"Der gute Kamerad", Predigt zum Volkstrauertag von Elisabet Mester
Der GUTE KAMERAD – Predigt zum Volkstrauertag 2011
Hungrige speisen, Durstige tränken, Fremde beherbergen, Nackte kleiden, Kranke pflegen, Gefangene besuchen und Tote bestatten – das sind die sieben Werke der Barmherzigkeit, wie die christliche Tradition sie kennt und nennt. Das siebte Werk: Tote bestatten, hat Jesus in seinem Gleichnis vom Weltgericht (Mt. 25, 31-46) nicht erwähnt. Von Jesus wird vielmehr behauptet, er habe einen jungen Mann aufgefordert, ihm nachzufolgen, ohne zuvor seinen Vater beigesetzt zu haben. „Lass die Toten ihre Toten begraben“, soll er zu ihm gesagt haben (Mt. 8, 22). Der Kirchenvater Lactantius hat das siebte Werk der Barmherzigkeit im dritten christlichen Jahrhundert angefügt. Tote bestatten. Das ist seitdem eine moralische Forderung. Sie sollen nicht wie verendete Tiere liegen bleiben und zur Speise für Aasfresser werden, die Toten. Sie sind und bleiben Menschen, auch wenn sie gestorben sind. Das gilt seitdem. Es gilt nicht nur für uns hier und heute. Es gilt auch für die Toten der Kriege. Die gefallenen Soldaten, sie sollen nicht einfach im Sachlamm und Schmutz eines Schlachtfelds zurückgelassen werden. Man nennt das die Ruhe nach dem Sturm, wenn zwischen den Schlachten die Waffen schweigen. Diese Ruhepausen sind dazu da, dass die Gefallenen aufgelesen und begraben werden können. Meist sind es die Sieger, die auf dem gerade gewonnenen Grund auch die Leichname ihrer Feinde aufsammeln. Sie werden zur letzten Ruhe gebettet, genau wie die der eigenen Gefallenen.
Heute ist Volkstrauertag. Der Tag, der dazu da ist, dass man bei uns an die gefallenen Soldaten denkt. Ebenso an die Witwen, die ohne ihre Männer weiterleben mussten. An die Kinder, die ohne ihre Väter aufgewachsen sind. All diese gibt es heute noch, und nicht nur hier bei uns – in der ganzen Welt sind Kriege und Folgen von solcher Gewalt zu sehen und zu spüren. Auch daran wollen wir heute in diesem Gottesdienst denken. Zunächst aber möchte ich mit Ihnen singen: Aus dem Psalmlied 283 die Strophen 3, 4, 6+7.
Die Toten zu bestatten, das war seit dem dritten christlichen Jahrhundert ein Werk der Barmherzigkeit - so etwas wie eine heilige Pflicht. Auch die Toten des Schlachtfelds. Man ließ sie nicht im Staub des Kriegsschauplatzes liegen, sondern nahm sie mit, um sie irgendwo zu begraben, schnell und dürftig vielleicht, aber immerhin. Man tat dieser Christenpflicht Genüge. Arme Kerle waren sie, die Rekruten, sowohl die von der eigenen als auch die von der anderen Seite.
In einem alten Gesang der Landsknechte heißt es: „Wo ich fall, scharrt man mich nieder, ohne Klang und ohne Lieder, niemand fraget, wer ich bin.“
Und doch haben Menschen angefangen zu fragen, wo sie liegen, die mitunter flach und notdürftig verscharrten, die toten Soldaten. Wo Tod ist, ist auch Trauer. Trauer sucht einen Ort. Sehr oft ist ein wichtiger Ort für die Trauer das Grab dessen, der gestorben ist. Denen, die weiter leben müssen ohne ihn, kann es viel bedeuten. Nicht nur den Angehörigen der Gefallenen geht es so. Auch den überlebenden Soldaten.
Es gibt ein Lied, das davon erzählt, wie es einem Soldaten geht, der miterleben musste, wie direkt neben ihm ein Freund von einer Kugel zerfetzt wurde. Eigentlich ist es ein Gedicht von Ludwig Uhland. Bekannt wurde es in einer Vertonung von Friedrich Silcher. „Der gute Kamerad“ heißt es.
Ich hatt’ einen Kameraden,
Einen bessern findst du nit.
Die Trommel schlug zum Streite,
Er ging an meiner Seite
In gleichem Schritt und Tritt.
