Komm, Schöpfer Geist! - Predigt zu Ez 37,1-14 von Olaf Waßmuth
37 1 Des Herrn Hand kam über mich, und er führte mich hinaus im Geist des Herrn und stellte mich mitten auf ein weites Feld; das lag voller Totengebeine. 2 Und er führte mich überall hindurch. Und siehe, es lagen sehr viele Gebeine über das Feld hin, und siehe, sie waren ganz verdorrt.3 Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, meinst du wohl, dass diese Gebeine wieder lebendig werden? Und ich sprach: Herr, mein Gott, du weißt es.
4 Und er sprach zu mir: Weissage über diese Gebeine und sprich zu ihnen: Ihr verdorrten Gebeine, höret des Herrn Wort! 5 So spricht Gott der Herr zu diesen Gebeinen: Siehe, ich will Odem in euch bringen, dass ihr wieder lebendig werdet. 6 Ich will euch Sehnen geben und lasse Fleisch über euch wachsen und überziehe euch mit Haut und will euch Odem geben, dass ihr wieder lebendig werdet; und ihr sollt erfahren, dass ich der Herr bin.
7 Und ich weissagte, wie mir befohlen war.
Und siehe, da rauschte es, als ich weissagte, und siehe, es regte sich und die Gebeine rückten zusammen, Gebein zu Gebein. 8 Und ich sah, und siehe, es wuchsen Sehnen und Fleisch darauf und sie wurden mit Haut überzogen; es war aber noch kein Odem in ihnen. 9 Und er sprach zu mir: Weissage zum Odem; weissage, du Menschenkind, und sprich zum Odem: So spricht Gott der Herr: Odem, komm herzu von den vier Winden und blase diese Getöteten an, dass sie wieder lebendig werden! 10 Und ich weissagte, wie er mir befohlen hatte. Da kam der Odem in sie, und sie wurden wieder lebendig und stellten sich auf ihre Füße, ein überaus großes Heer.
11 Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, diese Gebeine sind das ganze Haus Israel. Siehe, jetzt sprechen sie: Unsere Gebeine sind verdorrt, und unsere Hoffnung ist verloren, und es ist aus mit uns. 12 Darum weissage und sprich zu ihnen: So spricht Gott der Herr: Siehe, ich will eure Gräber auftun und hole euch, mein Volk, aus euren Gräbern herauf und bringe euch ins Land Israels. 13 Und ihr sollt erfahren, dass ich der Herr bin, wenn ich eure Gräber öffne und euch, mein Volk, aus euren Gräbern heraufhole. 14 Und ich will meinen Odem in euch geben, dass ihr wieder leben sollt, und will euch in euer Land setzen, und ihr sollt erfahren, dass ich der Herr bin. Ich rede es und tue es auch, spricht der Herr.
Liebe Gemeinde,
was ist das eigentlich für ein Fest? Das fragen sich bei Pfingsten viele. Wenn sie überhaupt noch fragen. Wir Pfarrerinnen und Pfarrer mühen uns um anschauliche Erklärungen, und so ist eine der beliebtesten Antworten der letzten Jahre die: Pfingsten ist der Geburtstag der Kirche! Ja, und Geburtstage muss man feiern: zum Beispiel mit bunten Luftballons und selbstgebastelten Windrädern, weil es doch um Gottes Geist geht, der luftig ist und voller Energie. Das passt auch in die beginnende Saison der Freiluftgottesdienste. Pfingsten: ein fröhliches und optimistisches Fest, in hellen Farben und mit leichten Stoffen- und passend zum Geburtstag am besten noch mit Sekt und Blumen im Sonnenschein. So stelle ich mir das gerne vor.
In diesem Jahr trifft Pfingsten auf eine ganz andere Stimmung, eine, die nichts mit dem Wetter zu tun hat, aber viel mit der gesellschaftlichen Großwetterlage. Kirche kommt da fast nur noch in Negativschlagzeilen vor. Aus der Kirche austreten ist kein Tabu mehr; im Gegenteil: Inzwischen muss sich erklären, wer noch bleibt. Kirchliche Privilegien werden öffentlich in Frage gestellt. So manches in der Kirche wird geschlossen, abgebaut, fusioniert. Das alles schlägt auf die Stimmung und Motivation derer durch, die sich engagieren, die viel Zeit und Kraft investieren, damit an der Basis etwas passiert. Lohnt sich das noch?
Das Schlimme ist ja: Viel Kirchenkritik speist sich aus Ahnungslosigkeit und Klischees - aber eben nicht alle! Die sog. ForuM-Studie über sexuellen Missbrauch in der evangelischen Kirche hat Übles zutage befördert – nicht nur, was einzelne Täter betrifft, sondern auch im Blick auf Strukturen, die solchen Missbrauch erleichtern und die Schuldigen schützen. Eine geradezu biblische Niedergeschlagenheit macht sich in unserer Kirche breit, die erkennen muss: Wir sind nicht besser als die anderen. Schuld steht im Raum, zumindest durch Unterlassung und Wegschauen. Den Geburtstag der Kirche feiern? Lieber nicht. Die Party ist abgesagt.
Irgendwie passt es da, dass der Predigttext für heute ein Abschnitt aus dem Prophetenbuch Hesekiel ist, der extrem düster daherkommt. (Wir haben ihn eben als Lesung gehört). Der Prophet Hesekiel (oder Ezechiel), der im 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung mit dem Volk Israel ins Exil nach Babylon gegangen ist, berichtet von einer Vision. Wie immer bei ihm fühlt sich diese Vision ganz handgreiflich und real an. Er wird auf ein Feld geführt, dessen Szenerie an Horrorfilme erinnert. Soweit das Auge reicht, liegen Skelette auf einer Ebene. Eine Landschaft aus verdorrten Knochen. Natürlich denkt man da gleich an ein Schlachtfeld, zumal in Zeiten des Krieges. Aber wir erfahren nicht, woran diese Toten gestorben sind. Wir hören sie nur rufen: „Wir sind ganz und gar vertrocknet, wir haben keine Hoffnung mehr, es ist aus mit uns.“ Eine markerschütternde Klage.
Was dann passiert, hat sich in unserer Tradition eher mit Ostern verbunden als mit Pfingsten: Vor den Augen des Propheten geschieht ein gewaltiges Wunder. Die Toten werden wieder lebendig. Der Verwesungsprozess wird umgekehrt: Knochen fügen sich zusammen, Muskeln, Sehnen und Haut wachsen darüber; der Lebensatem kehrt zurück, und leibhaftige Menschen stehen in großer Zahl auf. Die leibliche Auferstehung, eine christliche Kernhoffnung, hat hier, so scheint es, einen starken Beleg. Wenn’s auch ein wenig gruselig wirkt.
Wer genauer hinschaut, merkt aber: Es geht hier gar nicht um ein physisches Ereignis. Es geht nicht um leibhaftige Untote. Der Prophet schaut die Vision als ein Gleichnis. Und dieses Gleichnis wird im Hesekielbuch auch gedeutet: Die Toten sind keine Soldaten, die von irgendwelchen Gegnern abgeschlachtet wurden. Es ist das Volk Israel als Ganzes, das eine kollektive Erfahrung der Lähmung und Leblosigkeit macht. Es ist das Volk Israel als Ganzes, das sich in bitteren Jahren des Exils um seine Existenz und Zukunft gebracht fühlt. Und dem der Prophet deutlich macht, dass es an seiner Misere auch selbst schuld ist. Nicht bloß die anderen, nicht bloß fremde Mächte. „Wir sind ganz und gar vertrocknet, wir haben keine Hoffnung mehr, es ist aus mit uns.“
An einer katholischen Hochschule in Münster gibt es schon länger ein Institut, das forscht über „geistliche Trockenheit“. Ja, diesen Begriff gibt es. Und das Ergebnis der Münsteraner Forschungen ist: Es kann sogar bei den Hochverbundenen, unter Mönchen und Nonnen, Pfarrern und anderen Kirchenprofis vorkommen, dass ihr eigener Glaube ihnen schal und leblos vorkommt. Dass ihre eigenen Überzeugungen sie nicht mehr trösten. Dass sie das Gefühl haben, von Gott vergessen zu sein. Dass Pessimismus und Depression die Überhand gewinnen: „Wir sind ganz und gar vertrocknet, wir haben keine Hoffnung mehr, es ist aus mit uns.“ Man kann in solchen Phasen der „spirituellen Trockenheit“ richtig krank werden. An Leib und Seele. Man kann sich – gar nicht so selten, wie die Untersuchung feststellt -- auch in übertriebenen Aktionismus flüchten: ständig umräumen, immer neue Projekte anfangen, große Pläne schmieden. Oder – man hält solche Erfahrungen wirklich aus; am besten, indem man jemanden findet, mit dem man darüber offen reden kann.
