Der Erste und der Letzte - Predigt zu Matthäus 20,1-16 von Kathrin Oxen
20,1-16

Meistens ging er vor uns. Wir gingen hinterher. So war es von Anfang an gewesen, eigentlich schon ganz am Anfang, als wir vom Ufer des Sees und von den Booten weggegangen waren. Immer ging er voraus, manchmal allein, manchmal auch mit einem von uns an der Seite, in ein Gespräch vertieft. Dann war es besonders schwer für die anderen, einfach nur hinterherzugehen. Meistens hielten wir dann ein bisschen Abstand von den beiden da vorne und wir gingen dann zu dritt oder zu viert nebeneinander.

 

Wenn wir so miteinander gingen, war es leichter, nicht immer auf den einen zu sehen, der bei ihm sein konnte, so nah an seiner Seite. Ein Platz, um den wir uns stritten, ganz ohne Worte. Denn wer mochte ihn schon aussprechen, diesen Wunsch, bei ihm zu sein, neben ihm gehen zu dürfen. Wie kleine Kinder wären wir uns vorgekommen und waren doch alle schon längst erwachsen. Aber wie Kinder achteten wir sehr sorgfältig darauf, dass die, die nach uns dazukamen, auch hinter uns blieben. Wen er zu sich nach vorne holte, darauf hatten wir keinen Einfluss. Das entschied sich, wenn wir aufbrachen. Aber in der Gruppe hinter ihm, zwischen uns, da gab es eine Ordnung. Angeordnet ohne Worte, eingehalten nur durch Blicke und Gesten. Sehr selten einmal gab es eine Hand, die den anderen beim Ärmel nahm und ihn auf seinen Platz verwies.

So gingen wir, Tage und Monate, durch Dörfer und Städte, immer in der gleichen stummen Ordnung, von niemandem angeordnet, aber von uns eingehalten. So würden wir eines Tages ankommen am Ziel unserer Wege, dachten wir. Wir meinten, es wäre gut, dann unter den Ersten zu sein, nahe bei ihm.

 

Das änderte sich erst, als wir uns der Stadt näherten. Nun wendete er sich öfter als sonst  uns allen zu und sprach davon, was geschehen würde in der Stadt, in Jerusalem. Dass er dort leiden müsste und sterben, sagte er. Wir hörten das und wir erschraken darüber, so sehr, dass wir gar nicht mehr hörten, was er noch sagte: Dass dies nicht das Ende sein werde.

Denn für uns klang es wie ein Ende und zu Ende wäre es dann wohl auch mit unserer stummen Ordnung und mit den Plätzen, die wir unter uns schon verteilt hatten. Einer von uns wagte es, ihn darauf anzusprechen. Gott bewahre dich, Herr! Das widerfahre dir nur nicht!1 Und obwohl er das so sagte und wohl auch so meinte, bekam er eine sehr schroffe Antwort. Du bist ein Ärgernis! Dir geht es gar nicht um mich. Dir geht es um dich und um das, was aus dir wird, wenn ich nicht mehr da bin. Meinst du wirklich, ich merke es nicht, was es für eine Ordnung unter euch gibt, hinter meinem Rücken?

 

Wir wurden stumm nach diesen Worten. Und wir versuchten, unsere Fragen von nun an so zu verkleiden, als hätten sie mit uns gar nichts zu tun. Wer ist doch der Größte im Himmelreich?2 fragten wir. Er nahm ein Kind bei der Hand und zog es in unsere Mitte, stellte es unter uns Erwachsene. Es reichte uns nicht einmal bis zur Hüfte und über seinen Kopf hinweg sahen wir uns an.

Wie oft muss ich meinem Bruder, der gegen mich sündigt, vergeben? Genügt es siebenmal?3 fragten wir. Und er nahm die Zahl, die uns schon so hoch vorgekommen war und vervielfältigte sie und gab sie uns zurück. Siebzigmal siebenmal.

Was soll ich Gutes tun, damit ich das ewige Leben habe?4 fragte einer und hatte schon eine Antwort. Und der bekam von ihm noch eine Antwort, eine, die ihn stumm werden ließ: Geh hin, verkaufe, was du hast und gib’s den Armen und komm und folge mir nach. Der reihte sich danach nicht ein in unsere Gruppe, sondern ging traurig weg.

