Der gekrümmte Lichtstrahl
„Gott ist die Liebe …“, schreibt der Autor der Johannisbriefe. Seine Worte richteten sich an eine Gemeinde, die inmitten heftiger Auseinandersetzungen lebte. Die „Gnosis“ schickte sich an, mit ihrem Gedankengut die überlieferte Christusoffenbarung umzugestalten. Eine starke Betonung der Hinfälligkeit und Vergänglichkeit des Lebens gingen in ihr einher mit geradezu hymnischen Spekulationen über die unvergängliche Seele im Körper des Menschen. Wahres und Nachdenkenswertes vermischten sich in der Gnosis mit Falschem und Abwegigem. Die praktische Konsequenz war, dass die Gnostiker einerseits unbeherrscht und ausschweifend lebten, da ja diese Welt zu nichts nütze sei. Andererseits steigerten sich in eine asketische Grundhaltung, die Welt und Leben verneinte. Dazwischen gab es zudem andere, „harmlosere“ Formen. Das war die Situation Ende des ersten, Anfang des zweiten Jahrhunderts nach Christus.
Im Johannesbrief heißt es in unverkennbarer Entgegensetzung zur „Gnosis“: „Wir haben erkannt und wir sind fest überzeugt, dass Gott die Liebe ist“ und – das macht nun den Unterschied – wer immer liebt, der trägt Gottes Nähe in diese Welt Gottes. I1I Zwei Existenzweisen standen sich gegenüber: ‚Alles zwecklos. Man kann nichts machen, als sich aus diesem Leben zurückzuziehen’ oder ‚Liebe, praktische Liebe in und für diese Welt, ist unser Weg’. Darum sagt der Autor der Johannisbriefe in großer Deutlichkeit: „Wer seinen Bruder hasst (weil er ihm egal ist oder nur auf dem Weg zur eigenen Vollkommenheit im Weg steht), liebt nicht Gott.“
Von diesen Worten geht ein starker Impuls bis zu uns heute aus, ein Mensch der Liebe zu werden. Was aber heißt und bedeutet das? Wie ist es möglich, in einer Welt, in der jeder an sich selbst denkt, im Berufsleben gar nicht umhin kommt, sich zu schützen und partiell erst einmal an sich zu denken, „Liebe“, d. h. Nächstenliebe zu üben?
Gehen wir in dem Versuch, diese Frage zu beantworten, zunächst den Weg der Negation. D.h.: Ziehen wir gegenüber dem, was nicht in das Terrain des hohen Wortes „Liebe“ gehört, eine Grenze.
Seit den Schriften Nietzsches wissen wir in geradezu verletzender Klarheit, dass „Liebe“ keine Liebe ist, wenn ein Mensch „liebt“, weil das seinen Ruhm vermehrt. „Liebe“, die nach eigener Anerkennung schielt, ist ihr Gegenteil. Wer dem anderen beisteht und sich gleichzeitig auf seine Schultern klopft, macht den anderen nur zum Mittel zum Zweck. Wo Liebe dem Selbstruhm dient, ist es keine Liebe, sondern nur Missbrauch der Not des anderen.
Soweit eine erste, weite und grundlegende Terrainabsteckung.
Wir werden gleichzeitig als zweites, als Negation von dem, was Liebe ist, sagen, dass ein bisschen Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft nicht gleich „Liebe“ sind.
Ein Besuch bei einem Nachbarn oder an einem Krankenbett kann alle nur denkbaren Gründe haben. Auf das Kind der allein erziehenden Mutter von nebenan mal eine Zeit zu sehen, ist auch nicht gleich eine Liebestat. Zu einem Vereinsfest oder einer Veranstaltung der Gemeinde einen Kuchen zu backen oder einen Salat mitzubringen, bedarf nicht einer besonderen Motivation durch die Liebe.
Liebe ist mehr als ein bisschen Menschlichkeit, die nicht weh tut. - Soweit die notwendigen Abgrenzungen. Was aber ist „Liebe“?