Hesekiel, der Prophet, so lese ich sein Buch, erlebt sein Volk in einer Phase der geistlichen Trockenheit. Alles scheint in Frage gestellt. Eigene Schuld drückt. Geredet wird darüber selten. Mal macht das den Propheten wütend, mal einfach nur traurig. Über lange Phasen hinweg schweigt er selbst – aber hin und wieder bricht es aus ihm heraus: Anklagen, Forderungen, Frust. Er kann dann drastische Worte finden. Er provoziert auch gerne. Doch das Echo ist gering. Unter den Israeliten ist eine drückende Gottesferne zu spüren. Ein Schweigen und Verdrängen. Und nur manchmal auch Selbstzweifel: Sind wir noch zu gebrauchen? Die Zukunft ist offen und ungewiss. Kommt da noch was?
Und dann kommt das: Eine Vision, die die bisherige Verkündigung des Hesekiel auf den Kopf stellt. Die den Blick dramatisch nach vorne lenkt – auf Gott, der selbst aus dem, was tot und vertrocknet ist, etwas Neues schaffen kann. Der auch Menschen, die sich selbst aufgegeben haben, zu neuem Leben erweckt. Plötzlich und unverhofft, aus heiterem Himmel kommt der Wind auf und weht die Knochen aus allen Richtungen an. Wie vorzeiten in der Schöpfung ist es Gottes Atem, der Neues schafft, sein Odem, wie es in der Übersetzung heißt. In der hebräischen Bibel, so muss man wissen, sind Atem, Wind und Geist dasselbe Wort. Ha ruach. Gottes Geist schafft neues Leben.
Es geschieht nicht nur einmal in der Bibel. Es geschieht immer wieder. Es geschah auch fünfzig Tage nach Ostern in Jerusalem, am Pfingstfest, als die Jüngerinnen und Jünger Jesu sich verunsichert hinter verschlossenen Türen versteckten und keine Ahnung hatten, was jetzt als nächstes kommt. Es kam der Geist, Gottes Odem, der Schöpfer-Geist, der selbst aus dem Tode Leben wecken kann. Der den Staub wegbläst, das Vertrocknete löst, das Zerschlagene neu zusammenfügt, Muskeln und Sehnen wachsen lässt: Kraft im Kraftlosen.
Es geschieht nicht nur in der Bibel. Es kann jederzeit geschehen.
Es kann mit Deinem vertrockneten Glauben geschehen, mit der quälend empfundenen Gottferne, mit Deinem „Es lohnt sich ja doch nicht mehr“-Gefühl, mit Deiner Lustlosigkeit und Erschöpfung. Plötzlich fährt Gottes Atem hinein. Und neues Leben wird möglich. Neue Perspektiven tun sich auf.
Es kann mit unserer Kirche geschehen, mit allem, was darin erneuerungsbedürftig und vertrocknet ist. Es kann mit unserer Kirche geschehen – ja, ich glaube: es muss mit unserer Kirche geschehen.
Wenn nicht Gottes Geist, sein Lebensatem unsere Kirche erneuert, wenn nicht er uns eine lebendige Hoffnung, brennende Liebe, Lust auf sein Wort und Leidenschaft für die Wahrheit schenkt, dann können wir noch so viel an kirchlichen Strukturen herumbasteln – dann wären das alles tote Knochen.
Wir feiern Pfingsten nicht den Geburtstag der Kirche.
Jedenfalls feiern wir nicht uns selbst. Wir feiern Pfingsten das, was unsere Kirche am nötigsten braucht: Gottes Geist, den Geist des Lebens, den niemand einfängt und besitzt. Der weht, wo er will – der lebendig macht und Neues schafft. Dieser Geist ist unsere Hoffnung. Die Hoffnung, dass es mit uns, auch mit unserer Kirche, noch nicht aus ist. Dass Gott noch etwas mit uns, und auch mit unserer Kirche, vorhat.
Zu Pfingsten feiern wir Gottes Geist, oder besser, genauer noch:
Wir bitten um ihn mit großer Dringlichkeit.
Wir rufen nach neuer Lebendigkeit.
Zum Beispiel mit den Worten unseres ältesten Pfingstliedes, das den Bogen schlägt von der Schöpfung der Welt zu Gottes wiederbelebender, neu schaffender Kraft: Veni creator spiritus!
Luther übersetzt:
Komm, Gott Schöpfer, Heiliger Geist,
besuch das Herz der Menschen dein,
mit Gnaden sie füll, denn du weißt,
dass sie dein Geschöpfe sein.
Wir sind Gottes Geschöpfe. Gott blickt uns gnädig an.
Darum wird es wieder geschehen: Gottes Geist kommt:
Da gibt es dann nichts zu erklären; wer es erlebt, der versteht.
Gottes Geist kommt – das wird ein Fest!
Vielleicht auch mit Blumen und Luftballons.
Wir stellen den Sekt schon mal kalt.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Predigt wird gehalten in einer gut bürgerlichen, mittelständischen Gemeinde einer norddeutschen Kleinstadt. Es gibt zahlreiche, auch jüngere Ehrenamtliche; gerade ist ein neuer Kirchenvorstand gewählt. Zu Pfingsten finden womöglich auch einige Fahrradtouristen den Weg in die zentral gelegene Kirche. Wenige Tage vor dem Gottesdienst gab es eine Veranstaltung zum Thema „Sexueller Missbrauch in der Evangelischen Kirche“, ohne konkreten Ortsbezug allerdings.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Im letzten Jahr las ich mehrere Artikel, die die Formulierung „Pfingsten ist der Geburtstag der Kirche“ kritisierten und die mir einleuchteten. Die Frage, was feiern wir eigentlich, hat sich für mich zu dem Gedanken hin verschoben: Wir feiern nicht uns selbst, sondern die Kraft, die uns lebendig macht. So stimmt es – und so kann auch in Zeiten kirchlicher Selbstzweifel die Freude an Pfingsten bleiben.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Aus dem Bibeltext kam mir das Stichwort „vertrocknet“ entgegen, das für mein eigenes Empfinden viel anschlussfähiger ist als „tot“. Mir war noch nie aufgefallen, dass die Totengebeine sprechen und sich selbst so bezeichnen.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
In der ersten Version hatte ich den Propheten als Seelsorger seines „vertrockneten“ Volkes dargestellt – das hat mir die Predigtcoach nicht geglaubt, zu Recht. Auf ihren Hinweis hin habe ich unter anderem die Rahmung mit dem Thema „Fest“ etwas verstärkt.
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Sehnsucht nach dem guten Leben - Predigt zu Ez 34,23-31 von Isolde Karle
Liebe Gemeinde,
Sehnsucht nach dem guten Leben
An Weihnachten sind viele von uns voller Sehnsucht. Sie sehnen sich nach Gemeinschaft und Geborgenheit. Viele denken an Weihnachten, aber auch an die großen, Besorgnis erregenden politischen Entwicklungen. Sie spüren die Sehnsucht nach Frieden in diesem Jahr besonders schmerzlich. Seit Februar tobt Krieg in der Ukraine, mitten in Europa. Viele sehnen sich auch nach Freiheit und Gerechtigkeit – wir denken in diesen Tagen besonders an den Iran, wo junge Menschen barbarisch unterdrückt und verfolgt werden. Und nicht zuletzt sehnen wir uns nach einer Lösung für die Klimakrise. Wie können wir die Erderwärmung in einem akzeptablen Rahmen halten? Wie kann man Menschen motivieren, den anspruchsvollen Weg in eine lebbare Zukunft mitzugehen?
Unsere weihnachtliche Sehnsucht verlangt keine Wunder, sie ist nicht überdimensioniert. Wir sehnen uns lediglich nach einem guten Leben ohne allzu bedrückende Sorgen für uns und unsere Nachkommen – schon das wäre ganz wunderbar.
