her ansieht, die Johannes Verherrlichung nennt, überspielt die Doppeldeutigkeit der Gegenwart, die Wirklichkeit seines Leidens und auch die Wirklichkeit gegenwärtigen Ungenügens. Der genaue Blick auf die Eselsszene zeigt, daß Johannes auch daran gedacht hat.
Jesus zieht zwar als bejubelter Heiland und König durch das Stadttor, und darin gleicht er dem Feldherrn, der nach siegreicher Schlacht in die Hauptstadt zurückkehrt und dem staunenden Volk Beute und Gefangene präsentiert. Schon darum nimmt das Bild auch etwas leicht Gespenstisches an. Das Jubeln bleibt da doch ein wenig im Halse stecken. Aber der Triumph ist nur eine Facette dieses Einzugs. Der demütige, armselige Esel, auf dem Jesus reitet, kann diese Aura des Triumphs nicht vollständig wegblasen oder beiseite wischen. Nein, auf dem Esel reitet nicht der siegreiche Feldherr, der Staatsmann, der Generalissimus, der mit einer Parade geehrt und belohnt wird. Auf dem Esel reitet der Gefangene, der Hinrichtungskandidat, das Justizopfer.
Der Jubel von Palmsonntag und das Leiden von Karfreitag sind untrennbar miteinander verknüpft. Dieser Jesus auf dem Esel ist gar nicht richtig zu fassen. Der Triumphzug durch das Stadttor ist Einleitung, Ouvertüre, Präludium mit verheißungsvollen, strahlenden Akkorden. Aber es schließt sich die Katastrophe des Karfreitags an. Den demütig triumphierenden Jesus auf dem Esel erwarten Verrat, Verhaftung, Verurteilung. Und Johannes der Evangelist macht uns glauben, daß Jesus das, auf dem Esel sitzend, auch ganz genau wußte. Das Präludium des Triumphzugs ist bei allem Jubel von Mollakkorden durchzogen, welche die Jünger und die große Menschenmenge schlicht überhören, weil sie sich sofort wieder zu angenehmen Harmonien auflösen. Unter den Obertönen des Triumphs liegt der andere düstere Grundakkord, der Schatten der Trauer. Das Volk träumt: Wenn wir solch einen König hätten… Aber diese einfache Hoffnung führt die Menschenmenge in die Irre.
Die Jünger spüren die Doppeldeutigkeit der Szene besonders klar. So gerne sie dem Jubel und der Begeisterung nachgeben würden, so sehr spüren sie auch die Katastrophe, die sich bereits ankündigt, den Fahrstuhl zum Schafott, der sich genauso zwingend aus der Vorgeschichte ergibt wie die Herrlichkeit des Reiches Gottes.
Die Jünger haben das Geschehen des Einzugs nicht verstanden, sagt Johannes. Dieses Unverständnis läßt sie nachdenklich werden. Sie fragen sich, was das Ganze soll, und sie fürchten heimlich, daß der Jubel sich in Niedergeschlagenheit verwandelt. Ich frage mich, ob nicht einer der Jünger diesen leisen Zweifel ausgesprochen hat. Johannes macht darüber keine Bemerkung. Er springt als Erzähler gleich in das Später, in die Zeit, als Jesus bereits verherrlicht war.
Dann, so Johannes, verstanden die Jünger, daß er auf einem Esel einziehen mußte, weil es in der heiligen Schrift so angekündigt war. Dann verstanden die Jünger, daß der Triumphzug des Palmsonntags nicht das Kreuz ankündigte, sondern bereits die Auferstehung. Dann verstanden die Jünger, daß das Leiden am Kreuz nicht der Schlußpunkt der Geschichte Jesu war. Dann verstanden die Jünger, daß Gott selbst in der Geschichte Jesu von Nazareth das letzte Wort hatte. Dann verstanden die Jünger, daß die gesamte Geschichte nicht von willkürlichen Zufällen abhängig war, sondern von Gottes barmherzigem Willen. Dann verstanden die Jünger, daß alle Menschen, nicht nur die Anwesenden, sondern auch die späteren Glaubenden, die Leser des Neuen Testaments in diese Geschichte verwickelt waren. Jeder Glaubende geht mit Jesus vom Jubel des Palmsonntags über den Verrat im Garten Gethsemane, das Leiden auf dem Hügel Golgatha bis zu den beiden Jüngern in Emmaus. Sie erkennen in dem Fremden, der Brot und Wein verteilt, ihren auferstandenen Herrn.
Die gesamte Leidensgeschichte Jesu, an die wir uns in jeder Passionszeit neu erinnern, ist bestimmt von einer tiefen Zweideutigkeit. Im Jubel der Menge, die Hosianna ruft, klingt bereits die Forderung nach der Kreuzigung an, mit welcher die Menge vor Pilatus die Hinrichtung Jesu fordert. Und trotzdem! Trotzdem klingt im Jubel des Palmsonntags schon die Freude über die Auferstehung mit, das Osterlachen, welches das Böse vertreibt.
Deswegen gefällt mir das Bild von der jungen Frau, die im Wohnzimmer einen Buchsbaumzweig hinter den Bilderrahmen heftet. Die junge Frau nimmt ihre Mutter und sich selbst mit hinein in das Hosianna des Palmsonntags, obwohl die Bürger Jerusalems Palmzweige und nicht Buchsbaumsträußchen geschwenkt haben. Der Buchsbaumzweig wird so zum Zeichen der Herrlichkeit Gottes. Deswegen blieb er, obwohl er immer trockener wurde, das ganze Jahr in diesem Wohnzimmer hinter dem Bilderrahmen eingeklemmt. Vielleicht hat ihn niemand der vielen Gäste und Besucher beachtet. Gewiß aber zeigt dieser Zweig etwas von dem, was Gott mit dieser Welt vorhat.
Die Doppeldeutigkeit und Zweideutigkeit dieser Wirklichkeit läßt sich nicht aufheben. Glaube wird stets auch von Zweifel, Jubel stets auch von Trauer begleitet sein. Immer wieder neue Erfahrungen und Erlebnisse schaffen neue Deutungen, zweifelnde ebenso wie sinnstiftende. Jesu Passionsgeschichte zeigt, daß Gott das letzte Wort und die letzte Entscheidung behält. Die Herrlichkeit, von der Johannes spricht, ist nichts anderes als seine Überwindung des Todes in der Auferstehung. Die Jerusalemer Bürger haben darüber gejubelt, auch wenn sie nicht einmal geahnt haben, worüber sie in Wahrheit jubeln. Dieser Jubel leitet eine Geschichte ein, die unmenschliche Trauer, Qual und Schmerz bereithält. Aber diese Trauer bleibt nicht das letzte Wort. Am Ende stimmt das doch, was das Volk ruft: „Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn, der König von Israel!“ Amen.