Der Engel: „Es ist nicht umsonst, die Schriftrolle fest zu halten.“ - Predigt zu Hesekiel 2, 8 + 3,17 * von Ulrich Kappes
2, 8-10 + 3, 1-3 + 3, 14-17

Du, Mensch, höre auf alles, was ich zu dir rede: Sei nicht widerspenstig wie das widerspenstige Haus; öffne deinen Mund und iss alles, was ich dir gebe. Ich schaute und sah eine Hand, die nach mir ausgestreckt war, und in ihr befand sich eine Schriftrolle. er öffnete sie vor mir, und ihre Vorder- und Rückseite war mit Schrift bedeckt. Auf ihr stand geschrieben: „Totenklage und Stöhnen und Leid.“ Er sprach zu mir: Mensch, was auch immer du dort findest, iss! Iss diese Rolle und geh, rede zum Haus Israel. Ich öffnete meinen Mund, und er gab mir diese Rolle zu essen, indem er zu mir sprach: Mensch gib deinem Bau zu essen und fülle deinen Magen mit dieser Rolle, die ich dir gebe. So aß ich sie, und in meinem Mund wurde sie süß wie Honig. Ein Wind hob mich empor und packte mich, und ich ging verbittert,  mein Geist tobte, überwältigt von der Hand JHWHs. Ich kam zu den Exulanten in Tel Abib, die am Fluss Kedar lebten, und wo sie lebten, dort saß ich sieben Tage unter ihnen. Und als die sieben Tage um waren, geschah das Wort JHWH’s zu mir: Du Mensch, ich habe dich  zum Wächter über das Haus Israel bestellt. 1

 

Der heutige Predigttext, liebe Gemeinde ist aus meiner Sicht ein ausgesprochenes Schwergewicht innerhalb der biblischen Texte. Was haben wir gehört? In einem Satz gesagt: Gott fordert Hesekiel auf, eine Schriftrolle zu essen. Gleichzeitig wird geschildert, und damit habe ich den vorgegebenen Predigttext erweitert, welche Folgen es hat, dass der Prophet eine so innige, bis ins Körperliche hineinreichende Verbindung zur Schrift bekam.

„Hesekiel wird zum Propheten berufen.“ Wann geschah das?

597 v. Christus, 22 Jahre nach der Auffindung des „Gesetzes“, belagerte Nebukadnezar, der König von Babylon, Jerusalem. Die Stadt ergab sich. Daraufhin deportierte Nebukadnezar „nur“ die Oberschicht nach Babylon. Unter ihnen war Hesekiel, der Sohn aus dem Geschlecht einer hochrangigen Priesterfamilie. Das Alte Testament versteht dies als Gericht Gottes

An einem der Hügel Babylons, dem Tel Abib, ließen sich die Israeliten nieder. Die Weggeführten mussten sehen, wie sie sich Essen und Arbeit beschafften und sich mit allem Neuen und Fremden arrangieren. Das ging mehr schlecht als recht.

Die Berufung des Propheten Hesekiel beginnt damit, dass er eine Hand sieht, die ihm eine Schriftrolle zeigt. Die Rolle. besteht aus hauchdünnem Leder, auf dem Worte stehen. Er vernimmt die Aufforderung, die Schriftrolle zu essen.

Ich stelle es jetzt zur Seite, ob das tatsächlich geschah2 oder ein mystisches Erlebnis Hesekiels war. Vielleicht wie bei Paulus, der nach einer Christusvision von sich sagte: „(Ich kenne einen Mann), ist er im Leibe gewesen, so weiß ich’s nicht, oder ist er außer dem Leibe gewesen, so weiß ich’s auch nicht“. Und dann folgt der Bericht des Paulus über seine Entrückung. (2. Kor. 12,2 ff.) ‚Habe ich, Paulus, diese Entrückung tatsächlich, im Leibe; erlebt oder mystisch, im Geiste, gesehen und gefühlt? Paulus lässt das offen.

Lassen wir es also auch offen, in welchem Maß Hesekiel „im Leibe“ war oder nicht, ob er „im Geist“ oder „im Leib“ eine Schriftrolle aß.

Die Schriftrolle ist beidseitig mit Texten beschrieben. Es sind Texte der jüdischen Totenklage mit viel „Ach“ und „Weh“. Beim Essen und Herunterschlucken bekommt der Text aber den Geschmack von „süßem Honig“.

Was will uns dieses Erlebnis des Propheten sagen? Wie übertragen wir das Bild von der gegessenen Schriftrolle in unser Leben?

Ich nehme mir die Freiheit, die Szene aus dem Leben Hesekiels von einem Maler deuten zu lassen.