Der Prophet Ezechiel hat auch keine überbordenden Erwartungen. Seine Sehnsucht treibt ihn nicht ins Unvorstellbare. Ezechiel verkündet eine eher bescheidene Vision angesichts von herben Enttäuschungen, die er verkraften muss. Sein Volk war im Exil in Babylon. Jerusalem und der Tempel waren zerstört. Dann kehren die Deportierten endlich zurück – voller Erwartung, dass nun alles gut werden wird, dass sie wieder frei sind und in ihrer Heimat gut leben können. Doch die Heimkehr erweist sich nicht einfach als Happy End. Erneut werden Arme von Reichen übervorteilt. Die Leitungsfiguren sind unfähig und korrupt. Es herrschen Unsicherheit und Angst. Die Verhältnisse – sie sind nicht so.
In diese Situation hinein formuliert der Prophet seine Vision. Mitten in Verunsicherung und Angst spricht Ezechiel von der Hoffnung auf Sicherheit und Frieden. Die poetischen Bilder, die er dazu verwendet, bleiben in einem realistischen Rahmen. Während Jesaja eine kosmische Vision von einem Tierfrieden malt, bei dem der Löwe Stroh fressen wird und kleine Kinder sorglos mit wilden Tieren spielen können, geht es Ezechiel „nur“ um eine Eindämmung von Gewalt: Er hofft darauf, dass die wilden Tiere nicht mehr Menschenleben zerstören, sondern jeder sicher schlafen kann, auch in der Wüste und in den Wäldern. Er will, dass Gott das Land segnet, damit es seinen Ertrag bringen kann. Deshalb hofft er auf „gnädige Regen“, die dafür sorgen, dass das Land nicht austrocknet, aber auch nicht überflutet wird. Feld und Bäume sollen ihre Früchte tragen, damit die Menschen nicht hungern müssen. Und schließlich hofft der Prophet darauf, dass die Menschen nicht mehr schlecht und ungerecht regiert werden, sondern frei und unabhängig in Frieden leben können.
Ezechiel weiß, dass die Welt ein gefährlicher Ort ist und bleibt. In diese Gefährdetheit hinein verkündet er seine Vision von einem guten Leben. Und er weiß Gott dabei auf seiner Seite: Sechs mal sagt Gott „ich will“ – Gott will – und Gott will es unbedingt! –, dass diese Erde bewohnbar ist und bleibt, dass wir gut miteinander und mit der Schöpfung umgehen. Gott will das gute Leben.
Es gibt die guten Hirten
Ein Bild in unserem Text verbindet sich in besonderer Weise mit der Weihnachtserzählung – es ist das Hirtenbild. Ezechiel beklagt, dass es in Israel häufig nur schlechte Hirten gab. Bei Hirten dachte er an diejenigen, die für das Volk Verantwortung tragen. Der Prophet hofft deshalb auf einen neuen Hirten, einen neuen David, der politisch anders agieren wird als die politischen Führer seiner Zeit – nämlich gerecht, fürsorglich und den Frieden erhaltend. In einem solch guten Hirten ist Gott selbst präsent. Davon ist Ezechiel überzeugt. In den menschlichen guten Hirten wirkt Gott selbst als guter Hirte und weidet seine Herde, wie es in Vers 31 heißt.
Auch in der Weihnachtsgeschichte spielen die Hirten eine prominente Rolle. In Lukas 2 sind es die Hirten auf dem Feld, die als erste von der Weihnachtsbotschaft erfahren. Der Himmel öffnet sich und die Engel verkünden den Hirten, dass der Heiland der Welt geboren ist. Das Erstaunen der Hirten ist groß: Plötzlich ist die dunkle Nacht taghell und werden ausgerechnet sie – die Ärmsten der Armen – auserwählt, um die himmlische Botschaft zu hören. Zunächst fürchten sich die Hirten, aber dann begreifen sie rasch, dass hier etwas Wunderbares geschieht. Sie lassen sich von der Engelsbotschaft ergreifen und machen sich sofort auf den Weg nach Bethlehem. Und sie finden den Stall und Maria und Josef und das Kind in der Krippe liegen. Die Hirten preisen und loben Gott, so heißt es bei Lukas. Sie haben begriffen, dass Gott bei ihnen ist, dass diese Welt nicht verloren ist. Sie sind tief berührt und erzählen allen davon, denen sie begegnen. So werden die Hirten der Weihnachtserzählung zu den eigentlichen Hoffnungsträgern, nicht die Mächtigen der Welt.
Die Hirten auf dem Feld sind gute Hirten, obwohl sie keine Macht und nur eingeschränkte Handlungsmöglichkeiten haben: Sie hören auf Gottes Botschaft und glauben ihr. Lukas weiß, dass die Wende nicht einfach von oben kommt, sondern dass alle, die sich für die Botschaft des Kommens Gottes öffnen, zu guten Hirten werden und zum guten Leben beitragen können. Ich bin sicher, dass Lukas die Hirtenrede des Ezechiel bei seiner Weihnachtserzählung im Kopf hatte. Auch Lukas kennt die Enttäuschung. Auch Lukas ist Realist. Wie Ezechiel erzählt Lukas von Dunkelheit und Licht, von einer Sensibilität für die Gefährdung wie der Vision von Frieden und Gerechtigkeit. Wie Ezechiel ist Lukas voller Hoffnung, dass es inmitten all der schlechten Hirten auch gute Hirten gibt. Dass Gott kommt und die Welt nicht sich selbst überlässt:
Es gibt sie, die guten Hirten. Der gute Hirte ist ein zentrales Motiv in Jesu Gleichnissen. Der gute Hirte sucht das verlorene Schaf, er setzt alles dafür ein und freut sich über die Maßen, als er es endlich gefunden hat. Auch der barmherzige Samariter ist ein guter Hirte, der einen halb tot am Straßenrand Liegenden rettet und ihn weit über das Erwartbare hinaus versorgt. Der Vater im Gleichnis vom verlorenen Sohn ist ein guter Hirte, der sich überschwänglich freut, als sein verlorener Sohn zu ihm zurückkehrt und ein neues Leben anfängt. Und das Wichtigste: Jesus selbst ist der gute Hirte. So sagt es das Johannesevangelium. Jesu Botschaft und sein Leben der Hingabe sind Ausdruck eines guten Hirtenamtes für die Menschen und für diese Welt.
Es gibt sie – die guten Hirten! Das ist die Weihnachtsbotschaft des Ezechiel. Gott selbst ist in ihnen gegenwärtig. Gott wohnt in den guten Hirten mitten unter uns und will mit ihnen – und mit uns! – die Erde bewohnbar erhalten und gutes Leben ermöglichen.
Weihnachten als Gegenbild
Weihnachten ist ein Gegenbild zu unseren negativen Erfahrungen mit schlechten Hirten. Wir brauchen solche Gegenbilder und Verheißungen von einem guten Leben, sonst vertrocknen wir. Sonst lassen wir uns von der Erfahrung des Krieges den Mut nehmen. Sonst verzweifeln wir angesichts dessen, was im Iran mit jungen Menschen geschieht. Sonst verlieren wir die Hoffnung angesichts des Klimawandels.