Eine Kugel kam geflogen,
Gilt’s mir oder gilt es dir?
Ihn hat es weggerissen,
Er liegt mir vor den Füßen,
Als wär’s ein Stück von mir.
Will mir die Hand noch reichen,
Derweil ich eben lad.
Kann dir die Hand nicht geben,
Bleib du im ew’gen Leben
Mein guter Kamerad!
Ludwig Uhland schrieb dies Gedicht während der Befreiungskriege gegen Napoleon. Österreich war das erste europäische Land gewesen, dass sich gegen den Herrscher aus Frankreich erhoben hatte. Daraufhin rekrutierte die Französische Armee im besetzten Baden viele junge Männer und zwang sie, gegen die Aufständischen Tiroler ins Feld zu ziehen. Mit ihnen, den Badenern, die aus seiner Heimat stammten, fühlte Ludwig Uhland mit, aber ebenso mit den Freiheitskämpfern der Gegenseite. Sein Freund und Förderer Leo von Seckendorf fiel als Hauptmann auf der Seite der Österreicher.
Um die Menschen, deren Blut in diesem Krieg vergossen wurde, tat es dem Dichter leid. Das war ungewöhnlich. Mit den „Feinden“ mit zu fühlen, war nicht üblich und auch nicht erwünscht. Mit den „eigenen“ Soldaten eigentlich auch nicht. Sie galten nicht wirklich als Menschen, mehr als Menschenmaterial, als Manövriermasse eben. Mit Soldaten wurde nicht gesprochen, mit ihnen wurde kalkuliert oder gedroht. Sie wurden eingezogen und ausgebildet, befehligt, geschunden und drangsaliert, in Reih' und Glied aufgestellt und in die Schlacht geschickt. Der einzelne Mann zählte wenig bis nichts. Sein Tod war eher eine Frage der Statistik als eine der Anteilnahme. Moral und Militär, das waren zwei Paar Schuhe.
Das ging so lange, bis die Bürger in den Städten stärker wurden und dem Adel etwas entgegensetzen konnten. Sie verlangten, dass es anständig zugehen sollte – nicht nur in ihrem Rathaus und in der Regierung ihres Landes – auch bei Militär. Dass man ihnen die jungen Männer nicht durch den schrecklichen Drill kaputt mache. Dass man sie nicht als Kanonenfutter in einen sinnlosen Tod schicke. Dass sie beim Heer dienen und dort vielleicht sogar Karriere machen könnten, forderten sie, und dabei Mensch bleiben. Menschen mit Persönlichkeit und Würde; Menschen, die ein Recht auf Schutz und Fürsorge haben, Staatsbürger in Uniform, wie wir heute sagen. Schluss mit der Menschenschinderei, verlangten sie, unsere Söhne sind keine elenden Kriegsknechte, sie sind mündige Bürger, die ihr Land verteidigen, wenn es nötig ist.
Was ist wichtiger? Die Politik oder das Militär? Darum ging es damals.
Es gab Demokraten, für die fing der Mensch nicht erst beim Leutnant an. Sie forderten, dass auch die Uniformträger niedriger Dienstgrade freie Männer sein dürften, mündige Persönlichkeiten und selbständige Subjekte, die in erster Linie nicht ihrem Vorgesetzten, sondern ihrem Gewissen verantwortlich sein sollten. Durch keinen Befehl, auch nicht durch den eines Königs, könnten sie aus der Verantwortung für ihr Handeln entlassen werden. Damals hieß das die „Freiheit des Rückens“. Heute nennt man es das Prinzip der inneren Führung. Niemand kann sich mehr auf einen Befehlsnotstand herausreden und sagen, man hätte ihn zu irgendwelchen verbrechen gezwungen.
Damals, vor 200 Jahren, traten erstmals in Deutschland Bürger auf, die sagten, die Ehre der Soldaten beruht nicht auf Tapferkeit, Gehorsam oder der Bereitschaft, sich aufzuopfern. Sie besteht vielmehr darin, ein anständiger Mensch zu sein und zu bleiben, auch in Uniform – notfalls bis zum aktiven Widerstand. Anständig ist, wer die Menschenwürde achtet – seine und die der anderen.
Die Würde eines Menschen gilt, auch über seinen Tod hinaus. Ihn zu bestatten, wenn er gestorben ist, ist dann das Mindeste. Ihn zu ehren, auch über seinen Tod hinaus, das ist das Wichtige daran.
