Der Hauptmann von Kapernaum - Predigt zu Mt 8,5-13 von Paul Geiß
8,5-13

Der Hauptmann von Kapernaum - Predigt zu Mt 8,5-13 von Paul Geiß

Der Hauptmann von Kapernaum

Matthäus 8  (Basisbibel)
5 Jesus ging nach Kapernaum. Da kam ihm ein römischer Hauptmann entgegen. Er sagte zu Jesus: 6 »Herr, mein Diener liegt gelähmt zu Hause. Er hat furchtbare Schmerzen!« 7 Jesus antwortete: »Ich will kommen und ihn gesund machen.« 8 Der Hauptmann erwiderte: »Herr! Ich bin es nicht wert, dass du mein Haus betrittst! Aber sprich nur ein Wort, und mein Diener wird gesund! 9 Denn auch bei mir ist es so, dass ich Befehlen gehorchen muss. Und ich selbst habe Soldaten, die mir unterstehen. Wenn ich zu einem sage: ›Geh!‹, dann geht er. Und wenn ich zu einem anderen sage: ›Komm!‹, dann kommt er. Und wenn ich zu meinem Diener sage: ›Tu das!‹, dann tut er es.«
10 Als Jesus das hörte, staunte er. Er sagte zu den Leuten, die ihm gefolgt waren: »Amen, das sage ich euch: Bei niemandem in Israel habe ich so einen Glauben gefunden! 11 Ich sage euch: Viele werden aus Ost und West kommen. Sie werden mit Abraham, Isaak und Jakob im Himmelreich zu Tisch liegen.12 Aber die Erben des Reiches werden hinausgeworfen in die völlige Finsternis. Da draußen gibt es nur Heulen und Zähneklappern.« 13 Dann sagte Jesus zum Hauptmann: »Geh! So wie du geglaubt hast, soll es geschehen!« In derselben Stunde wurde sein Diener gesund.

Eine Krankheit wird dramatisch erlebt

Es ist furchtbar. Von kurz auf gleich springt einen eine Krankheit an. Ein Hexenschuss lähmt, man kann sich nicht mehr bewegen, jeder Versuch schmerzt, nichts geht mehr, Hilfe tut Not. Auch wenn man es nicht wahrhaben will, es geht gerade nichts und ohne Hilfe geht es erst recht nicht. Also Krankenwagen? Arzt? So etwas kann doch nicht sein, es fällt schwer, das erst einmal anzunehmen. Gibt es Hilfe?
Wie war das mit der Pandemie vor zwei Jahren, als alles begann? Da haben wir doch erst einmal geglaubt: Das ist so etwas wie eine Grippe, das geht rasch vorbei. Es hat Wochen und bei manchen Monate gedauert, bis die Pandemie wirklich ernst genommen wurde. Und es gibt auch heute noch Menschen, die sich weigern, den Ernst der Situation wahrzunehmen, obwohl sie nun schon zwei lange Jahre dauert mit Millionen von Toten in aller Welt und ein Ende kaum absehbar ist.
Hat der Hauptmann das auch ähnlich erlebt? „Das gibt’s doch nicht. Stell Dich nicht so an. Sei doch nicht so faul, los, an die Arbeit.“ Aber dann muss er erkennen, der Knecht, auf den er sich bisher immer verlassen konnte, er kann wirklich nicht, er leidet unter schlimmen Schmerzen. Er ist gelähmt, kann nicht aufstehen, geschweige denn arbeiten, um dem Hauptmann zu Dienst zu sein. Jetzt muss eine Lösung her, den Knecht will der Hauptmann so nicht im Stich lassen, er hat ja auch für seine Mitarbeiter Verantwortung. Das zwingt ihn dazu, Lösungen zu suchen.

Wer ist dieser Hauptmann?

Der Hauptmann gehört zur Besatzungsmacht. Seit vielen Jahrzehnten steht Palästina unter der Herrschaft Roms. In den besetzten Städten ist eine Garnison mit einer Hundertschaft Soldaten stationiert, die von einem Centurio befehligt wird, einem römischen Hauptmann an der Spitze. Dieser Hauptmann geht als Besatzungssoldat auf die Menschen zu, will die Kultur des eroberten Landes kennenlernen.
Er interessiert sich für die jüdische Religion und ihre Gotteserfahrung. Er sucht nach Antwort auf seine Lebensfragen in der anderen Kultur, er darf allerdings aus religiösen Gründen kein jüdisches Haus betreten oder jüdische Menschen in sein Haus einladen. Deshalb der demütige Satz: Herr! Ich bin es nicht wert, dass du mein Haus betrittst!
Die Geschichte vom Hauptmann von Kapernaum wird im Neuen Testament mehrfach erzählt. Im Lukasevangelium wird der Hauptmann als ein Freund der Juden beschrieben, der sogar geholfen hat, eine neue Synagoge zu errichten. Er hat sich schon intensiv mit der fremden Religion befasst.