Unser Text verankert die Liebe zum Mitmenschen in der Liebe, die von Gott ausgeht. Man kann sogar sagen, dass die menschliche Liebe, so man das große Wort gebraucht, nicht ohne Verankerung in Gottes Liebe zustande kommt. Ich würde das als die Hauptaussage des Textes ansehen, so allgemein das jetzt auch in unseren Ohren klingen mag.
Deshalb ist jetzt der Frage nachzugehen, wie es mit der Liebe ist, die von Gott ausgeht.
Mir hilft dabei ein Blick in die Physik. I2I
Albert Einstein stellte (in seiner Allgemeinen Relativitätstheorie) 1915 die Hypothese auf, dass sich Licht nicht geradlinig im Weltall ausbreite, sondern durch die Masse eines Himmelskörpers in seinem Verlauf gekrümmt werde. Dazu ließ er den berühmten Einsteinturm in Potsdam bauen und untersuchte mit seinem Mitarbeiter Erwin Freundlich unentwegt das Sonnenlicht. Man hoffte in der Spektralanalyse eine Rotverschiebung und damit eine Krümmung des Sonnenlichtes nachzuweisen. Alle Beobachtungen schlugen fehl. Der Turm war in dieser Hinsicht umsonst gebaut.
Erst 1919 kam es bei der Beobachtung einer Sonnenfinsternis zum Nachweis. Der Mond stellte sich in einzigartiger Weise zwischen Erde und Sonne. Zwei Astrophysiker aus Cambridge, Arthur Stanley Eddington und Charles Davidson begaben sich an unterschiedliche Orte der Erde. Ihre Aufgabe war, heraus zu bekommen, ob am Tag der Sonnenfinsternis die Sterngruppe hinter der Sonne, die Hyaden, sichtbar werden oder nicht. Zog die Masse der Sonne den Lichtstrahl, der hinter ihr stand, in ihr Krümmungsfeld und machte ihn dadurch sichtbar? Es war trotz widriger Umstände am 29.Mai 1919 so. Für eine Zeit lang riss die Wolkendecke auf und das Licht der Hyaden wurde sichtbar.
Nun war es keine Vermutung mehr, dass die Sonnenmasse das Licht krümmt. So kommt es zur Erde. Jeder Lichtstrahl unterliegt dieser Kraft der Sonne und ihrer Lenkung.
Zurück zu den Worten aus dem Johannesbrief!
„Gott ist die Liebe.“ Das ist das Wesentliche. Es ist der Hauptsatz über Gott. Gottes Energie, Gottes Kraft und alles, was von Gott ausgeht, unterliegen ihm wie das Licht, das von der Sonne ausgeht. Gott wendet all sein Tun unter die Liebe. Der Lichtstrahl, der von Gott ausgeht, ist von ihm, das heißt durch seine Liebe geprägt.
Wie die Sonne in sich Erscheinungen birgt, die wir nicht verstehen, ja als Schaden für uns ansehen, Eruptionen von Energiemassen, Sonnengewitter, Sonnenwinde und – stürme, so geht von Gott vieles aus, das wir nicht verstehen und das uns Schaden und Vernichtung bringt. Trotz dieser „dunklen Seite“ Gottes gilt, dass inmitten der vielen nicht nach vollziehbaren Taten Gottes das allem Übergeordnete seine Liebe ist. Der Autor der Johannesbriefe will, dass wir das sehen.
1782 malte einer der „hervorragendsten Berliner Künstler in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts“, I3I Christian Bernhard Rode, das Gleichnis vom verlorenen Sohn. Es war ein Altarbild für die Marktkirche in Neuruppin, jetzt in der Hoffnungskirche zu Berlin-Pankow.
[Bild: http://www.hoffnungskirche-pankow.de/archiv/2013/jugendstil.html#c1159
und unten s. "Downloads"]
1783 wurde er auf königlichen Befehl Direktor der Akademie der Künste, aber Friedrich II. ließ dennoch kein einziges Bild von ihm für seine Sammlung malen. Rode blieb im Schatten seines Lehrers Antoine Pesne, den Friedrich der Große bevorzugte. Er war der Übersehene und Übergangene.
Rode war sehr wohlhabend. Es gibt ca. 300 Bilder von ihm. Um so mehr war es ein tiefer Schmerz für ihn, dass seine Ehe kinderlos blieb. Gesund war er nicht und 1785 kam die schwere und unheilbare Krankheit zum Ausbruch, die ihn1797 sterben ließ. Wie muss er mit Gott gehadert haben?
