Der Heilige Geist – oder: Die Kunst, unterscheiden zu können - Predigt zu Römer 8,1-11 von Ruth Conrad
8,1-11

Der Heilige Geist – oder: Die Kunst, unterscheiden zu können - Predigt zu Römer 8,1-11 von Ruth Conrad

Der Heilige Geist – oder: Die Kunst, unterscheiden zu können

An Pfingsten,
liebe Gemeinde,
an Pfingsten geht es um unsere Haltung zum Leben,
um das, was uns innerlich bestimmt und leitet,
welche Gesinnung wir pflegen,
darum, wes Geistes Kind wir sind.
Pfingsten empfiehlt uns eine eine „geistliche“ Lebenshaltung.
Wie aber sieht eine solche „geistliche“ Lebenshaltung konkret aus? Worin äußert sie sich? Woran lässt sie sich erkennen?
Der heutige Predigttext behauptet: Eine „geistliche“ Lebenshaltung erkennt man an der Kunst unterscheiden zu können.  Der Heilige Geist lehrt uns zu unterscheiden. Unterscheiden zu können aber ist eine der wichtigsten Aufgaben im Leben. Ich lese aus dem Römerbrief, Kapitel 8, die Verse 1-11:

So gibt es nun keine Verdammnis für die, die in Christus Jesus sind. (2) Denn das Gesetz des Geistes, der lebendig macht in Christus Jesus, hat dich frei gemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes. (3) Denn was dem Gesetz unmöglich war, weil es durch das Fleisch geschwächt war, das tat Gott: Er sandte seinen Sohn in der Gestalt des sündigen Fleisches und um der Sünde willen und verdammte die Sünde im Fleisch, (4) damit die Gerechtigkeit, vom Gesetz gefordert, in uns erfüllt würde, die wir nun nicht nach dem Fleisch leben, sondern nach dem Geist. (5) Denn die da fleischlich sind, die sind fleischlich gesinnt; die aber geistlich sind, die sind geistlich gesinnt. (6) Aber fleischlich gesinnt sein ist der Tod, und geistlich gesinnt sein ist Leben und Friede. (7) Denn fleischlich gesinnt sein ist Feindschaft gegen Gott, weil das Fleisch dem Gesetz Gottes nicht untertan ist; denn es vermag's auch nicht. (8) Die aber fleischlich sind, können Gott nicht gefallen. (9) Ihr aber seid nicht fleischlich, sondern geistlich, wenn denn Gottes Geist in euch wohnt. Wer aber Christi Geist nicht hat, der ist nicht sein. (10) Wenn aber Christus in euch ist, so ist der Leib zwar tot um der Sünde willen, der Geist aber ist Leben um der Gerechtigkeit willen. (11) Wenn nun der Geist dessen, der Jesus von den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird er, der Christus von den Toten auferweckt hat, auch eure sterblichen Leiber lebendig machen durch seinen Geist, der in euch wohnt.