Es war vor Jahren in Indien, in Bhubaneshwar im Staat Orissa. Als Studenten hatten wir, meine Freundin und ich, die Chance, mit einem Stipendium sechs Monate durch Indien zu reisen. Und jetzt Bhubaneshwar. Eine Stadt mit vielen beeindruckenden Tempelbauten. Ein älterer Hindupriester zeigt uns einen Shiva-Tempel. Da kommt ein junger Priester, ein Bramane, und beschimpft den Alten: Jetzt ist der Tempel entweiht, schreit er, da dürfen keine Weißen rein, schon gar keine Christen. Es hat uns Mühe gekostet, das drohende Unheil abzuwenden. Natürlich waren wir neugierig auf die fremde Religion, auf die fremden Rituale, die doch für die Menschen in Indien Sinn ergeben. Und von manchen religiösen Haltungen von Ehrfurcht, Demut und Respekt waren wir so fasziniert, dass wir versucht haben, sie auch anzunehmen, uns in diesen Tugenden zu üben.

Wie kommt der Hauptmann auf Jesus?

Warum kommt der Mann denn zu Jesus? Sein Knecht, der ihm am Herzen liegt, ist krank, gelähmt, niedergestreckt. Er leidet furchtbare Schmerzen und das kann man nicht mit ansehen. Der Hauptmann sorgt für seine Untergebenen, er liebt sie, er sucht nach Hilfe, hat sich schon vorher für jüdische Kultur interessiert und entdeckt den jüdischen Propheten, den einige für den erwarteten Messias halten. Solch ein Ruf geht Jesus voraus. Ist er das?
Der Hauptmann ist voller Mitleid und Demut, er sieht in Jesus den Heiland, den Arzt, der helfen kann. Welche Einstellung bringt er mit? Er liebt seinen Knecht, er glaubt und hofft, dass Jesus mit einem Wort helfen kann. Das illustriert er an seiner eigenen Rolle: Wenn ich meinen Soldaten, meinen Knechten, meinen Untergebenen befehle, so müssen sie gehorchen. Allerdings kommt er an seine Grenzen: Bei seinem Knecht hat ihm diese militärische Einstellung nicht geholfen. Er kann der Krankheit nicht gebieten, aber Jesus kann das, hofft er. So sieht er dessen Rolle: Befiehl und die Krankheit verschwindet.

Wenn es immer so einfach wäre. Jesus hält inne und benutzt die Situation zu einer Kurzpredigt über den Glauben dieses Heiden im Gegensatz zu seinen Glaubensgenossen, den jüdischen Mitmenschen. Die sträuben sich ja, ihm zu glauben. „Schaut, er glaubt, er hofft und ist doch kein Jude, er glaubt und hofft auf mich.“ Das ist eigentlich schon das ganze Wunder: Ein mitfühlender Mensch sieht ein, dass er nicht helfen kann, so glaubt er an Hilfe von außen, an Hilfe aus dem anderen Kulturraum, an Hilfe durch einen Arzt, an Hilfe durch Jesus.

Heute gibt es diese Neugier auch: Was glaubt die andere Konfession, was glauben die Menschen in anderen Religionen? Damals in Indien waren wir fasziniert von der fröhlichen Krishna-Verehrung mit Tanz und festlichen Ritualen. Wir waren fasziniert von der buddhistischen Religion mit ihren Meditationsformen, die das Christentum durchaus auch kennt, in den Klöstern und bei den Mystikern schon immer praktiziert hat. Der Buddhismus betont in der Meditation einen achtfachen Pfad als Lebensweg, um mit den irdischen Leiden umzugehen und sich davon zu lösen.
Kein Religionsunterricht heute kommt ohne den Blick auf andere Weltreligionen aus und schon gar nicht ohne den Blick auf das Judentum, mit dem wir das Alte Testament gemeinsam haben; es ist vor dem Neuen Testament die christliche Urschrift des Glaubens.
Es war im Anfang die Neugier, die den Hauptmann die Verbindung zum Judentum suchen ließ. Dann in der schicksalhaften Situation war es die Verzweiflung und die Not, die ihn dazu brachte, sich Jesus anzuvertrauen.