Der Begriff der Kameradschaft kam auf. Bei der Kameradschaft ging es darum, nicht militärisch allein, sondern menschlich zu sein als Soldat. Auch als kleiner Infanterist.
„Der gute Kamerad“ nennt Ludwig Uhland sein Gedicht. Wenn ein echter Kamerad schon ein guter Mensch im Soldatenkleid ist, dann ist der gute Kamerad noch besser. Kann das sein?
ICH. Damit fängt es an. Ich hatt' einen Kameraden. Ich. Ich bin ein Mensch und weiß, was ich will. Ich sage nicht als erstes „jawohl“, sondern „ich“. Ich bin bereit, mein Land mit der Waffe zu verteidigen, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gibt als die, Krieg zu führen. Ich will dabei nicht zum Knecht werden und auch nicht zum Monstrum. Ich will Mensch bleiben. Ein guter Kamerad will ich sein – dafür sorgen, dass auch die anderen Menschen bleiben können.
„Im gleichen Schritt und Tritt“ - damit ist nicht unbedingt das Donnern der Stiefel im Gleichschritt gemeint, zum Gedröhn der Trommeln. Nicht um die stupide Bewegungsform einer Marschkolonne, sondern Gleichheit geht es hier. „Im gleichen Schritt und Tritt“ - der neben mir geht, ist genau so viel wert wie ich. Keiner steht über dem anderen, soll das heißen. Wir sind hier wirklich Gleiche. Hier gilt die Achtung vor jedem Menschen. Das ist wohl gemeint mit „gute Kameradschaft“. Das, was ich für mich in Anspruch nehme an Werten, an Rechten, das gilt genau so für den neben mir.
In dem Gedicht von Uhland gibt es den „guten Kameraden“ nicht mehr. Er ist schon tot, im zweiten Wort erfahren wir es: „hatt“. Ich hatte ihn, diesen Kameraden. Ich erinnere mich an ihn, vermisse ihn jetzt, ich leide unter diesem Verlust. Wer das Gedicht liest, empfindet mit: Den Schmerz, den Schrecken, die Trauer. „Eine Kugel kam geflogen“. Ludwig Uhland fragt nicht, wer da geschossen hat oder warum. Es herrscht Krieg, das wissen wir schon. Auf wen hat der Schütze gezielt? Das allerdings ist nicht klar. Und gerade das macht es spannend. Ist es eine Laune des Schicksals, ist es ein Zufall – gilt sie mir oder gilt sie dir, die Kugel? Und wenn er das fragt, merken wir, dass er uns anspricht. Das Du, das er hier verwendet, gilt mir, wenn ich lese: Gilt's mir oder gilt es dir? Jeder kann sterben. Jeden kann es treffen. Nicht nur im Krieg. Auch ich bin sterblich.
Dem, der hier erzählt, ist der Freund getroffen worden, gleich neben ihm ist er zusammengesunken nach dem Schuss. Ich lebe noch. Und ich weiß, dass ein Mensch gestorben ist. Ein Mensch wie du. Ein Mensch wie ich. Als wär's ein Stück von mir. Aber ihn hat es weggerissen. Er liegt jetzt zu Füßen dem, der das erlebt und berichtet.
Die Füße können nicht weitergehen im gleichen Schritt und Tritt. Die Augen können nicht wegsehen und so tun, als läge er dort nicht. Das Herz kann nicht einfach aufhören zu empfinden. Es fühlt sich getroffen durch den Tod des anderen. Es ist ein Herz, ein menschliches Herz. Einen von uns hat es anscheinend treffen müssen, und ihn hat es erwischt, sagt es. Ebenso gut hätte ich selbst es sein können, sagt es. Er ist ein Mensch mit einer Familie und Freunden, sagt es. Sie werden ihn vermissen.