Die weihnachtlichen Erzählungen von den guten Hirten, vom Kind in der Krippe, von der Sehnsucht nach einem guten Leben blenden Gefährdung und Angst nicht aus. Aber sie rahmen die Gefährdung durch Hoffnung und Zuversicht. Weihnachten heißt: Gott ist bei uns und wohnt mitten unter uns. Gott wohnt sogar in uns, wenn wir uns wie die Hirten auf dem Feld von der Weihnachtsbotschaft anstecken und uns in die Pflicht nehmen lassen. Auch wir sollen füreinander gute Hirten sein. Und wir können gute Hirten sein. Heute an Weihnachten und morgen wieder im Alltag. Davon singen wir und dies feiern wir in dieser Heiligen Nacht.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Es ist Heiligabend. Nachdem die meisten Menschen mit ihren Familien und Freunden Weihnachten gefeiert haben, kommen sie um 22h noch einmal in die Kirche. Jetzt können sie die Ruhe genießen, das Kerzenlicht, die Musik und eine Predigt, die zum Nachdenken anregt. Da sich das Jahr zum Ende neigt, denken viele nicht nur an ihre Wünsche und Sehnsüchte mit Blick auf Weihnachten, sondern auch an das zu Ende gehende Jahr, das 2022 besonders viel Anlass zur Sorge gab. Vor diesem Hintergrund wurde die Predigt geschrieben.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Exegese dieses sehr ungewöhnlichen Textes, der mich zunächst geärgert hat, weil er gar nicht zu Weihnachten zu passen schien. Dass Ezechiel – anders als Jesaja – eine realistische, keine utopische Vision entwickelt, hat mich dann sehr angesprochen und führte zur Predigtidee. Die Sehnsucht nach dem guten Leben ist nichts Utopisches, sondern etwas allgemein Menschliches.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Das habe ich unter 2. schon angesprochen: Es geht nicht um das Unmögliche, aber doch darum, Hoffnung auch dann zu haben, wenn sie sich nicht nahelegt, wenn die Resignation viel näher läge als die Zuversicht. Und Grund zur Hoffnung sind die guten Hirten – es gab sie damals, es gibt sie heute. Jesus selbst ist der gute Hirte, der uns dazu verpflichtet, selbst gute Hirten zu sein.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Meine Predigt wurde von meinem Mann intensiv redigiert. Ihm verdanke ich die klare Gliederung, die ich ohne ihn nicht hinbekommen hätte. Der Text blieb für mich schwer zu predigen, auch wenn ich ihm einiges abgewinnen konnte.
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"So sorry!" - Predigt zu Ez 18,1-4.21-24.30-32 von Matthias Rein
Liebe Gemeinde,
im Mai 1985 stehe ich mit zwei Freunden auf einer kleinen Bergstraße, die in das rumänische Retezat-Gebirge führt. Hinter uns liegen 18 Monate Armeezeit in der NVA. Vor uns liegen die Berge, da wollen wir wandern und die Freiheit genießen. Ein klappriger LKW hält, wir steigen auf zu den anderen Mitfahrenden auf der Landefläche, Menschen aus dem Bergdorf, die zum Feierabend nach Hause fahren. Zerfurchte, müde Gesichter. Mit wenigen Worten verständigen wir uns.
„Wo kommt ihr her?“, fragt einer.
„Aus Deutschland.“
„Da war ich mal“, antwortet ein älterer Mann.
„Im April 1945.“
Wir schauen uns an und wissen Bescheid. Der deutsche Krieg hat dafür gesorgt, dass es diesen einfachen Mann aus den rumänischen Bergen in die fast 1500 km entfernte deutsche Hauptstadt verschlug. Er schaut stumm vor sich hin, da auf der LKW-Ladefläche, die Erinnerungen sind da, vierzig Jahre später. Wir Jungen, 20 Jahre alt, wecken Erinnerungen, Erinnerungen an Krieg und Grauen.
All das, liebe Gemeinde, ist heute neu präsent mit den Bildern und Berichten aus der Ukraine. Bomben auf Häuser, Krankenhäuser, Schulen, Gärten. Menschen voller Angst in Kellern, flüchtende Mütter mit dem Kind an der Hand. Frische Gräber, massenhaft.
Die Erinnerungen der Generation sind da. Meine Mutter, 9 Jahre alt mit drei Schwestern und der Mutter auf dem Pferdewagen im Februar 1945 auf der Flucht von Westpreußen gen Westen. Von Dorf zu Dorf. Eine verschworene Gemeinschaft. Es ging ums Überleben. Sie hatten Glück und kamen unversehrt an in einem Dorf in Mecklenburg. Der Krieg war zu Ende. Prägende Erfahrung für ein ganzes Leben: Todesangst, Bewahrung, verlorene Heimat, verlorene Sicherheit. Viele Menschen aus dieser Generation blieben nach dem Verlust der Heimat Fremde ihr Leben lang. Ihre Überlebensstrategie: Zähne zusammenbeißen, Gefühle außen vor lassen, sonst droht der Zusammenbruch, lieber auf sich selbst verlassen, als von anderen abhängig sein, Einsamkeit. Das gaben sie weiter an die nächste Generation.
Die Väter haben saure Trauben gegessen und den Kindern und Kindeskindern sind die Zähne stumpf geworden.
Auf der Bergstraße in Rumänien an diesem Maiabend habe ich erfahren, wie mich dies betrifft.
Einfache Wahrheiten gibt es da nicht. Wer ist schuld an den Verbrechen der Deutschen? Was hat das mit mir zu tun, zwanzig Jahre nach Kriegsende geboren? Es spielt eine Rolle, was ich dazu sage, wie ich mich verhalte, vor allem gegenüber den Opfern.
Unsere Väter haben die sauren Trauben gegessen und uns Kindern sind die Zähen stumpf geworden.
So sagen die Menschen in Babylon. Sie bezahlen für das falsche Tun ihrer Väter und Mütter. Israel hat sich von Gott abgewendet und deshalb alles verloren: das Land, den Tempel in Jerusalem, den König. Und nun sitzen sie in Babylon, gefangen, ohne Heimat, ohne Zukunft. Wer trägt die Verantwortung, die Schuld?
Unsere Väter haben die sauren Trauben gegessen. Wir sind nun die Opfer der Schuld unserer Vorväter. Gefangen in Schuldverstrickung, wir können nichts tun. So sitzen die Menschen in Babylon, resigniert und wie gelähmt.
Diese Haltung kennen wir.
„Ich bin so von Kind auf geprägt. Das kann ich nicht einfach so abstreifen.“
„Als einzelner kannst du nichts tun. Du schwimmst mit. Das war schon immer so. Zwecklos, sich dagegen zu stellen.“
So heißt es im Kleinen und im Großen. Und die Folgerung: Wenn die Väter saure Trauben essen, dann müssen wir Kinder die Folgen tragen. Da steckt viel Erfahrung drin. Und auch das ist hoch aktuell: Was bedeutet der Krieg in der Ukraine für die Kinder, die den Schrecken erleben? Was bedeutet er für das Miteinander von Ukrainern und Russen in der Zukunft? Mir stehen die Kinder und Jugendliche vor Augen, die seit März in unserer Stadt leben und hier Kindergärten und Schulen besuchen. Was bedeutet es für Kinder, Opfer von sexuellem Missbrauch zu sein? Oft geschehen in Familien, in Freundeskreisen, im Sport und auch in der Kirche. Auch hier habe ich manchmal den Eindruck, dass alle Aufklärung, alle Gegenmaßnahmen so wenig bewirken. Was bedeutet unser riesiger Energieverbrauch für unsere Kinder? Die Schulkinder haben uns in den letzten Jahren diese Frage nachdrücklich gestellt. Und wir müssen Antworten finden.
Manchmal stellt sich eben auch dieses Gefühl ein. Es bleibt Lähmung und Resignation.
Unsere Väter haben die sauren Trauben gegessen und wir Kinder haben stumpfe Zähne.
Gegen dieses Denken und gegen diese Haltung erhebt der Prophet Ezechiel seine Stimme.
„Unter euch gibt es dieses Sprichwort: Die Väter haben Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne stumpf geworden. Dieses Sprichwort gilt nicht mehr in Israel. So spricht der lebendige Gott. Ab nun gilt: Jede Generation, jeder einzelne Mensch wird danach beurteilt, was er oder sie tut oder nicht tut.“ Ezechiel führt auf, worum es geht:
Jeder einzelne soll sein Brot mit dem Hungrigen teilen und den Nackten kleiden.
Jeder einzelne soll Recht und Gerechtigkeit üben.
Jeder einzelne soll sich zu Gott halten.
Und Ezechiel sagt, was jeder einzelne nicht tun soll: Andere bedrücken, Pfand und Zins fordern, Gewalt üben, des Nächsten Frau beflecken, fremden Göttern opfern. Jede Generation wird danach beurteilt, wie sie dies befolgt: Großväter und Großmütter, Eltern, Kinder, Kindeskinder. Wer falsch handelt, soll solches erkennen, umkehren und den neuen Weg gehen. Er wird am Leben bleiben. So verspricht Gott. Das ruft Ezechiel den Menschen in Babylon zu: „Ihr seid jetzt gefragt, ob ihr so handelt. Nicht eure Vorfahren bestimmen euer Leben und eure Zukunft. Ihr selbst bestimmt dies. Der Tempel in Jerusalem, die Stadt Gottes, der König sind verloren. Gott aber ist nicht verloren. Er ist da und gegenwärtig. Auch in der fremden Stadt Babylon. Er fragt dich heute. Wie lebst du? Was tust du? Ihr seid frei und ihr seid verantwortlich. Macht euch ein neues Herz und einen neuen Geist. Schaut nicht in die Vergangenheit und in die Ferne. Schaut zu dem, der neben euch steht.“
Freiheit, Verantwortung, Lebendigkeit, Hilfe.