Das faszinierende an den biblischen Erzählungen ist immer wieder zu erleben: Wenn man solche Geschichten genauer ansieht, eröffnen sich jedes Mal neue Perspektiven. Im Kindergottesdienst habe ich gestaunt, was Jesus für ein Heiland war, als Tante Marie die Geschichte bei Kerzenlicht erzählte. Wow! Später faszinierte mich der unmittelbare hoffnungsvolle Glaube des Hauptmanns, der glaubt: Wenn ich Jesus von Herzen bitte, so hilft er. So lernte ich die Hände zu falten und zu beten. Im Studium lernte ich die verschiedenen biblischen Versionen der Geschichte bei Matthäus, Lukas und Johannes zu analysieren. Mit der Kritik an seinen Glaubensgenossen blickt Jesus dann auf die Zukunft voraus, auf das Ende der Zeiten. Geht er da nicht zu weit?
Die harschen Worte Jesu über seine Glaubensgeschwister erschrecken mich. „Bei niemandem in Israel habe ich so einen Glauben gefunden!“ verallgemeinert er grob. Wer ihm nicht glaubt, ist schon gerichtet! Es wird sein „Heulen und Zähneklappern“, das kenne ich, wenn ich mich in Herzensangst befinde, es ist eine schauerliche Verheißung, sie ist hart. Sie hat im Johannesevangelium in den Auseinandersetzungen mit den feindlichen jüdischen Schwestern und Brüdern Anklang gefunden (Joh. 3, 18): Wer nicht glaubt, ist schon gerichtet! Ist das wirklich so?

Die alttestamentlichen Visionen von der großen Festtafel auf dem Berg Zion haben mich immer begeistert: Alle Völker von Osten und von Westen, von Norden und Süden werden am Ende aller Zeit zusammenkommen und feiern, essen und trinken, dass es nur so von Fett trieft (Jesaja 25, 6-8). In dem Augenblick, wenn Gott die Decke von unseren Augen wegnimmt, mit der wir alle zugedeckt sind, alle Völker, alle „Heiden“ in allen Religionen, auch die jüdischen Glaubensgeschwister, da kann doch nicht wirklich jemand ausgeschlossen werden? Das kann ich nicht glauben. Aber Jesus hat es hier beispielhaft so gesagt. In solchen Momenten meldet sich mein kritischer Geist, dann zweifle ich an der Güte Jesu.

Ein Beispiel aus unseren heutigen unmittelbaren Bedrohungen: Wer ist „gerichtet“? Ich kann verstehen, dass Menschen, die sich gegen alle wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht impfen lassen wollen, im Ansteckungsfalle schwer krank werden, dann sind sie durch ihr eigenes Fehlverhalten gerichtet. Ich kann nicht verstehen, dass Jesus sie vom letzten Heil am Ende ausschließt vom großen Fest, von dem wir hoffentlich an Weihnachten schon so etwas wie Vorfreude gespürt haben und nach dem ich mich bei allem Unheil in der Welt von Herzen sehne.
Aber hoffen wir, dass das doch nur ein Beispiel war, um den Pharisäern und Schriftgelehrten vor Augen zu führen, welche Konsequenzen es haben kann, wenn man Jesus nicht vertraut. Denn Menschen, die von einer anderen Überzeugung her auf Jesus aufmerksam werden, spüren ja, dass er helfen kann, da müssen die eigenen Glaubensgenossen ja nicht dickköpfig und fundamentalistisch sein in ihrer Ablehnung.

Auch unsere Neugier auf die fremde Kultur in Indien, auf Hinduismus und Buddhismus führte zu tiefen Einsichten, Achtung und Respekt. Ich kann nicht anders, ich glaube an das endgültige Heil für alle Menschen am Ende der Zeit, auch für Menschen aus den vielen Religionen, die doch alle auf unterschiedliche Weise den einen wahren Gott anbeten und verehren. Und dickköpfigen Fundamentalismus gibt es in allen Überzeugungen, den gibt es auch in den christlichen Konfessionen.

Dem Hauptmann ist geholfen! Und uns?

Der lapidare Schluss der Wundererzählung löst Genugtuung und Freude aus: „Geh, Dein Glaube hat Dir geholfen.“ In diesem Augenblick wurde der Knecht gesund. Rumms, Schluss.