Liebe Gemeinde,
der Heilige Geist lehrt uns zu unterscheiden zwischen dem, was „fleischlich“ ist und dem, was „geistlich“ ist. Und damit lehrt er uns eine lebenswichtige Unterscheidung. Denn die Unterscheidung zwischen „fleischlich“ und „geistlich“, das ist die Unterscheidung zwischen lebenszerstörend und lebensfördernd.
Betrachten wir das für einen Moment genauer und beginnen mit dem, was nach den Worten des Apostels „fleischlich“ ist. ‚Fleischlich“, so der Apostel, fleischlich ist all das, was gegen Gott ist, was also Sünde ist. Gemeint ist: „Fleischlich“ handelt der Mensch dort, wo er völlig auf sich selbst bezogen bleibt. Wo er sich selbst zum Maßstab aller Dinge macht.
Dort, wo der Mensch meint, sein persönliches Wohlergehen sei der einzige Orientierungspunkt im Leben,
dort, wo der Mensch meint, seine eigenen Interessen seien die einzigen auf der Welt und die anderen hätten sich diesen gefälligst anzupassen,
dort, wo der Mensch meint, es gäbe keine Instanz außer ihm selbst, der er Verantwortung schulde,
dort, wo der Mensch nicht mehr von außen ansprechbar ist, außer es winkt ein persönlicher Vorteil,
überall dort, so die Überzeugung der Bibel, denkt und handelt der Mensch „fleischlich“.
Martin Luther hat für diese Lebenshaltung einmal ein schönes Bild gefunden. Ein Mensch, der „fleischlich“ denkt und handelt, sei ein „homo incurvatus in se ipse“, ein „in sich selbst verkrümmter Mensch“. Der aber ist der Ursprung allen Übels. Der in sich selbst verkrümmte und verschlossene Mensch, er ist der Ursprung und die Quelle alles Lebenszerstörerischen.
Und das, liebe Gemeinde, das ist doch eine ziemlich erfahrungsgesättigte Einsicht.
Dort, wo der Mensch sich nur auf sich bezieht,
nur das eigene Selbst kennt,
da geraten die anderen Menschen aus dem Blick.
Ihre Wünsche, ihre Interessen, ihre Fragen und Ideen, die werden überrannt, kaltgestellt, zum Spielball des eigenen Machtwillens.
Der Mensch macht den Menschen zum Material des eigenen Ego-Trips.
Das fängt klein und oft furchtbar banal an. Im familiären Umfeld, unter Partnern und Geschwistern, zwischen den Generationen. Aber wie alles Kleine hat es die Kraft, sich ins Unerträgliche auszuwachsen, am Arbeitsplatz, am Wohnort, im Politischen.
Wenn aber jeder nur mit sich beschäftigt ist, auf sich bezogen bleibt, den anderen benutzt, dann ist ein Zusammenleben im Kleinen wie im Großen schier nicht möglich. So lebensnotwendig der Bezug auf sich selbst ist, so lebenszerstörerisch ist er, wenn er zum alleinigen Prinzip wird. Dort, wo der Mensch nicht mehr von außen und auf andere ansprechbar ist, dort verkommt das Leben zu einer Zerstörungsorgie, privat und öffentlich. Es wird unerträglich destruktiv.
Dort aber, wo der Mensch sich öffnen lässt, für Gott, für den anderen Mensch, für die Welt um sich herum,
dort, wo er anstatt nur auf die eigene Bedürfnisse zu lauschen seine Ohren nach Außen öffnet,
dort wird der Mensch verwandelt. Er wird „geistlich“.
„Geistlich“ gesinnt sein ist das Gegenteil von „fleischlich“: Nicht auf mich bezogen, sondern offen für Gott, den anderen Menschen, die Welt um mich herum.
„Geistlich“ sein, das heißt in Beziehung mit Gott sein. Von ihm her leben, denken und handeln. Gebracht hat dieses geistliche Leben Christus, der Erlöser. Sein Reden und sein Handeln ist gekennzeichnet durch den steten und ungebrochenen Bezug auf Gott. Sein Leben war völlige Gemeinschaft mit Gott. Der ungetrübte Bezug auf einen anderen und nicht auf das eigene Ich. Sein Leben war geistlich. Und die, die in Christus leben, die haben daran Anteil.
Das aber bedeutet Leben und nicht Zerstörung,
Frieden und nicht einseitige Interessensdurchsetzung,
Freiheit und nicht Manipulation und Unterdrückung,
Freude und nicht Intrige oder Gehässigkeit.
„Die aber geistlich sind, die sind geistlich gesinnt. Fleischlich gesinnt sein ist der Tod, und geistlich gesinnt sein ist Leben und Friede.“