Liebe Gemeinde, das ist Ezechiels Botschaft.
Die Geschichte vom verlorenen Sohn und dem liebenden Vater zeigt, wie sich das im Leben eines Menschen abspielen kann. Der Sohn nimmt sich die Freiheit, er verlässt Vaterhaus, Heimat und Familie. Er riskiert vieles und verliert alles. Und dann, ganz tief unten, kehrt er um. Er geht dahin, wo er hofft, einen Ort zum Leben zu finden. Er kehrt um und geht zu seinem Vater. Dazu gehören Mut und Vertrauen. Der Vater begreift, um was es geht. Um Tod und Leben. Um Liebe und Vertrauen. Und nimmt den verlorenen Sohn auf. Er zeigt Größe und Vertrauen. Ein neues Leben beginnt. Ein neues Herz, ein neuer Geist.
Umkehr, Vergebung, neues Leben. Gibt es dazu auch Geschichten?
Die Geschichte der Flucht meiner Mutter ging weiter. Der Vater kehrte nicht aus dem Krieg zurück, er blieb verschollen. Die junge Mutter mit den vier Töchtern war auf sich allein gestellt. Sie fanden irgendwie zwei Zimmer, in denen sie notdürftig wohnten. Die vier Schwestern gingen zur Schule, erlernten einen Beruf, studierten, gründeten Familien und blieben. Sie halten zusammen bis heute. Eine verschworene Gemeinschaft. Ich bewundere die Kraft der Mutter und die Energie der jungen Frauen in der Zeit nach dem Krieg. Und ich habe kürzlich erlebt, wie das Zusammenleben nach dem schrecklichen Krieg in Europa vor 70 Jahren, zwei Generationen später, möglich wird. Ich bin unterwegs in der Erfurter Innenstadt mit einem Kirchenchor aus Nordengland. Die jüngsten Sängerinnen sind 10 Jahre alt. Wir stehen vor der Ruine einer großen gotischen Kirche mitten in der Erfurter Altstadt. Ich erzähle, wie britische Bomber die Stadt im November 1944 angriffen und viele Häuser zerstört haben. Davon zeugt diese Kirchenruine. Einer der englischen Jungs schaut mich an und sagt: „So sorry!“ „Es tut mir sehr leid.“
Die Väter haben saure Trauben gegessen.
Die Kinder wissen um deren Schuld.
Die Nachfahren von Opfern und Täter sprechen darüber.
Und gemeinsam beginnen sie neu.
Das schenkt uns Gott.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich gestalte am 3.7.2022 Gottesdienste in zwei Dörfern vor den Toren der Stadt Erfurt. Ich erwarte jeweils ca. 20 Gottesdienstbesucher. Es werden eher die Hochverbundenen sein. Ich möchte junge und alte Hörer*innen ansprechen. Es geht um Lebenserfahrungen, um Lebensgeschichten, um alte und sehr aktuelle Fragen, die nicht leicht zu beantworten sind.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Ich erinnere mich an Friedensgebete aus den 80iger Jahren, in denen der Spruch von den sauren Trauben eine wichtige Rolle spielte. Das Wort begleitet mich schon lange und es ist auch heute überaus sprechend. Ich habe es als spannend erlebt, die offenen Fragen mit Lebensgeschichten zu verknüpfen.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Das „So sorry!“ des englischen Jungen hat mich sehr berührt. Deutsche Bomber haben auch in Nordengland schreckliches angerichtet. Versöhnung ist möglich, auch über die Generationen hinweg. Wir stehen jetzt in der Verantwortung.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Coachin hat zunächst von der Wirkung der Geschichten berichtet. Geschichten sind stark und spannend. Man ist sofort drin und hört zu.
Sie hat die verschiedenen Themenstränge und Ambivalenzen wahrgenommen. Dies habe ich zunächst bewusst so in Worte gefasst. Im Abstand klärte sich dann, worauf ich mich konzentriere und welche Botschaft ich senden will.
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03.07.2022 - 3. Sonntag nach Trinitatis
Vertrauen im Entschwinden - Predigt zu Hesekiel 34, 1-2, 10-16.31 von Markus Kreis
Wes Brot ich ess´, des´ Lied ich sing! Gott hält Hesekiel eine Schriftrolle vor die Nase, über und über beschrieben mit Gottes Wort, und sagt: Iss! Hesekiel sperrte also lieber mal den Mund auf. Es gibt schlimmeres, als alten Papyrus zu kauen. Und altes Leder nimmt man als Fleischesser fast freiwillig in den Mund. Also zusammengerissen und rein damit. Und siehe da: Das sperrige Stück Schrift schmeckte süß wie Honigbrot.
Gott nährt seinen Propheten. Denn es geht um öffentliche Glaubwürdigkeit. Hesekiel soll ausrichten, dass Gott höchstpersönlich seine Leute auf fette Weiden bringt. Da kommt es gut, wenn der Bote die richtige Diät bekommen hat.
Hesekiel richtet im Namen Gottes ein gutes Hirtenwort aus: Die Macht der alten Kräfte schwindet, die Kraft der eh´mals Schwachen wächst.
Schwindende Macht der alten Kräfte. So lautet das eine Wort, das Hesekiel zu sagen hat. Die alten Hüter seines Wortes haben versagt. Deshalb befiehlt Gott: Wachablösung. Ich mach´s fortan lieber selbst. So wie ich es bei Hesekiel mit der Schriftrolle getan habe.
Wen die Ablösung im Einzelnen betrifft, das wird nicht gesagt. Von Hirten ist die Rede. Da denkt unsereins eher an Pastoren, Bischöfe, Geistliche. Früher war Hirte aber ein Prädikat für weltliche Würdenträger. Sozusagen der Erzbischof als Kurfürst. Gemeint sein könnten Könige, Vizepharaos, Generäle, was politisch so Rang und Namen hat. Und wer wird nun adressiert? Wer Rang und Namen hat, egal ob politisch, geistlich, wirtschaftlich oder wissenschaftlich. Die Propheten Gottes lassen niemanden aus.
Diese alte Garde muss abdanken. Das war nämlich eine ganz aufgeweckte Truppe. So richtig ausgeschlafen. Haben nur sich selbst gedeckt und geschützt. Meist ihresgleichen ins Amt befördert. Eine weltliche Art der Amtssukzession. Oft genug gegen die kleinen Leute. Anstatt diese zu decken, zu schützen zu fördern. Haben also Gottes Hirtenwort nur für sich genutzt. Nach außen beredt, gescheit und fromm. Innendrin taub und faul für Gott und seine Schützlinge. Selbstliebe ohne Nächstenliebe. Gott nur mit uns. Gottlosigkeit für die anderen. Amt verfehlt. Ablösung. Weggetreten, im Laufschritt, marsch, marsch!
Keine Frage: Macht spüren, bekommen und sie gerecht ausüben, das ist schwer. Das fordert die Inhaber. Da braucht es eine gewisse Stärke, und Schläue, und Gewandtheit der Gefühle. Aber auch Einsicht in Grenzen. In die eigenen und in die, welche von Gott gezogen werden.
Die Macht der alten Kräfte schwindet, die Kraft der eh´mals Schwachen wächst. Denn Gott hütet nun selbst. Betreibt in Wahrheit Staat und Macht. Gott erhebt sich zum Hirten. Fortan will er höchst persönlich über sein Wort wachen. Gott macht sich zum Chef und sein Wort zur Chefsache. Was Gott damit verheißt, klingt anspruchsvoll. Als Ziel nennt er, sein Volk aus dem Exil in Babylon auf Israels beste Weiden zu führen.