Nicht aus einem Pflichtbewusstsein heraus erwächst Menschlichkeit. Sie kommt aus einem Herzen, das fühlt, das Leid mitempfindet, das fremdes Leid nicht von eigenem trennt und wegschiebt. Das Herz hat hier nicht viel Zeit. Der Soldat, der überlebt hat, muss sein Gewehr halten, durchladen und schießen. Er kann dem, der getroffen wurde, nicht die Hand geben, weil er sie jetzt anders braucht. Das ist grausam, aber wahr. Kann dir die Hand nicht geben. Nicht nur dem Sterbenden keine Hand geben zu können, sondern selbst töten zu müssen um des eigenen Überlebens willen, das ist unaussprechlich grausam. In der Unbarmherzigkeit des Kriegs und seiner Ereignisse ist auch die Kameradschaft zum Scheitern verurteilt. Der Tod ist die Grenze, an der sie zerbricht. Der eine stirbt, der andere lebt. Er lebt, weil er schießt und tötet, weil auf der anderen Seite das gleiche Elend geschieht wie auf dieser, durch seine Hand. Die Kameradschaft endet hier.
Die Idee vom anständigen Menschen, der gut bleibt, auch wenn er zum Militär gezogen wird, die Idee vom verantwortungsbewussten Soldaten mit eigenem Urteilsvermögen, das Ideal von einem Angehörigen des Militärs, der nicht sinnlosen Befehlen, sondern seinem Gewissen folgt, ist damit nicht erledigt. Sie besteht weiterhin. Das, was Ludwig Uhland sich wünschte: Mündige Bürger in Uniform, die gibt es heute in unserem Land.
„Kann dir die Hand nicht geben, bleib du im ew'gen Leben mein guter Kamerad!“ Damit schließt das Gedicht. Es geht hier nicht darum, dass der gefallene Kamerad jetzt in den Himmel kommt, was die anderen trösten soll. Das wäre allzu billig. Er ist gefallen, und das Leid ist namenlos.
Der gute Kamerad im ewigen Leben, das heißt, dass wir nicht aufhören, dafür einzutreten, dass Recht und Gerechtigkeit Gestalt gewinnen auch da, wo es Konflikte und Krieg gibt. Dazu gehört auch, dass das Leben der Soldaten nicht weniger gilt als das der so genannten Zivilisten. Ein Mensch ist immer ein Mensch, das sollen wir auf ewig nicht vergessen, mahnt Uhland uns. Den Glauben daran, dass der Mensch gut sein soll und gut sein kann, brauchen wir nicht aufzugeben, auch dann nicht, wenn es immer noch Kriege gibt. Und wir leiden darunter, dass es Kriege gibt auf Gottes Welt. Sie sollen nicht sein. Auch das meint Ludwig Uhland, wenn er uns vor Augen führt, wie grausam der Krieg ist, der Menschen sterben lässt. Nicht, damit vermeintliche Heldentode verklärt werden können, hat er diese Worte geschrieben, sondern damit wir für Freiheit und Menschenwürde eintreten. Auch die Fähigkeit, um die Opfer von Kriegen zu trauern, gehört zu der Humanität, zu der er uns aufruft.
Eine in seinem Sinne wirklich gute Kameradschaft, ein auf menschliche Werte gegründetes Miteinander im Militär ist in Deutschland lange vergeblich gesucht worden. Erbarmungsloser Drill und eine nahezu vollständige Entmündigung der Soldaten herrschte bis 1945. In den Zeiten eines Kadavergehorsams ist dies Gedicht dennoch immer wieder gesungen worden, auf zwiefache Weise.
Die einfachen, erniedrigten und geknechteten Soldaten, sie haben mit diesem Lied versucht, ihre Solidarität miteinander auszudrücken. Gemeinsam haben sie gelitten, haben Todesnöte ausgestanden, haben ihre Träume und Hoffnungen miteinander geteilt und ihre toten Kameraden betrauert. Wenn sie das Lied vom „Guten Kameraden“ sangen, dann wussten sie: Es ging um sie.
Die Führungen von Staat und Militär auf der anderen Seite haben immer wieder versucht, mit Hilfe dieses Liedes die menschenverachtenden Zustände in der Armee zu beschönigen und den Soldaten weiszumachen, ihr Leben sei nicht viel mehr wert als eben dazu, geopfert zu werden. Ein solcher Totenkult, wie er mit diesem Lied getrieben worden ist, entspricht durchaus nicht dem Ansinnen des Dichters. Ihm ging es um Mündigkeit, um Mitleid mit den Nächsten, ja um Menschlichkeit. Dass man die Toten bestattet, das gehört dazu. Auch die toten Soldaten. Und dass man sie betrauert. Damit der Wert des Lebens erkannt und geschätzt wird, und das Töten ein Ende findet, um Gottes Willen. Amen.
EG 430
Hinweis:
Ich habe für die Predigt einen Aufsatz von Harm-Peer Zimmermann verwendet: „Der gute Kamerad“.