Liebe Gemeinde,
so weit so gut. „Fleischlich“ und „geistlich“ scheinen deutlich unterschieden. Wir wissen, was das eine meint und was das andere. Oder genauer gesagt: Wir meinen es zu wissen. Denn wenn wir den Fokus etwas schärfer stellen, dann müssen wir einräumen: So einfach ist es im „echten“ Leben dann eben doch nicht. Im „echten“ Leben lässt sich das „Fleischliche“ vom „Geistlichen“ dann doch nicht so einfach unterscheiden.
Denn unterscheiden meint ja gerade nicht scheiden, trennen oder schlicht Alternativen benennen – entweder das eine oder das andere.
Unterscheiden meint vielmehr: „einen Gegensatz durchstehen [,  der den Charakter der Todfeindschaft hat]“ (Gerhard Ebeling). Unterscheiden heißt: rein ins Getümmel, dorthin, wo die Dinge ineinander verworren sind. Um recht zu unterscheiden, kann man nicht in der Beobachterperspektive bleiben. Rechte Unterscheidung fordert Einsatz, Hingabe. Da kann man sich die Hände schmutzig machen. Irren und schuldig werden.
Und das eben tritt im „echten“ Leben ein,
also überall dort, wo wir Entscheidungen treffen müssen,
wo Fragen zu klären sind,
wo wir uns positionieren und verhalten müssen.
Überall dort erkennen wird: Alle Fragen und Entscheidungen haben zwei Seiten. Wir  können uns immer auch für die Falsche entscheiden. Oft ist von außen nicht eindeutig erkennbar, was denn nun „geistlich“ ist. Zuweilen steckt hinter dem, was wir für „geistlich“ halten, auch nur unser eigener Wille. Und selbst dort, wo wir das „Geistliche“ genau zu erkennen vermeinen, bedeutet das ja noch lange nicht, dass wir auch in der Lage oder willens sind, das zu tun. Und oft können wir, auch bei bestem Willen, nicht anders als „fleischlich“. Weil wir nämlich Menschen sind, also selbst Fleisch. „Fleischlich“ gesinnt zu sein, also an uns selbst zu denken, das gehört zu unserem Menschsein. Als Menschen sind wir „fleischlich“, als Christen wollen wir „geistlich“. Im Leben sind wir also stets beides und eines. Und so können wir zunächst einmal gar nicht anders, als uns auf uns selbst zu beziehen und auch immer uns selbst der Nächste zu sein. Weil wir Menschen sind. Weil wir überleben wollen. Weil es immer besser ist, mir geht es gut als den anderen. Weil es immer besser ist, meine Familie ist gut versorgt als die anderen. Die Bildung der eigenen Kinder ist einem allemal wichtiger als die Zukunftssicherheit des Bildungssystems. Der Wohlstand im eigenen Land liegt einem immer näher als der Weltfrieden. Vorteilsicherung ist eine Überlebensstrategie. Und Vorteilssicherung bedarf des Rückzuges auf sich selbst, der Verkrümmung auf die eigenen Bedürfnisse.
Und das lässt sich ja argumentativ auch immer retten:
Wenn meine Kinder gut ausgebildet sind, dann nützen sie der Gesellschaft.
Meine Interessen haben immer schon das Gemeinwohl im Blick.
Ich will doch nur das Beste für alle.
Wenn ich nicht herrsche, dann tun es die anderen. Und das ist allemal schlimmer.
Im Alltag, dort, wo wir leben, dort vermögen wir zwischen „fleischlich“ und „geistlich“, zwischen lebensförderlich und lebenszerstörend oft nicht zu unterscheiden. Sie sind bis zur Unkenntlichkeit ineinander vermengt. Und deshalb benötigen wir den Heiligen Geist – dass er uns einübt in die Kunst rechter Unterscheidung.