Nach solchen Antworten ging er immer allein voran, weiter in Richtung der Stadt. Und wir gingen hinter ihm her und wussten nichts mehr zu reden. Denn es waren unsere Fragen, die er beantwortet hatte. Es waren seine Antworten, die uns stumm werden ließen.

 

Dann war die Stadt ganz nah. Wenn es stimmte, was er gesagt hatte, waren wir damit bald am Ende unseres gemeinsamen Weges. Bald würde es keine Gelegenheit mehr geben, ihn irgendetwas zu fragen, das spürten wir alle. Und einer von uns, Petrus, nahm allen Mut zusammen und fragte ihn noch einmal und zeigte diesmal auf uns alle dabei. Siehe, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt, was wird uns dafür gegeben?5

Das war seine Frage und unsere Frage, nicht länger verkleidet, sondern plötzlich ganz nackt. Wir sind mit dir gegangen, ohne noch einmal zurückzublicken auf den See, an dem wir schon als Kinder gespielt haben und auf die Boote mit den Fischen darin für unsere Frauen und unsere Kinder. Wir gehen mit dir, jeden Tag, ohne zu wissen, wo wir am Abend schlafen werden. Wir leben, wie du es gesagt hast, bloß von dem, was uns zufällt auf dem Weg. Wir haben doch so viel hinter uns gelassen. Was erwartet uns? Wir haben doch so viel aufgegeben. Was werden wir bekommen? Was wird uns dafür gegeben?

Zu seinem Rücken sagte er das. Er musste sie ihm nachrufen, diese nackte Frage, da auf dem Weg in die Stadt. Da blieb Jesus stehen. Er drehte sich um und sagte zu uns: Ihr werdet bei mir sein im Himmel. Ihr bekommt die besten Plätze. Niemand muss mehr hinterher gehen. Und was ihr aufgegeben habt für mich, das bekommt ihr zurück. Das verspreche ich euch. Und er lächelte uns an.

 

Da sahen wir einander an und waren ganz erleichtert von dieser Antwort. Wir konnten es kaum glauben. Es wird sich also doch lohnen für uns, dachten wir. Wir bekommen etwas dafür, sagten wir uns. Es war uns in diesem Moment egal, was all die anderen über uns dachten. Er hat es doch versprochen.

Gerade wollten wir uns wieder auf den Weg machen, in der gewohnten Ordnung, die uns längst in Fleisch und Blut übergegangen war. Aber er ging nicht vor uns her, sondern blieb einfach stehen. Kommt alle her, hört mir noch einmal zu, sagte er:

 

Denn das Himmelreich gleicht einem Hausherrn, der früh am Morgen ausging, um Arbeiter für seinen Weinberg einzustellen.

Und als er mit den Arbeitern einig wurde über einen Silbergroschen als Tagelohn, sandte er sie in seinen Weinberg. Und er ging aus um die dritte Stunde und sah andere müßig auf dem Markt stehen und sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg; ich will euch geben, was recht ist. Und sie gingen hin.

Abermals ging er aus um die sechste und um die neunte Stunde und tat dasselbe.

Um die elfte Stunde aber ging er aus und fand andere und sprach zu ihnen:

Was steht ihr den ganzen Tag müßig da?

Sie sprachen zu ihm: Es hat uns niemand eingestellt. Er sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg.

Als es nun Abend wurde, sprach der Herr des Weinbergs zu seinem Verwalter: Ruf die Arbeiter und gib ihnen den Lohn und fang an bei den letzten bis zu den ersten.

Da kamen, die um die elfte Stunde eingestellt waren, und jeder empfing seinen Silbergroschen. Als aber die Ersten kamen, meinten sie, sie würden mehr empfangen; und auch sie empfingen ein jeder seinen Silbergroschen.

Und als sie den empfingen, murrten sie gegen den Hausherrn und sprachen: Diese Letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, doch du hast sie uns gleichgestellt, die wir des Tages Last und Hitze getragen haben.

Er antwortete aber und sagte zu einem von ihnen: Mein Freund, ich tu dir nicht Unrecht. Bist du nicht mit mir einig geworden über einen Silbergroschen?

Nimm, was dein ist, und geh! Ich will aber diesem Letzten dasselbe geben wie dir.