Hungrige speisen, Durstige tränken, Fremde beherbergen, Nackte kleiden, Kranke pflegen, Gefangene besuchen und Tote bestatten – das sind die sieben Werke der Barmherzigkeit, wie die christliche Tradition sie kennt und nennt. Das siebte Werk: Tote bestatten, hat Jesus in seinem Gleichnis vom Weltgericht (Mt. 25, 31-46) nicht erwähnt. Von Jesus wird vielmehr behauptet, er habe einen jungen Mann aufgefordert, ihm nachzufolgen, ohne zuvor seinen Vater beigesetzt zu haben. „Lass die Toten ihre Toten begraben“, soll er zu ihm gesagt haben (Mt. 8, 22). Der Kirchenvater Lactantius hat das siebte Werk der Barmherzigkeit im dritten christlichen Jahrhundert angefügt. Tote bestatten. Das ist seitdem eine moralische Forderung. Sie sollen nicht wie verendete Tiere liegen bleiben und zur Speise für Aasfresser werden, die Toten. Sie sind und bleiben Menschen, auch wenn sie gestorben sind. Das gilt seitdem. Es gilt nicht nur für uns hier und heute. Es gilt auch für die Toten der Kriege. Die gefallenen Soldaten, sie sollen nicht einfach im Sachlamm und Schmutz eines Schlachtfelds zurückgelassen werden. Man nennt das die Ruhe nach dem Sturm, wenn zwischen den Schlachten die Waffen schweigen. Diese Ruhepausen sind dazu da, dass die Gefallenen aufgelesen und begraben werden können. Meist sind es die Sieger, die auf dem gerade gewonnenen Grund auch die Leichname ihrer Feinde aufsammeln. Sie werden zur letzten Ruhe gebettet, genau wie die der eigenen Gefallenen.
Heute ist Volkstrauertag. Der Tag, der dazu da ist, dass man bei uns an die gefallenen Soldaten denkt. Ebenso an die Witwen, die ohne ihre Männer weiterleben mussten. An die Kinder, die ohne ihre Väter aufgewachsen sind. All diese gibt es heute noch, und nicht nur hier bei uns – in der ganzen Welt sind Kriege und Folgen von solcher Gewalt zu sehen und zu spüren. Auch daran wollen wir heute in diesem Gottesdienst denken. Zunächst aber möchte ich mit Ihnen singen: Aus dem Psalmlied 283 die Strophen 3, 4, 6+7.
Die Toten zu bestatten, das war seit dem dritten christlichen Jahrhundert ein Werk der Barmherzigkeit - so etwas wie eine heilige Pflicht. Auch die Toten des Schlachtfelds. Man ließ sie nicht im Staub des Kriegsschauplatzes liegen, sondern nahm sie mit, um sie irgendwo zu begraben, schnell und dürftig vielleicht, aber immerhin. Man tat dieser Christenpflicht Genüge. Arme Kerle waren sie, die Rekruten, sowohl die von der eigenen als auch die von der anderen Seite.
In einem alten Gesang der Landsknechte heißt es: „Wo ich fall, scharrt man mich nieder, ohne Klang und ohne Lieder, niemand fraget, wer ich bin.“
Und doch haben Menschen angefangen zu fragen, wo sie liegen, die mitunter flach und notdürftig verscharrten, die toten Soldaten. Wo Tod ist, ist auch Trauer. Trauer sucht einen Ort. Sehr oft ist ein wichtiger Ort für die Trauer das Grab dessen, der gestorben ist. Denen, die weiter leben müssen ohne ihn, kann es viel bedeuten. Nicht nur den Angehörigen der Gefallenen geht es so. Auch den überlebenden Soldaten.
Es gibt ein Lied, das davon erzählt, wie es einem Soldaten geht, der miterleben musste, wie direkt neben ihm ein Freund von einer Kugel zerfetzt wurde. Eigentlich ist es ein Gedicht von Ludwig Uhland. Bekannt wurde es in einer Vertonung von Friedrich Silcher. „Der gute Kamerad“ heißt es.
Ich hatt’ einen Kameraden,
Einen bessern findst du nit.
Die Trommel schlug zum Streite,
Er ging an meiner Seite
In gleichem Schritt und Tritt.
Eine Kugel kam geflogen,
Gilt’s mir oder gilt es dir?