Wie soll das geschehen? Da braucht es aber einiges an Vorkehrung. Was bewegt die Sieger, die Besiegten ziehen zu lassen? Deren Arbeitskraft aus der Hand zu geben? Genügt da Drohen oder gutes Zureden?
So ist es dann zugegangen: Die Sieger wurden besiegt. Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Gott kontrolliert nicht nur seine Hirten, sondern auch die Hirten anderer Götter. Sprich die Herrscher anderer Völker. Hier den der Babylonier, den Israelbezwinger. Und zwar, indem er die Könige unbeteiligter dritter Völker ins Spiel bringt. Den Hirten von Persien nämlich, Kyros. Der unterjocht wiederum die Babylonier und gibt die Israeliten frei. Wow. Starke Ansage, starke Leistung. Die Macht der alten Kräfte schwindet, die Kraft der ehemals Schwachen wächst. Zu den alten Kräften gehören auch fremde, Gottes Widersacher.
Das ist etwas Ungeplantes auf den Plan treten. Ein ganz neuer Faktor. Entstehen und Schwinden. Als Hirte kann Gott aufscheuchen. Aber nicht nur zur Panik. Und wenn zur Panik, dann nur, um schließlich doch zur nächsten schönen Weide zu kommen. Zum Fortzug, voll Zuversicht, allem Widrigen zum Trotz.
Wir Schafe liegen schön da und käuen wieder. Der gute Hirte ahnt mit Blick aufs Grüne, wann es mit der Weide vor Ort ein Ende hat. Immer mehr Räuber riechen Beute, lauern an den Hürden. Ja, da steht noch viel Futter. Das Ganze noch schnell abgrasen, das würden ein Paar Leithammel gern. Und maulen deshalb, widersprechen. Dem guten Hirten sei Dank lassen die Leute alles hinter sich: die alten Leithammel, das noch vorhandene Futter, das ganze vertraute Doppelleben zwischen Gier und Angst. Der Duft der neuen Weide lockt. Macht hungrig und satt zugleich. So sehr, dass der Weg ins Neue voll Zuversicht begangen wird. Der Aufbruch zieht und entzieht sie den Räubern als Beute.
Gott der Hirte verheißt gerade das: Ich drehe das Leben der Wehrlosen. Indem ich sie den Mächtigen als Beute verwehre. Und die Wehrlosen zu neuer Stärke führe. Gott bringt sich als unbekannte Macht ins Spiel. Wie damals überraschend durch den König Kyros. Also weg mit heimlicher Rückversicherung der Macht. Ein Ende der echten Vollkaskomentalität!
Gott dreht das Leben der Wehrlosen zu neuer Stärke. Gegen seine Widersacher, die jene unterdrücken. So was wie Gottvertrauen, das würden einige der Widersacher gar nicht kennen wollen. Die sichern sich lieber selber ab. Über Bande und fünf Ecken. Zahlenspiele. Vertrauen lieber darauf, dass sie die Umstände in den Griff kriegen. Menschen und Dinge hinbiegen. Die harten und die weichen Faktoren. Mit welchen Mitteln auch immer. Von wegen gegen ihr Zutun. Man muss die Leute zwingen zu ihrem Glück. Das maßt sich Gott nicht an. Er stellt vor die Wahl.
Und wenn diese Superschlauen mit ihrem Zutun durchkommen, dann fühlen sie sich wie der King. Hirte hörte sich heute komisch an. Dann glauben sie sagen zu können, was sie alles geleistet haben. Dass sie immer alles geben. Und meinen umgekehrt, deshalb alles verdient zu haben. Sich alles rausnehmen und nehmen zu können. Also weg mit „gegen mein Zutun“. Weg mit Vorschuss und Vertrauen. Nur Zahlen zählen. Ich bin der King.
Worauf Gott antwortet: Ja, du bist der King. Aber nur der babylonische. Der von mir abgelöst wird. Du bist der King, aber ich setze Dich ein, wie es mir gefällt. Ich setze Dich ab. Alles geben in seinem Job. Das Maximum leisten. Das geht in Ordnung für Gott. Das tut er ja auch. Aber zugleich meinen, alles dafür verdient zu haben, sich alles rausnehmen und nehmen zu können - das widerspricht Gott. Das ist nicht sein Wesen. Das macht er gerade nicht. Deshalb Ende Gelände für solche Gemüter. Für Macher dieser Machart, egal aus welchem Bereich.
Vielleicht denkt so ein alter Widersacher: Was soll mir denn schon passieren? Wo soll denn so ein Überraschungsmoment herkommen? Wer kann mir das Wasser reichen? Das ist ja so, als ob Covid 19 plötzlich mir nix dir nix aus der Welt verschwinden würde. Und genau das gab es schon. Nicht bei Covid 19. Aber in der Historie der Seuchen. Bei anderen Erregern. Auf einmal waren sie aus der Welt. Wirkungslos, verpufft, verschwunden. Bis jetzt unerklärlich, aber tatsächlich geschehen.
Gott der Hirte dreht das Leben der Wehrlosen gegen seine Widersacher zu neuer Stärke. Und Schwache brauchen nichts dafür zu tun. Diese Barmherzigkeit kriegen sie einfach so von ihm. Jeder wird angesprochen, um aufzuwachen und sich auf zu machen. Sich von Gott dem Hirten zum Aufbruch scheuchen zu lassen. Zu Vertrauen auf in den Weg zum Neuen. Weg mit heimlicher Rückversicherung. Ein Ende mit der echten Vollkaskomentalität.
Gott der Hirte dreht das Leben Schwacher gegen seine Widersacher zu neuer Stärke. Diese Idee gefällt. So sehr, dass Menschen daran weitergesponnen haben. Der Heinrich von Kleist zum Beispiel. In seinem Text „Über das Marionettentheater“. Da geht es um einen Bären. Der mit einem Fechter kämpft. Schwerfälliges Tapsen gegen anmutiges Tänzeln, alles klar. Der Bär durchschaut irgendwie die Finten des Fechters. Und weicht allen Stichen und Hieben geschickt aus. Pariert sie. Null Treffer kriegt er ab. Der Fechter hört auf. Verlässt die Arena. So laut Gottes gutem Hirtenwort auch jedes Übel. Jegliche Widrigkeit.
Ein Sieger der Herzen, der Bär. Und überraschend. „Wahre Grazie“, schließt von Kleist, „wahre Grazie kommt aus reiner Intuition.“ Wenn jemand gar nicht so genau weiß, was er da gerade tut. „Oder“, sagt er, „sie kommt aus einem Superwissen“. Sozusagen direkt aus Gott entsprungen. Wenn Menschen Anmut zeigen, Grazie. Wie auf der Bühne bei Balletttänzern, worauf Kleist im Text auch hinweist.
Aller Widrigkeit beikommen, denn Gott hütet. Nicht nur dem Bösen und Üblen. Allem Widrigen. Seinen Beistand krieg ich einfach so. Jeder wird angesprochen, um aufzuwachen. Sich von Gott dem Hirten zu reiner Intuition oder Superwissen erwecken zu lassen. Weg mit heimlicher Rückversicherung. Ein Ende mit der echten Vollkaskomentalität.
Gottes Leute sagen zu diesem Superwissen übrigens Glaube, Gottvertrauen. Ein wohlgenährter Glaube, wenn es stimmt, was im Bibeltext verheißen wird. Hungrig und satt sein, gut austariert. Massephase für Körper und Geist. Und damit ist dem Widrigen dann gut beikommen. Körperlich und geistig. Manchmal auch nur geistig. Beim Sterben dann ganz sicher nur geistig.
Ein Einwand. Glaube satt, der hungrig auf Gott und neues Leben macht. Das widerspricht sich doch! Und damit dann souverän dem Widrigen beikommen? In schlafwandlerischer Gewissheit? So ein Unsinn! Mich hat so viel Widriges in meinem Leben getroffen. Die Welt ist voll davon.
Gegenfrage: Wenn die Welt davon überquillt, dann ist man Widrigem mindestens einige Male entgangen, oder? Und wie oft, ohne es bemerkt zu haben? Gerade auch die, welche sagen, noch nie mit echt Widrigem oder Üblem Bekanntschaft gemacht zu haben.