Oder habe ich nicht Macht zu tun, was ich will, mit dem, was mein ist? Siehst du scheel drein, weil ich so gütig bin? (Mt 20,1-15)

 

Als wir das gehört hatten, war es ganz still. Diesmal war es keine Antwort, die uns stumm werden ließ, sondern eine Frage. Siehst du scheel drein, weil ich so gütig bin? Wir sahen uns an, wie wir da standen in unserer Ordnung. Die er am Ufer des Sees zuerst angesprochen hatte, ganz nahe bei ihm, dann die anderen, dann die, die erst seit ein paar Wochen bei uns waren. Daran hatte sich nichts geändert, auch nicht nach seinem großen Versprechen.

Und wir merkten: Diese stumme Ordnung unter uns, unsere ewigen Reihenfolgen, all das Messen und Zählen und Berechnen, das alles hat mit ihm nichts zu tun. Es interessiert ihn einfach nicht. Er holt die zu sich, die er bei sich haben will. Das wussten wir doch eigentlich, wir hatten es ja oft genug erlebt auf dem Weg mit ihm. Aber es hatte uns noch nicht dazu gebracht, die Ordnung unter uns aufzugeben.

 

Hört endlich auf zu rechnen und zu vergleichen, sagte er. Wenn ihr mit mir gehen wollt, dann geht. Lasst die Ordnungen hinter euch, die ihr kennt. Freut euch an dem Weg, den wir gemeinsam gehen und an der Zeit, die ihr mit mir verbracht habt. Vom Morgen bis zum Abend bei mir zu sein, das zählt doch. Auch durch die Stunden der Mittagshitze kommen wir hindurch. Und wer nur ein kurzes Stück Weg bei mir war, der hatte doch auch so wenig von mir. Also kommt, lasst uns gehen.

 

Amen

 

Eingangsgebet:

 

Gott, Geber aller guten Gaben,

wir danken dir

dass du uns manches gelingen lässt.

Wir freuen uns über unsere Stärken,

sind stolz auf unsere Erfolge.

Lass uns darüber nicht selbstgerecht werden

Und auf andere herabsehen,

die weniger leisten,

oder deren Gaben unseren Augen verborgen sind.

Befreie uns von eitlem Rechnen und Vergleichen

Und schärfe uns ein,

dass wir alle

von deiner großen Barmherzigkeit leben.

 

(Sylvia Bukowski)

 

 

 

Epistel: Röm 9,14-24

Lesung aus dem Alten Testament: Jer 9, 22f.

 

Liedvorschläge:

EG 384 (Lasset uns mit Jesus ziehen)

EG 391 (Jesu geh voran)

EG 393 (Kommt Kinder, lasst uns gehen)

EG 409 (Gott liebt diese Welt)

EG 452 (Er weckt mich alle Morgen)

 

1 I Mt 16,22

2 I Mt 18,1.

3 I Mt 18,21.

4 I Mt 19,16.

5 I Mt 19,27.

 

 

 

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrerin Kathrin Oxen

1.    Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Predigt nimmt die gottesdienstliche Situation noch vor dem Beginn der Passionszeit auf. In dieser Zwischenzeit können grundsätzliche Aspekte der Nachfolge Jesu in Ruhe, auch meditativ, in jedem Fall existenziell bedacht werden. Die Predigt erzählt von da-mals und lädt gleichzeitig ein, dies aufs Heute zu übertragen. Wie steht es um Macht und Hierarchie in der Kirche Jesu Christi? Die aktuelle Debatte um den „synodalen Weg“ in der katholischen Kirche kann als Aktualisierung dieser Frage verwendet werden.


2.    Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Ich habe endlich verstanden, dass es bei den Arbeitern im Weinberg weniger um den Gerechtigkeitsbegriff als vielmehr um das Wesen der Nachfolge geht. Und ich wollte schon immer einmal den Predigttext an das Ende einer Predigt rücken.


3.    Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Meine Entdeckung war die Kontextualisierung des Gleichnisses von den Arbeitern im Weinberg, das seinen Platz zwischen der zweiten und dritten Leidensankündigung findet. Insofern enthält es aus meiner Sicht keine abstrakten, sondern höchst konkrete Aussagen über den Charakter der Nachfolge Jesu.


4.    Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die konsequente Einhaltung der gewählten Perspektive und die Kraft, auf Übertra-gungen und Kommentare ganz zu verzichten.

 

Perikope
09.02.2020
20,1-16