Unsere Geschichte hat viele Dimensionen: Ein Hauptmann der römischen Besatzungsmacht respektiert die Kultur der Menschen im besetzten Land. In der heutigen Zeit in den Brennpunkten gewalttätiger Auseinandersetzungen könnte das eine Lehre sein. Er entdeckt einen Heiland, einen Arzt, einen Menschen, dem er glaubt, der ihn anhört und dem er mit Achtung und Respekt begegnet. Er glaubt aus tiefstem Herzen, dass Jesus nur zu handeln braucht, um ihm und dem Knecht zu helfen, er glaubt, dass inbrünstiges Bitten hilft. Ich lerne: Ich muss bitten und die Hände falten, um für meine Verzweiflung Gehör zu finden. Wurde mir geholfen? Meine Lebenserfahrung sagt: Ja! Ich konnte auch viele meiner Krisen akzeptieren lernen, mein eigenes Leben in Ausbildung, Beruf und Familie als gesegnete Fügungen annehmen.

Jesus nutzt diesen Vorfall aus zu einer Drohung gegenüber seinen Landsleuten: Drohender Ausschluss vom endgültigen Heil am Ende aller Zeiten. Das irritiert mich!
Am Ende der Schluss und die Erkenntnis, Jesus handelt. An ihn glauben heißt: ihm sich anzuvertrauen, ihm zu vertrauen, auf ihn bis zum Ende der Zeit zu hoffen.
Wozu sich der römische Hauptmann durchringt, das sind drei grundsätzliche Formen von Gebet und Fürbitte:
Das Lob Gottes in einer anderen Glaubensüberzeugung, - der Hauptmann respektiert die jüdische Gotteserfahrung,
die Klage gegenüber Gott in Jesus Christus, - der Hauptmann ist verzweifelt und klagt Jesus seine Not,
die inständige Bitte - um Hilfe für den Mitarbeiter.

Es fehlt noch die vierte grundsätzliche Form des Gebets, der Dank. Der Beter am Ende des Klagepsalms 13 hat das treffend in Vers 6 formuliert: Ich traue aber darauf, dass du so gnädig bist; mein Herz freut sich, dass du so gerne hilfst. Ich will dem HERRN singen, dass er so wohl an mir tut. Und das hat der Hauptmann nach der Rückkehr bestimmt getan, vielleicht sogar mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern voll Freude gefeiert.

AMEN.

 

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Paul Geiß: 

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Wir sind erneut erdrückt von der nicht enden wollenden Pandemie. Es gibt immer noch zu viele Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen, die das sogar religiös begründen. Gott hat doch schon längst durch die Wissenschaftler*innen Lösungen angeboten! In Krisensituationen befinden sich viele nicht nur in der Pandemie. Wie kann man da helfen, Mut und Zuversicht anhand biblischer Wundererzählungen konkret werden lassen?

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Geschichte hat in der persönlichen Meditation und der exegetischen Vorbereitung immer wieder zu neuen Perspektiven geführt. Kindheits- und Jugendsituationen kamen mir vor die Augen, auch so etwas wie die Bilanz eines gelebten gesegneten Lebens in Beruf und Familie. Dazu will ich durch die Predigt ermutigen, auch in der Burn-Out-Situation vieler pandemiegeschädigter Mitmenschen Zuversicht zu gewinnen in der transzendentalen Rückgewinnung der Bindung an Gott in Jesus Christus.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Biblische Geschichten eröffnen jedes Mal neue tröstende Perspektiven, wenn ich sie mit ausreichender Zeit in den Konkretionen der Gegenwart meditiere und reflektiere. Die Brücke zum Wert anderer Religionen und Konfessionen und die vier Grundformen von Anbetung und Gebet in Lob, Klage, Bitte und Dank konnte ich in der und durch  die Geschichte wiederfinden.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Der Prozess der qualifizierten Rückmeldung durch die Coachess führte zur Reduktion meiner ziemlich ausartenden Beispiele und Assoziationen, zur Konzentration auf eine klare innere Gliederung und zur Präzisierung der theologischen Aussage. Die Verurteilung der jüdischen Glaubensgeschwister durch Jesus hat meine Zweifel an solchen Verdikten hervorgerufen und mich dazu ermutigt, mich neu intensiver mit der „apokatastasis pantoon“ auseinanderzusetzen und das auch in die Predigt mit einfließen zu lassen.

Perikope
Datum 23.01.2022
Bibelbuch: Matthäus
Kapitel / Verse: 8,5-13