Glaube satt. Und der macht hungrig auf Gott und neues Leben. Verheißen für seine Widersacher und Abweichler, Gottesvergiftete und Magergläubige. Dank Gottes Herzenshungerkur wächst der auch im Verborgenen heran. Wird groß und stark, selbst wenn ein Mensch meint, er sei da grad voll auf Diät. Denn wenn Gott sagt, er nähre, dann nährt er. Ob wir das merken oder nicht, ob wir das wollen oder nicht.
Lageenergie kann sich plötzlich in Bewegung verwandeln. Da braucht es manchmal nur einen klitzekleinen Anstoß. Nur ein kleines Bisschen. Von Gottes Herzensweide vor die Nase und Mund gehalten. Und die gespeicherte Energie wird frei. Kommt in Fluss. Fließt in Aufbruch und neue Kraft.
Glaube satt, der hungrig macht. Verheißen für Gottes Widersacher und Abweichler, Gottesvergiftete und Magergläubige. Alles wird gut, egal wie widrig die Lage aussieht, egal was Menschen Übles tun können und auch tun. Egal, welchen Anteil ich mit meinem Tun an Widrigem habe. Alles wird gut, ohne dass ich Schwacher was dazu tun muss. Ja, gegen die Kraft alter Mächte. Dank Gottes Barmherzigkeit. Die kommt uns bei mit Vertrauen im Entschwinden. Die Macht der alten Kräfte schwindet, die Kraft der eh´mals Schwachen wächst. Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Vor Augen hatte ich stellvertretend für die Tätigkeit vieler heutiger mittlerer „Funktionseliten“ die Kolleg*innen an meiner Schule, die täglich das Verhältnis von Kontrolle und Vertrauen oft neu auf ihre je eigene Art austarieren, gegenüber Klientel und ihresgleichen.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Vielfalt der Hirtenmetapher und ihrer Wirkung, siehe das Buch von Ulrich Bröckling, Gute Hirten führen sanft, stw 2217
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die nahezu allseits gepflegte pastorale Menschenführung unserer Zeit steht und fällt mit Gottes Hirtenwort: Die Kräfte alter Mächte schwinden, die Macht ehemals Schwacher wächst.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die sehr ausführliche Rückmeldung hat stilistische Fragen wie Wortwahl usw. geklärt, mir die Hirtenmetapher, die ich zuerst irrtümlich rein seelsorglich verstand, als zuerst politische nahegelegt. Was mich zu einem neuen Thema geführt hat und dazu, mich auf die Hirtenbildfunktion zu beschränken, sprich andere Vergleichsbegriffe weitestgehend zu streichen.
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18.04.2021 - Miserikordias Domini
Der Engel: „Es ist nicht umsonst, die Schriftrolle fest zu halten.“ - Predigt zu Hesekiel 2, 8 + 3,17 * von Ulrich Kappes
Du, Mensch, höre auf alles, was ich zu dir rede: Sei nicht widerspenstig wie das widerspenstige Haus; öffne deinen Mund und iss alles, was ich dir gebe. Ich schaute und sah eine Hand, die nach mir ausgestreckt war, und in ihr befand sich eine Schriftrolle. er öffnete sie vor mir, und ihre Vorder- und Rückseite war mit Schrift bedeckt. Auf ihr stand geschrieben: „Totenklage und Stöhnen und Leid.“ Er sprach zu mir: Mensch, was auch immer du dort findest, iss! Iss diese Rolle und geh, rede zum Haus Israel. Ich öffnete meinen Mund, und er gab mir diese Rolle zu essen, indem er zu mir sprach: Mensch gib deinem Bau zu essen und fülle deinen Magen mit dieser Rolle, die ich dir gebe. So aß ich sie, und in meinem Mund wurde sie süß wie Honig. Ein Wind hob mich empor und packte mich, und ich ging verbittert, mein Geist tobte, überwältigt von der Hand JHWHs. Ich kam zu den Exulanten in Tel Abib, die am Fluss Kedar lebten, und wo sie lebten, dort saß ich sieben Tage unter ihnen. Und als die sieben Tage um waren, geschah das Wort JHWH’s zu mir: Du Mensch, ich habe dich zum Wächter über das Haus Israel bestellt. 1
Der heutige Predigttext, liebe Gemeinde ist aus meiner Sicht ein ausgesprochenes Schwergewicht innerhalb der biblischen Texte. Was haben wir gehört? In einem Satz gesagt: Gott fordert Hesekiel auf, eine Schriftrolle zu essen. Gleichzeitig wird geschildert, und damit habe ich den vorgegebenen Predigttext erweitert, welche Folgen es hat, dass der Prophet eine so innige, bis ins Körperliche hineinreichende Verbindung zur Schrift bekam.
„Hesekiel wird zum Propheten berufen.“ Wann geschah das?
597 v. Christus, 22 Jahre nach der Auffindung des „Gesetzes“, belagerte Nebukadnezar, der König von Babylon, Jerusalem. Die Stadt ergab sich. Daraufhin deportierte Nebukadnezar „nur“ die Oberschicht nach Babylon. Unter ihnen war Hesekiel, der Sohn aus dem Geschlecht einer hochrangigen Priesterfamilie. Das Alte Testament versteht dies als Gericht Gottes
An einem der Hügel Babylons, dem Tel Abib, ließen sich die Israeliten nieder. Die Weggeführten mussten sehen, wie sie sich Essen und Arbeit beschafften und sich mit allem Neuen und Fremden arrangieren. Das ging mehr schlecht als recht.
Die Berufung des Propheten Hesekiel beginnt damit, dass er eine Hand sieht, die ihm eine Schriftrolle zeigt. Die Rolle. besteht aus hauchdünnem Leder, auf dem Worte stehen. Er vernimmt die Aufforderung, die Schriftrolle zu essen.
Ich stelle es jetzt zur Seite, ob das tatsächlich geschah2 oder ein mystisches Erlebnis Hesekiels war. Vielleicht wie bei Paulus, der nach einer Christusvision von sich sagte: „(Ich kenne einen Mann), ist er im Leibe gewesen, so weiß ich’s nicht, oder ist er außer dem Leibe gewesen, so weiß ich’s auch nicht“. Und dann folgt der Bericht des Paulus über seine Entrückung. (2. Kor. 12,2 ff.) ‚Habe ich, Paulus, diese Entrückung tatsächlich, im Leibe; erlebt oder mystisch, im Geiste, gesehen und gefühlt? Paulus lässt das offen.
Lassen wir es also auch offen, in welchem Maß Hesekiel „im Leibe“ war oder nicht, ob er „im Geist“ oder „im Leib“ eine Schriftrolle aß.
Die Schriftrolle ist beidseitig mit Texten beschrieben. Es sind Texte der jüdischen Totenklage mit viel „Ach“ und „Weh“. Beim Essen und Herunterschlucken bekommt der Text aber den Geschmack von „süßem Honig“.
Was will uns dieses Erlebnis des Propheten sagen? Wie übertragen wir das Bild von der gegessenen Schriftrolle in unser Leben?
Ich nehme mir die Freiheit, die Szene aus dem Leben Hesekiels von einem Maler deuten zu lassen.
Mark Chagall malte 1933 das Bild „Einsamkeit“. Auf der linken Bildseite ist ein Jude zu sehen. Er trägt über seinen Kopf und Oberkörper einen weißen Gebetsmantel. Das Gesicht ist in die rechte Hand gestützt, die linke umklammert eine Thora-Rolle. Sie ist groß und kompakt, kaum zu halten. Eine kleine Violine schwebt neben ihm durch die Luft.
Neben dem einsamen Mann lagert eine weiße Kuh. Ihr stoisches und sanftes Aussehen wirkt mildernd auf die tiefernste Aussage des Bildes. Dahinter sieht man zwei Türme einer Kirche und die Umrisse einer Stadt. Es ist alles in diese sanfte Metaphorik getaucht, die für Chagall so typisch ist: kein Löwe, kein Drachen, keine Blitze … Am schwarz-blauen Himmel schwebt ein heller Engel.
„1933 – Einsamkeit“ -Ich sehe, dass nach Chagall die Thora und der Jude eine Einheit, eine vollkommene Einheit bilden. Ein Mensch weiß nicht, wie er seiner Einsamkeit begegnet. Das zeichnet sich auf seinem traurigen Gesicht ab. Er hat nur die Thora. Er umschlingt sie. „Schriftrolle und Mensch bilden eine Einheit“ – Das ist aus meiner Sicht die erste Auslegung von Hesekiels Berufungserlebnis.