Mark Chagall malte 1933 das Bild „Einsamkeit“. Auf der linken Bildseite ist ein Jude zu sehen. Er trägt über seinen Kopf und Oberkörper einen weißen Gebetsmantel. Das Gesicht ist in die rechte Hand gestützt, die linke umklammert eine Thora-Rolle. Sie ist groß und kompakt, kaum zu halten. Eine kleine Violine schwebt neben ihm durch die Luft.

Neben dem einsamen Mann lagert eine weiße Kuh. Ihr stoisches und sanftes Aussehen wirkt mildernd auf die tiefernste Aussage des Bildes. Dahinter sieht man zwei Türme einer Kirche und die Umrisse einer Stadt. Es ist alles in diese sanfte Metaphorik getaucht, die für Chagall so typisch ist: kein Löwe, kein Drachen, keine Blitze … Am schwarz-blauen Himmel schwebt ein heller Engel.

„1933 – Einsamkeit“ -Ich sehe, dass nach Chagall die Thora und der Jude  eine Einheit, eine vollkommene Einheit bilden. Ein Mensch weiß nicht, wie er seiner Einsamkeit begegnet. Das zeichnet sich auf seinem traurigen Gesicht ab. Er hat nur die Thora. Er umschlingt sie. „Schriftrolle und Mensch bilden eine Einheit“ – Das ist aus meiner Sicht die erste Auslegung von Hesekiels Berufungserlebnis.

Sozusagen am Bild Chagalls, wie an einer Leitplanke, weiter gefragt, was der exklusive Berufungsbericht des Hesekiel für uns als Gemeinde bedeutet, komme ich zu dem Satz: Es geht darum, ob und wie wir mit „der Schriftrolle“ verbunden sind.

An mich ergeht heute nicht mehr und nicht weniger die Aufforderung, in den Fußstapfen des Propheten zu treten. Es geht nicht um das Essen des Wortes, sondern um meine Tat, eins zu werden mit dem Wort.

Vielleicht so, dass ich das „Wort“ in meine Hände nehme, beide Hände nehme und es fest halte. „Halte das Wort Gottes wie du ein Buch mit den Händen hältst. Halte es fest. Wenn du es losgelassen hast, halte es von neuem fest.“

Was aber ist das „Wort“, Was ist mein Wort inmitten der vielen Worte der Bibel?

Ich antworte und ich weiß, dass meine Antwort hinterfragt werden kann. Ich sage: Das „Wort“ aus den vielen Worten der Schrift ist eines, bei dem ich fühle, dass Gott zu mir spricht. Der Punkt liegt nicht auf einer Art „Rosinenpickerei“, sondern darauf, dass ich mich zu entscheiden habe.

Luther hat in seinem Großen Katechismus den vielfach missverstandenen Satz ausgesprochen: „Woran du dein Herz hängst, das ist in Wahrheit dein Gott.“ Es geht dabei nicht um eine Unterscheidung von wichtig und unwichtig, sondern darum, dass ich den Ruf zur Entscheidung höre und antworte. Eben nicht neutral bleibe, sondern „mein Herz an bestimmte Worte hänge.“

Dieses mich wertschätzende „Wort“ ist wie der Brief eines geliebten Menschen. Es ist voller Wärme und spricht zu mir. Es warnt mich aber auch vor Fehltritten und richtet mich. Wie ich den Brief eines geliebten Menschen mit allen meinen Sinnen lese, wie da in dem Brief Worte stehen, die mich ebenso wertschätzen wie hinterfragen, so geschieht es mit dem „Wort“ an mir.

Noch eines will ich zum „Wort“ sagen.

Weder die Propheten haben in ihrer Mehrzahl noch Jesus hinreißende Reden gehalten, die die Massen elektrisiert haben. Ihre Worte waren frei von reißerischen Zutaten. Darum hat das „Wort“ nie mit Demagogie zu tun oder einem Beifall erheischenden Populismus. Es steht vor mir und fragt, wie ich‘ es mit ihm halte. Das Wort will meine Entscheidung in Freiheit.

Bonhoeffer scheut sich nicht zu sagen: „Das Wort ist schwächer als die Idee. So sind auch die Zeugen des Wortes mit diesem Wort schwächer als die Propagandisten einer Idee.“3

Das Wort, das von Anfang an war und  immer bleiben wird, will, so das Johannesevangelium bei uns „wohnen“, weil wir es in aller Freiheit bei uns wohnen lassen. Das macht den Unterschied zu jeder manipulativen Rede.

Zurück zum Propheten!

Was geschah mit Hesekiel, als er das „Wort“ aß?

Hesekiel war trotz des süßen Honiggeschmacks, ich zitiere, „verbittert“. Es war gallig in seinem Inneren. Er blieb an dem Ort des Essens versteinert kleben. Schließlich kam ein Wind und brachte ihn zu den Seinen, zum Hügel Tel Abib. Dort zog er sich von alem zurück, war vollkommen in sich gekehrt und abwesend. Er konnte nicht reden. Jedes Wort blieb ihm im Hals stecken.