1776 malte er ein Bild Abrahams, das Bild eines Vaters schlechthin. Sechs Jahre später, 1782, bekommt das Bild des „Vaters“ im Gleichnis vom verlorenen Sohn ähnliche Züge und unterscheidet sich doch um Welten von seinem ersten Vaterbild. Es erreicht nahezu die Höhe und Aussagekraft der Bilder Rembrandts.
Nach der Erzählung vom verlorenen Sohn ist Gott der, der mich aufgrund meiner Abirrungen und Verirrungen nie abschreibt.
Er kennt keine Vorurteile gegenüber meiner Person, die er nun in meinem Scheitern bestätigt sieht.
Er ist in Gedanken immer bei mir.
Er freut sich unbändig, wenn ich auf den guten Weg zurück gefunden habe.
Wenn mich keiner versteht und ich mich nicht verstehe, gibt es wie einen archimedischen Punkt seine ausgebreiteten Arme.
Das hat Christian Bernhard Rode in das Gesicht der Vatergestalt projiziert. Nach allem, was wir von seinem Leben wissen, war es ein starkes Bekenntnis: ‚Ich, Christian Bernhard Rode, bekenne, dass Gott Liebe ist.’
Zwei Folgerungen zieht der Autor des 1. Johannesbriefes inmitten der gnostischen Kämpfe.
„Furcht ist nicht in der Liebe.“ Die „Liebe“ ist hier die Liebe Gottes. Karl Barth legt das darum so aus: Wer im Haus der Liebe Gottes bleibt, hat keine Furcht. I4I Geht ein Mensch immer wieder in das Haus der Liebe Gottes, dann wird ihm die Furcht ausgetrieben.
Der Eintritt in das „Haus Gottes“, die Bewusstmachung, wie stark ich geliebt werde, lässt die Furcht nicht zu.
Und dann natürlich das zweite: Wir betreten das „Haus der Liebe Gottes“ nicht allein deshalb, um uns aufrichten zu lassen. Das ist wohl wahr. Es ist aber nicht das einzige.
Es geht darum, sich sozusagen von Gottes Liebe abfärben zu lassen.
„Ich will keine Vorurteile hegen und pflegen.
Ich will niemanden abschreiben.
Ich will Geduld haben und warten.
Ich will vergeben und vergessen.
Ich will mich mit anderen über jedes gelungene Wegstück freuen.“
„Selig sind die Barmherzigen deswegen“, sagt Dietrich Bonhoeffer, „weil sie den Barmherzigen zum Vater haben.“ I5I
I1I „Die Doppelformel ‚erkennen’ und ‚glauben’ erklärt sich aus der inneren Verwandtschaft von Glauben und Erkennen einerseits und dem Kampf gegen die Gnosis andererseits.“ - Fritz Rienecker, Sprachlicher Schlüssel zum Neuen Testament, Gießen-Basel 1963, S. 602.
I2I Die Darstellung ist vergröbert. Eine genauere Schilderung des Hergangs ist im vorgegeben Rahmen nicht sinnvoll. Vgl. dazu u. a. Marianne Tölle, Geheimnisse des Unbekannten, 2007, S. 45 ff., Markolf H. Niemtz, Lucy im Licht, München 2007, S. 46 ff.
I3I Franz Weinitz, Rode, Christian Bernhard, in: Allgemeine Deutsche Biographie, hrsg. v. der Historischen Kommission der Bayrischen Akademie der Wissenschaften, Band 29 (1989), S. 3-4, S. 3. Auch als digitale Version.
Vor allem: Allgemeines Lexikon der Bildenden Künstler, hrsg. v. Thieme, Becker, Vollmer, Leipzig o. J., 28. Band, S. 455.
I4I In: Karl Barth, Den Gefangenen Befreiung, Zürich 1963, Predigt über 1. Johannesbrief 4, 16-21.
I5I Zitiert nach Losungen der Herrnhuter Brüdergemeine zum 27.5.2015, 285. Ausgabe, 2015.