Wie aber sieht das konkret aus?
An welchen Haltungen und Gesinnungen können wir diese Kunst der Unterscheidung erkennen?
Ich denke, an zwei Haltungen: an der Skepsis gegenüber uns selbst und an der Barmherzigkeit gegenüber andere.
Wer unterscheiden kann, hat sich in die hohe Kunst der Skepsis gegenüber sich selbst eingefunden.
Oft sind wir unklar im Blick auf uns selbst. Zu wenig kennen wir uns aus in unseren Motiven, in unseren Beweggründen, in dem, was wir wollen. Um zu unterscheiden, was „fleischlich“ und was „geistlich“ ist, müssen wir uns erst einmal selbst misstrauen lernen. Wir sollten für uns selbst in Anschlag bringen: Es könnte falsch sein, was ich will. Egoistisch, ich-bezogen, selbst-bezüglich, lebenszerstörerisch. Das, was ich möchte – es könnte Beziehungen zerstören, andere Menschen erniedrigen, ihnen den lebensnotwendigen Raum nehmen. Gegenüber sich selbst skeptisch zu sein, das heißt: zu sich selbst, den eigenen Wünschen und Vorstellungen, dem eigenen Lebens- und Durchsetzungswillen auf Distanz gehen zu können. Sich mit selbst auskennen und sich auch der Einsicht stellen: Nicht alle meine Impulse sind gut. Vieles ist auch „fleischlich“ und hat üble Folgen. Nur wer skeptisch auf sich blickt und sich von sich zu unterscheiden vermag, nur der vermag notwenige Änderungen anzugehen.

Der Heilige Geist macht uns aber nicht nur skeptisch im Blick auf uns selbst, sondern auch barmherzig im Blick auf andere.
Es gibt ja das eigenartige Phänomen, dass wir im Blick auf die anderen immer ganz genau wissen, was „fleischlich“ und „geistlich“ ist, was lebensförderlich und lebenszerstörend. Was für die anderen richtig und falsch ist, das vermögen wir meist ohne langes Nachdenken zu benennen. Was der Nachbar, die Politik, die Wirtschaft, die Kirche zu tun oder zu lassen hätte, das wissen wir ganz genau. Da haben wir ein hohes Maß an Klarheit. Aber auch für die anderen Menschen gilt: Sie leben mitten im Getümmel von „Fleischlich“ und „Geistlich“, von Selbstsorge und Fürsorge. Auch sie müssen Unterscheidungen finden dort, wo oft alles bis zur Unkenntlichkeit vermengt ist. Deshalb lehrt uns der Geist Barmherzigkeit gegenüber den Entscheidungen und den Irrtümer unserer Mitmenschen.
Wer sich einübt in die Kunst der Unterscheidung, der übt sich also in Zweierlei: Skepsis gegenüber sich selbst und Barmherzigkeit gegenüber den Anderen. Der Heilige Geist ist ein Lehrmeister für Beides. Und darin lehrt er uns die Kunst des guten Lebens. Weil er uns eben lehrt, dem Lebensförderlichen zu dienen und uns dem Lebenszerstörerischen entgegen zu stellen.

So also geht es an Pfingsten also um uns,
um unsere Haltung zum Leben,
um das, was uns innerlich bestimmt und leitet,
um die Gesinnung, die wir pflegen,
darum, wes Geistes Kind wir sind.
Pfingsten empfiehlt uns eine „geistliche“ Lebenshaltung. Der Heilige Geist lehrt uns die Kunst zu unterscheiden. Darin aber lehrt er uns, wie wir uns mit uns selbst auskennen können. Wie wir skeptisch und barmherzig zugleich werden. Weil wir die Dinge auf ihre Motive befragen. Und genau deshalb ist Pfingsten ein unverzichtbares Fest, zumindest für diejenigen, die sich über das Leben Gedanken machen möchten und die dem Leben dienen wollen.
„So gibt es nun keine Verdammnis für die, die in Christus Jesus sind. Denn wenn nun der Geist dessen, der Jesus von den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird er, der Christus von den Toten auferweckt hat, auch eure sterblichen Leiber lebendig machen durch seinen Geist, der in euch wohnt.“
Amen
 

Predigtlied: EG 134, 1.2.7 Komm, o komm du Geist des Lebens
Verwendete Literatur: Gerhard Ebeling: Luther. Eine Einführung in sein Denken, 4., durchgesehene Aufl. Tübingen 1981, 126.