Ihn hat es weggerissen,
Er liegt mir vor den Füßen,
Als wär’s ein Stück von mir.
Will mir die Hand noch reichen,
Derweil ich eben lad.
Kann dir die Hand nicht geben,
Bleib du im ew’gen Leben
Mein guter Kamerad!
Ludwig Uhland schrieb dies Gedicht während der Befreiungskriege gegen Napoleon. Österreich war das erste europäische Land gewesen, dass sich gegen den Herrscher aus Frankreich erhoben hatte. Daraufhin rekrutierte die Französische Armee im besetzten Baden viele junge Männer und zwang sie, gegen die Aufständischen Tiroler ins Feld zu ziehen. Mit ihnen, den Badenern, die aus seiner Heimat stammten, fühlte Ludwig Uhland mit, aber ebenso mit den Freiheitskämpfern der Gegenseite. Sein Freund und Förderer Leo von Seckendorf fiel als Hauptmann auf der Seite der Österreicher.
Um die Menschen, deren Blut in diesem Krieg vergossen wurde, tat es dem Dichter leid. Das war ungewöhnlich. Mit den „Feinden“ mit zu fühlen, war nicht üblich und auch nicht erwünscht. Mit den „eigenen“ Soldaten eigentlich auch nicht. Sie galten nicht wirklich als Menschen, mehr als Menschenmaterial, als Manövriermasse eben. Mit Soldaten wurde nicht gesprochen, mit ihnen wurde kalkuliert oder gedroht. Sie wurden eingezogen und ausgebildet, befehligt, geschunden und drangsaliert, in Reih' und Glied aufgestellt und in die Schlacht geschickt. Der einzelne Mann zählte wenig bis nichts. Sein Tod war eher eine Frage der Statistik als eine der Anteilnahme. Moral und Militär, das waren zwei Paar Schuhe.
Das ging so lange, bis die Bürger in den Städten stärker wurden und dem Adel etwas entgegensetzen konnten. Sie verlangten, dass es anständig zugehen sollte – nicht nur in ihrem Rathaus und in der Regierung ihres Landes – auch bei Militär. Dass man ihnen die jungen Männer nicht durch den schrecklichen Drill kaputt mache. Dass man sie nicht als Kanonenfutter in einen sinnlosen Tod schicke. Dass sie beim Heer dienen und dort vielleicht sogar Karriere machen könnten, forderten sie, und dabei Mensch bleiben. Menschen mit Persönlichkeit und Würde; Menschen, die ein Recht auf Schutz und Fürsorge haben, Staatsbürger in Uniform, wie wir heute sagen. Schluss mit der Menschenschinderei, verlangten sie, unsere Söhne sind keine elenden Kriegsknechte, sie sind mündige Bürger, die ihr Land verteidigen, wenn es nötig ist.
Was ist wichtiger? Die Politik oder das Militär? Darum ging es damals.
Es gab Demokraten, für die fing der Mensch nicht erst beim Leutnant an. Sie forderten, dass auch die Uniformträger niedriger Dienstgrade freie Männer sein dürften, mündige Persönlichkeiten und selbständige Subjekte, die in erster Linie nicht ihrem Vorgesetzten, sondern ihrem Gewissen verantwortlich sein sollten. Durch keinen Befehl, auch nicht durch den eines Königs, könnten sie aus der Verantwortung für ihr Handeln entlassen werden. Damals hieß das die „Freiheit des Rückens“. Heute nennt man es das Prinzip der inneren Führung. Niemand kann sich mehr auf einen Befehlsnotstand herausreden und sagen, man hätte ihn zu irgendwelchen verbrechen gezwungen.
Damals, vor 200 Jahren, traten erstmals in Deutschland Bürger auf, die sagten, die Ehre der Soldaten beruht nicht auf Tapferkeit, Gehorsam oder der Bereitschaft, sich aufzuopfern. Sie besteht vielmehr darin, ein anständiger Mensch zu sein und zu bleiben, auch in Uniform – notfalls bis zum aktiven Widerstand. Anständig ist, wer die Menschenwürde achtet – seine und die der anderen.
Die Würde eines Menschen gilt, auch über seinen Tod hinaus. Ihn zu bestatten, wenn er gestorben ist, ist dann das Mindeste. Ihn zu ehren, auch über seinen Tod hinaus, das ist das Wichtige daran.