Sozusagen am Bild Chagalls, wie an einer Leitplanke, weiter gefragt, was der exklusive Berufungsbericht des Hesekiel für uns als Gemeinde bedeutet, komme ich zu dem Satz: Es geht darum, ob und wie wir mit „der Schriftrolle“ verbunden sind.
An mich ergeht heute nicht mehr und nicht weniger die Aufforderung, in den Fußstapfen des Propheten zu treten. Es geht nicht um das Essen des Wortes, sondern um meine Tat, eins zu werden mit dem Wort.
Vielleicht so, dass ich das „Wort“ in meine Hände nehme, beide Hände nehme und es fest halte. „Halte das Wort Gottes wie du ein Buch mit den Händen hältst. Halte es fest. Wenn du es losgelassen hast, halte es von neuem fest.“
Was aber ist das „Wort“, Was ist mein Wort inmitten der vielen Worte der Bibel?
Ich antworte und ich weiß, dass meine Antwort hinterfragt werden kann. Ich sage: Das „Wort“ aus den vielen Worten der Schrift ist eines, bei dem ich fühle, dass Gott zu mir spricht. Der Punkt liegt nicht auf einer Art „Rosinenpickerei“, sondern darauf, dass ich mich zu entscheiden habe.
Luther hat in seinem Großen Katechismus den vielfach missverstandenen Satz ausgesprochen: „Woran du dein Herz hängst, das ist in Wahrheit dein Gott.“ Es geht dabei nicht um eine Unterscheidung von wichtig und unwichtig, sondern darum, dass ich den Ruf zur Entscheidung höre und antworte. Eben nicht neutral bleibe, sondern „mein Herz an bestimmte Worte hänge.“
Dieses mich wertschätzende „Wort“ ist wie der Brief eines geliebten Menschen. Es ist voller Wärme und spricht zu mir. Es warnt mich aber auch vor Fehltritten und richtet mich. Wie ich den Brief eines geliebten Menschen mit allen meinen Sinnen lese, wie da in dem Brief Worte stehen, die mich ebenso wertschätzen wie hinterfragen, so geschieht es mit dem „Wort“ an mir.
Noch eines will ich zum „Wort“ sagen.
Weder die Propheten haben in ihrer Mehrzahl noch Jesus hinreißende Reden gehalten, die die Massen elektrisiert haben. Ihre Worte waren frei von reißerischen Zutaten. Darum hat das „Wort“ nie mit Demagogie zu tun oder einem Beifall erheischenden Populismus. Es steht vor mir und fragt, wie ich‘ es mit ihm halte. Das Wort will meine Entscheidung in Freiheit.
Bonhoeffer scheut sich nicht zu sagen: „Das Wort ist schwächer als die Idee. So sind auch die Zeugen des Wortes mit diesem Wort schwächer als die Propagandisten einer Idee.“3
Das Wort, das von Anfang an war und immer bleiben wird, will, so das Johannesevangelium bei uns „wohnen“, weil wir es in aller Freiheit bei uns wohnen lassen. Das macht den Unterschied zu jeder manipulativen Rede.
Zurück zum Propheten!
Was geschah mit Hesekiel, als er das „Wort“ aß?
Hesekiel war trotz des süßen Honiggeschmacks, ich zitiere, „verbittert“. Es war gallig in seinem Inneren. Er blieb an dem Ort des Essens versteinert kleben. Schließlich kam ein Wind und brachte ihn zu den Seinen, zum Hügel Tel Abib. Dort zog er sich von alem zurück, war vollkommen in sich gekehrt und abwesend. Er konnte nicht reden. Jedes Wort blieb ihm im Hals stecken.
War es das? Nein. Hesekiel brauchte „sieben Tage“, bevor er ein anderer wurde. Nach „sieben Tagen“ stand er auf, so ist zu lesen, und ließ sich von Gott zum „Wächter für Israel“ bestellen.
Dieser letzte Teil unseres Predigtabschnittes, ruft uns auf mit Hesekiel, die Zeiten der Leere im Glauben auszuhalten. Es gibt „Tunnel“, die Gott die Seinen durch schreiten lässt. Das bedeutet Bitterkeit und Finsternis. Das ist aber die halbe Wahrhei. Wenn Gottes Wort in meinen beiden Händen ist, ja in mich eingeht, bleibe ich auf Dauer nicht derselbe. Wann und wo es eine Veränderung gibt, liegt bei Gott. Es gibt sie aber, siehe Hesekiel. Das ist die starke Botschaft dieses Textes an uns.
Chagall hat hinter den einsamen Juden mit der Schriftrolle in der blau-schwarzen Nacht einen Engel gemalt. Er schwebt leicht und luftig in einem weiß-silbrigen Gewand am Himmel. Eine gedachte Diagonale verbindet ihn mit dem einsamen Juden. Ist der Engel ein feines, sparsames Hoffnungszeichen des Malers, dass es nicht umsonst ist, die Schriftrolle fest zu halten? Bei Hesekiel in die Schule gegangen, will ich es so sehen.
ANMERKUNGEN
1 I Übersetzung nach Moshe Greenberg, Ezechiel 1-20, Freiburg, Basel, Wien 2001, S. 77 ff.
2 I Moshe Greenberg versteht es körperlich: „Ihm wird eine Schriftrolle übergeben … die er, in pflichtgetreuer Antwort auf die ihm erteilten Befehle, auf wunderbare Weise verschlingen kann.“ Moshe Greenberg, a.a.O., S. 79.
Walter Zimmerli nimmt zum tatsächlichen Vorgang keine Stellung, deutet ihn (nur): „Das Essen der Buchrolle ist die Zubereitung des Propheten zur Verkündigung." W. Zimmerli, Ezechiel, Neukirchen-Vluyn 1969, S. 77.
3 I Zitiert nach Eberhard Bethge, Dietrich Bonhoeffer, Berlin 1967,
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Meine Frau und ich leben nun zehn Jahre in Luckenwalde, einer Kreisstadt ca. 5o km süd-lich von Berlin. Die Gottesdienstgemeinde möchte, dass die Predigt Schriftauslegung ist. Mit zahlreichen Freikirchen in Luckenwalde geht es auch der landeskirchlichen Orts-gemeinde um das „Wort“, weniger die Liturgie. „Wenn am Sonntag die Glocken ertönen, besteht die Erwartung eines großen Geschehens.“ (Niklaus Peter, Zürich, über Karl Barths Theologie). Stark heruntergebrochen trifft das auch auf die Kerngemeinde hier zu.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Das beherrschende Bild des Predigttextes vom „Essen einer Schriftrolle“ hat mich am Anfang alles andere als beflügelt .Ich empfand es als anstößig und wenig kompatibel mit einem aufgeklärten Glauben. „Wie soll hier bloß eine schlüssige Hermeneutik ge-lingen?“
Sehr hilfreich war mir der Kommentar von Moshe Greenberg(siehe Anmerkungen), der mit keinem Wort die so nahe liegende Befremdlichkeit reflektiert, sondern in den Versen 3,14-17 die notwendige Dublette zu dem schwierigen Bild von 3, 1-3 erarbei-tet.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Ja, das ist natürlich auch eine Predigt an mich selbst. Ich denke, dass diese kolossale Eindringlichkeit des Bildes vom Essen der Schriftrolle ihre starke Seite hat: „Lebe ich vom Wort, so dass es in mich eingeht oder laufe ich weg, weil es einfach zu fremd und kompliziert ist?“ Es geht in diesem Text nicht bloß um das Lesen des Wortes, sondern darum, dass es ein Teil von mir wird. Das ist der Punkt, die andere Qualität bei Hesekiel.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Predigt hatte in ihrer 1. Fassung und auch in der „Zwischenbilanz“ (2. Fassung) ei-ne stark abweichende Gestalt von der Letztfassung. Hier hat mir der Predigtcouch, Herr Jan Mathis, substantiell geholfen: einmal die Predigt auf die Verse ab 2,8 ff. zu fokussieren, also das Thema „Gerichtspredigt“ der Verse ab 2,5 ff wegzulassen und zum anderen, persönliche Worte zu sagen, wie ich selbst das Bild vom Essen der Schriftrolle sehe..