Der König fährt Fahrrad
Jesus zieht in Jerusalem ein. Die Leute jubeln ihm begeistert zu, winken mit Palmzweigen – das ist die Szene, die dem Palmsonntag seinen Namen gibt. Seltsam, dass mit dieser fröhlichen Szene die Karwoche mit all dem Schweren ihren Anfang nimmt. Ich lese die Geschichte vom Einzug in Jerusalem, wie sie bei Johannes aufgeschrieben ist:
Als am nächsten Tag die große Menge, die aufs Fest gekommen war, hörte, dass Jesus nach Jerusalem käme, nahmen sie Palmzweige und gingen hinaus ihm entgegen und riefen:
„Hosianna! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn, der König von Israel!“
Jesus aber fand einen jungen Esel und ritt darauf, wie geschrieben steht: „Fürchte dich nicht, du Tochter Zion! Siehe, den König kommt und reitet auf einem Eselsfüllen.
Das verstanden seine Jünger zuerst nicht. Doch als Jesus verherrlicht war, da dachten sie daran, dass dies von ihm geschrieben stand und man so mit ihm getan hatte.
Das Volk aber, das bei ihm war, als er Lazarus aus dem Grabe rief und von den Toten auferweckte, rühmte die Tat. Darum ging ihm auch die Menge entgegen, weil sie hörte, er habe dies Zeichen getan.
Die Pharisäer aber sprachen untereinander: „Ihr seht, dass ihr nichts ausrichtet. Siehe, alle Welt läuft ihm nach!“
Liebe Gemeinde, es ist eine bunte Geschichte – und eine ziemlich verwunderliche und schräge, diese Szene vom Einzug Jesu nach Jerusalem. Das Volk jubelt ihm zu – doch so recht steht ihm die Rolle des Volkshelden nicht. Und irritierende Missklänge mischen sich in die Jubelszene.
Ein Missklang ist das Unverständnis der Jünger. Oder das religiöse Establishment, diese braven Männer, die schon darauf sinnen, wie sie den Störenfried Jesus ausschalten. Für den Moment strecken sie die Waffen. Aber wir wissen, sie warten nur auf einen günstigeren Zeitpunkt.
Ein besonders schräges Motiv in dieser Einzugsszene ist das Reittier. Ausgerechnet ein Esel. Jesus wird umjubelt als „König von Israel“. Aber ein König reitet auf einem Pferd, dem schnellen Reittier der Krieger. Nicht auf einem störrischen Esel, der allenfalls einem Bauern zur Ehre gereicht. Ein König auf einem Esel – das ist gerade so, als würde die Königin von England die jährliche Geburtstagsparade auf dem Fahrrad abnehmen.
Und doch ist gerade der Esel in der Bibel das Zeichen des Friedenskönigs. Das schrieb schon der Prophet Sacharja mit seiner Messiashoffnung, die in unserem Predigttext zitiert wird: „Fürchte dich nicht, freue dich, Tochter Zion. Siehe, dein König kommt zu dir arm und reitet auf einem Esel.“
Der König Gottes kommt nicht wie Alexander der Große auf einem Kriegsross dahergesprengt, er kommt auf dem Esel und bringt den Frieden. Er kommt auf dem Reittier der einfachen Leute. Nicht hoch zu Ross, hoch über den Köpfen, auf dem Esel reitet er, heute wär’s vielleicht ein Fahrrad, im gemächlichen Tempo und auf Augenhöhe mit denen, die ihn da erwartungsvoll empfangen.
Aber was sind das nur für Leute, die da auf den Straßen von Jerusalem stehen? Heute noch feiern sie Jesus als Befreier. Doch in wenigen Tagen werden sie schreien: „Kreuzige ihn!“
Wir anständigen und friedliebenden Leute, die wir gerne sind oder die wir zumindest gerne wären, wir sind befremdet über diesen Mob von der Straße. Es ist ja auch viel leichter auszuhalten, diese Szene irritiert zur Kenntnis zu nehmen und bei sich zu denken: „Was für primitive und verführbare Menschen!“ Unangenehmer wird es dann, wenn wir uns selbst mit hineinziehen lassen. Wenn wir uns überlegen: Wo wäre denn unser Platz in dieser Szene? Würden wir mit dem Eselreiter den zunächst so umjubelten und dann doch so dornenreichen Weg mitgehen? Oder ist unser Platz die bequeme Beobachterposition am Rande?