Der Begriff der Kameradschaft kam auf. Bei der Kameradschaft ging es darum, nicht militärisch allein, sondern menschlich zu sein als Soldat. Auch als kleiner Infanterist.
„Der gute Kamerad“ nennt Ludwig Uhland sein Gedicht. Wenn ein echter Kamerad schon ein guter Mensch im Soldatenkleid ist, dann ist der gute Kamerad noch besser. Kann das sein?
ICH. Damit fängt es an. Ich hatt' einen Kameraden. Ich. Ich bin ein Mensch und weiß, was ich will. Ich sage nicht als erstes „jawohl“, sondern „ich“. Ich bin bereit, mein Land mit der Waffe zu verteidigen, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gibt als die, Krieg zu führen. Ich will dabei nicht zum Knecht werden und auch nicht zum Monstrum. Ich will Mensch bleiben. Ein guter Kamerad will ich sein – dafür sorgen, dass auch die anderen Menschen bleiben können.
„Im gleichen Schritt und Tritt“ - damit ist nicht unbedingt das Donnern der Stiefel im Gleichschritt gemeint, zum Gedröhn der Trommeln. Nicht um die stupide Bewegungsform einer Marschkolonne, sondern Gleichheit geht es hier. „Im gleichen Schritt und Tritt“ - der neben mir geht, ist genau so viel wert wie ich. Keiner steht über dem anderen, soll das heißen. Wir sind hier wirklich Gleiche. Hier gilt die Achtung vor jedem Menschen. Das ist wohl gemeint mit „gute Kameradschaft“. Das, was ich für mich in Anspruch nehme an Werten, an Rechten, das gilt genau so für den neben mir.
In dem Gedicht von Uhland gibt es den „guten Kameraden“ nicht mehr. Er ist schon tot, im zweiten Wort erfahren wir es: „hatt“. Ich hatte ihn, diesen Kameraden. Ich erinnere mich an ihn, vermisse ihn jetzt, ich leide unter diesem Verlust. Wer das Gedicht liest, empfindet mit: Den Schmerz, den Schrecken, die Trauer. „Eine Kugel kam geflogen“. Ludwig Uhland fragt nicht, wer da geschossen hat oder warum. Es herrscht Krieg, das wissen wir schon. Auf wen hat der Schütze gezielt? Das allerdings ist nicht klar. Und gerade das macht es spannend. Ist es eine Laune des Schicksals, ist es ein Zufall – gilt sie mir oder gilt sie dir, die Kugel? Und wenn er das fragt, merken wir, dass er uns anspricht. Das Du, das er hier verwendet, gilt mir, wenn ich lese: Gilt's mir oder gilt es dir? Jeder kann sterben. Jeden kann es treffen. Nicht nur im Krieg. Auch ich bin sterblich.
Dem, der hier erzählt, ist der Freund getroffen worden, gleich neben ihm ist er zusammengesunken nach dem Schuss. Ich lebe noch. Und ich weiß, dass ein Mensch gestorben ist. Ein Mensch wie du. Ein Mensch wie ich. Als wär's ein Stück von mir. Aber ihn hat es weggerissen. Er liegt jetzt zu Füßen dem, der das erlebt und berichtet.
Die Füße können nicht weitergehen im gleichen Schritt und Tritt. Die Augen können nicht wegsehen und so tun, als läge er dort nicht. Das Herz kann nicht einfach aufhören zu empfinden. Es fühlt sich getroffen durch den Tod des anderen. Es ist ein Herz, ein menschliches Herz. Einen von uns hat es anscheinend treffen müssen, und ihn hat es erwischt, sagt es. Ebenso gut hätte ich selbst es sein können, sagt es. Er ist ein Mensch mit einer Familie und Freunden, sagt es. Sie werden ihn vermissen.
Nicht aus einem Pflichtbewusstsein heraus erwächst Menschlichkeit. Sie kommt aus einem Herzen, das fühlt, das Leid mitempfindet, das fremdes Leid nicht von eigenem trennt und wegschiebt. Das Herz hat hier nicht viel Zeit. Der Soldat, der überlebt hat, muss sein Gewehr halten, durchladen und schießen. Er kann dem, der getroffen wurde, nicht die Hand geben, weil er sie jetzt anders braucht. Das ist grausam, aber wahr. Kann dir die Hand nicht geben. Nicht nur dem Sterbenden keine Hand geben zu können, sondern selbst töten zu müssen um des eigenen Überlebens willen, das ist unaussprechlich grausam. In der Unbarmherzigkeit des Kriegs und seiner Ereignisse ist auch die Kameradschaft zum Scheitern verurteilt. Der Tod ist die Grenze, an der sie zerbricht. Der eine stirbt, der andere lebt. Er lebt, weil er schießt und tötet, weil auf der anderen Seite das gleiche Elend geschieht wie auf dieser, durch seine Hand. Die Kameradschaft endet hier.