War es das? Nein. Hesekiel brauchte „sieben Tage“, bevor er ein anderer wurde. Nach „sieben Tagen“ stand er auf, so ist zu lesen, und ließ sich von Gott zum „Wächter für Israel“ bestellen.

Dieser letzte Teil unseres Predigtabschnittes, ruft uns auf mit Hesekiel, die Zeiten der Leere im Glauben auszuhalten. Es gibt „Tunnel“, die Gott die Seinen durch schreiten lässt. Das bedeutet Bitterkeit und Finsternis. Das ist aber die halbe Wahrhei. Wenn Gottes Wort in meinen beiden Händen ist, ja in mich eingeht, bleibe ich auf Dauer nicht derselbe. Wann und wo es eine Veränderung gibt, liegt bei Gott. Es gibt sie aber, siehe Hesekiel. Das ist die starke Botschaft dieses Textes an uns.

Chagall hat hinter den einsamen Juden mit der Schriftrolle in der blau-schwarzen Nacht einen Engel gemalt. Er schwebt leicht und luftig in einem weiß-silbrigen Gewand am Himmel. Eine gedachte Diagonale verbindet ihn mit dem einsamen Juden. Ist der Engel ein feines, sparsames Hoffnungszeichen des Malers, dass es nicht umsonst ist, die Schriftrolle fest zu halten? Bei Hesekiel in die Schule gegangen, will ich es so sehen.

ANMERKUNGEN
1 I Übersetzung nach Moshe Greenberg, Ezechiel 1-20, Freiburg, Basel, Wien 2001, S. 77 ff.
2 I Moshe Greenberg versteht es körperlich: „Ihm wird eine Schriftrolle übergeben … die er, in pflichtgetreuer Antwort auf die ihm erteilten Befehle, auf wunderbare Weise verschlingen kann.“ Moshe Greenberg, a.a.O., S. 79.
Walter Zimmerli nimmt zum tatsächlichen Vorgang keine Stellung, deutet ihn (nur): „Das Essen der Buchrolle ist die Zubereitung des Propheten zur Verkündigung." W. Zimmerli, Ezechiel, Neukirchen-Vluyn 1969, S. 77.
3 I Zitiert nach Eberhard Bethge, Dietrich Bonhoeffer, Berlin 1967,
Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrer em. Dr. Ulrich Kappes

1.    Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Meine Frau und ich leben nun zehn Jahre in Luckenwalde, einer Kreisstadt ca. 5o km süd-lich von Berlin. Die Gottesdienstgemeinde möchte, dass die Predigt Schriftauslegung ist. Mit zahlreichen Freikirchen in Luckenwalde geht es auch der landeskirchlichen Orts-gemeinde um das „Wort“, weniger die Liturgie. „Wenn am Sonntag die Glocken ertönen, besteht die Erwartung eines großen Geschehens.“ (Niklaus Peter, Zürich, über Karl Barths Theologie). Stark heruntergebrochen trifft das auch auf die Kerngemeinde hier zu.


2.    Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Das beherrschende Bild des Predigttextes vom „Essen einer Schriftrolle“ hat mich am Anfang alles andere als beflügelt .Ich empfand es als anstößig und wenig kompatibel mit einem aufgeklärten Glauben. „Wie soll hier bloß eine schlüssige Hermeneutik ge-lingen?“
Sehr hilfreich war mir der Kommentar von Moshe Greenberg(siehe Anmerkungen), der mit keinem Wort die so nahe liegende Befremdlichkeit reflektiert, sondern in den Versen 3,14-17 die notwendige Dublette zu dem schwierigen Bild von 3, 1-3 erarbei-tet.


3.    Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Ja, das ist natürlich auch eine Predigt an mich selbst. Ich denke, dass diese kolossale Eindringlichkeit des Bildes vom Essen der Schriftrolle ihre starke Seite hat: „Lebe ich vom Wort, so dass es in mich eingeht oder laufe ich weg, weil es einfach zu fremd und kompliziert ist?“ Es geht in diesem Text nicht bloß um das Lesen des Wortes, sondern darum, dass es ein Teil von mir wird. Das ist der Punkt, die andere Qualität bei Hesekiel.


4.    Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Predigt hatte in ihrer 1. Fassung und auch in der „Zwischenbilanz“ (2. Fassung) ei-ne stark abweichende Gestalt von der Letztfassung. Hier hat mir der Predigtcouch, Herr Jan Mathis, substantiell geholfen: einmal die Predigt auf die Verse ab 2,8 ff. zu fokussieren, also das Thema „Gerichtspredigt“ der Verse ab 2,5 ff wegzulassen und zum anderen, persönliche Worte zu sagen, wie ich selbst das Bild vom Essen der Schriftrolle sehe..

 

Perikope
16.02.2020
2, 8-10 + 3, 1-3 + 3, 14-17