Die Idee vom anständigen Menschen, der gut bleibt, auch wenn er zum Militär gezogen wird, die Idee vom verantwortungsbewussten Soldaten mit eigenem Urteilsvermögen, das Ideal von einem Angehörigen des Militärs, der nicht sinnlosen Befehlen, sondern seinem Gewissen folgt, ist damit nicht erledigt. Sie besteht weiterhin. Das, was Ludwig Uhland sich wünschte: Mündige Bürger in Uniform, die gibt es heute in unserem Land.
„Kann dir die Hand nicht geben, bleib du im ew'gen Leben mein guter Kamerad!“ Damit schließt das Gedicht. Es geht hier nicht darum, dass der gefallene Kamerad jetzt in den Himmel kommt, was die anderen trösten soll. Das wäre allzu billig. Er ist gefallen, und das Leid ist namenlos.
Der gute Kamerad im ewigen Leben, das heißt, dass wir nicht aufhören, dafür einzutreten, dass Recht und Gerechtigkeit Gestalt gewinnen auch da, wo es Konflikte und Krieg gibt. Dazu gehört auch, dass das Leben der Soldaten nicht weniger gilt als das der so genannten Zivilisten. Ein Mensch ist immer ein Mensch, das sollen wir auf ewig nicht vergessen, mahnt Uhland uns. Den Glauben daran, dass der Mensch gut sein soll und gut sein kann, brauchen wir nicht aufzugeben, auch dann nicht, wenn es immer noch Kriege gibt. Und wir leiden darunter, dass es Kriege gibt auf Gottes Welt. Sie sollen nicht sein. Auch das meint Ludwig Uhland, wenn er uns vor Augen führt, wie grausam der Krieg ist, der Menschen sterben lässt. Nicht, damit vermeintliche Heldentode verklärt werden können, hat er diese Worte geschrieben, sondern damit wir für Freiheit und Menschenwürde eintreten. Auch die Fähigkeit, um die Opfer von Kriegen zu trauern, gehört zu der Humanität, zu der er uns aufruft.
Eine in seinem Sinne wirklich gute Kameradschaft, ein auf menschliche Werte gegründetes Miteinander im Militär ist in Deutschland lange vergeblich gesucht worden. Erbarmungsloser Drill und eine nahezu vollständige Entmündigung der Soldaten herrschte bis 1945. In den Zeiten eines Kadavergehorsams ist dies Gedicht dennoch immer wieder gesungen worden, auf zwiefache Weise.
Die einfachen, erniedrigten und geknechteten Soldaten, sie haben mit diesem Lied versucht, ihre Solidarität miteinander auszudrücken. Gemeinsam haben sie gelitten, haben Todesnöte ausgestanden, haben ihre Träume und Hoffnungen miteinander geteilt und ihre toten Kameraden betrauert. Wenn sie das Lied vom „Guten Kameraden“ sangen, dann wussten sie: Es ging um sie.
Die Führungen von Staat und Militär auf der anderen Seite haben immer wieder versucht, mit Hilfe dieses Liedes die menschenverachtenden Zustände in der Armee zu beschönigen und den Soldaten weiszumachen, ihr Leben sei nicht viel mehr wert als eben dazu, geopfert zu werden. Ein solcher Totenkult, wie er mit diesem Lied getrieben worden ist, entspricht durchaus nicht dem Ansinnen des Dichters. Ihm ging es um Mündigkeit, um Mitleid mit den Nächsten, ja um Menschlichkeit. Dass man die Toten bestattet, das gehört dazu. Auch die toten Soldaten. Und dass man sie betrauert. Damit der Wert des Lebens erkannt und geschätzt wird, und das Töten ein Ende findet, um Gottes Willen. Amen.
EG 430
Hinweis:
Ich habe für die Predigt einen Aufsatz von Harm-Peer Zimmermann verwendet: „Der gute Kamerad“.
Perikope