Die Stimmung der Leute am Straßenrand konnte doch nur deshalb so rasch kippen, weil es keine tiefe innere Beteiligung, kein echtes Interesse war, das sie jubeln ließ, sondern Sensationsgier. Nur nichts verpassen. Dabei sein ist alles. Und so schnell, wie man eben noch begeistert ist, hat man‘s, falls die Stimmung kippt, immer schon gewusst und kommentiert das Geschehen am Stammtisch der Geschichte.
Sich nur nicht zu weit reinziehen lassen. Immer schön am Rand bleiben. Aber ja nichts verpassen. Das ist die Grundausstattung des gnadenlosen Mobs. Eine Grundausstattung, die wir alle in uns tragen.
Jesus, der König auf dem Esel, zeigt einen anderen Weg. Er ist da, ganz nah. Immer wieder. Lässt sich Leid, Krankheit, Zerstörtes und Zerstörerisches nahe gehen, hält es nicht auf Distanz.
Ein Beispiel: die Geschichte von den Besessenen von Gerasa. Zwei kranke Männer leben außerhalb der kleinstädtischen Gesellschaft, in Grabhöhlen. Weiter draußen aus dem Leben, den Beziehungen, aus dem Sinn… geht nicht. Jesus geht hin, spricht mit ihnen, lässt sich vor ihrem grässlichen Auftreten, von all den inneren und äußeren Verletzungen, die ihnen zugefügt wurden, nicht abschrecken, hält ihnen stand, hält die Nähe aus. Auch die Nähe von Not, von Geschrei, von Gestank.
Ein weiteres Beispiel: Die Frau, die gegen den Sittenkodex verstoßen hat und so das zwischenmenschliche Gefüge verletzt hat… Sie war beim Ehebruch ertappt worden und wurde vor Jesus gezerrt, damit er sie richte. Doch er schwingt sich nicht zum Richter auf, sondern ermöglicht ihr den Weg zurück in die Gesellschaft, indem er ihr zeigt: Ich finde nicht gut, was du getan hast. Aber ich respektiere dich als Mensch! Und zu den Zeugen der Szene sagt er den berühmten Satz: „Wer von Euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein“. Wo man andere und ihr Schicksal an sich ran lässt, da geht das nicht mehr gut mit dem verurteilen, mit dem Steinewerfen.
Die Reihe solcher Geschichten von Jesus ist lang. Geschichten, die zeigen: Er wendet sich denjenigen zu, von denen sich die mehr oder weniger anständigen Bürger schön fern halten. Mit denen sie nichts zu tun haben wollen. Denen, die mit ihrem Unglück oder mit ihrem unanständigen Verhalten das kleine bürgerliche Glück in Frage stellen. Denen, von denen man sich lieber nicht anstecken lässt.
Geschichten, die man lieber nicht an sich ran lässt – wo sind solche Geschichten heute? Lampedusa fällt mir ein. Diese süditalienische Insel, paradiesisch gelegen, steht für tausendfaches Unglück. Für afrikanische Bootsflüchtlinge auf überfüllten Kähnen, die im Mittelmeer ertrinken. Und diejenigen, die es lebendig auf europäischen Boden schaffen, werden in ein überfülltes Aufnahmelager verfrachtet. Glücklich, wem es gelingt, in die Illegalität unterzutauchen. Oder wer sich irgendwie in den Norden Europas durchschlägt und Asyl beantragt.
Lampedusa ist weit weg. Und kommt uns doch seit Monaten nahe, mit all den Schreckensmeldungen von gekenterten Flüchtlingsbooten, mit den Nachrichten von einer „Flüchtlingswelle“. Noch sind die Stimmen in der Minderheit bei uns, die altbekannten, die jammern, „das Boot sei voll“. Noch gibt es Verständnis, Mitleid mit denen, die es aus den Krisengebieten im Norden Syriens und des Irak zu uns schaffen, „die armen Leute“. Aber zu nah soll das Elend uns dann doch nicht kommen. Eine Flüchtlingsunterkunft in der unmittelbaren Nachbarschaft – das dann doch lieber nicht. Das Boot ist vielleicht noch nicht voll – aber in unserer Straße ist jedenfalls kein Platz. Nicht für solches Elend.
Wie gut, wenn es Menschen gibt, die uns eine Brücke bauen, die uns helfen, im Flüchtling aus dem Irak nicht nur das anonyme Elend zu sehen, das mir unangenehm nah rückt. Sondern in ihm den Menschen zu sehen. Wie gut, dass es ein kirchliches und bürgerschaftliches Netzwerk gibt von Freundeskreisen für Flüchtlinge. Sie helfen uns, auf Flüchtlinge zuzugehen, ihnen ins Gesicht zu sehen, ihnen die Hand zu reichen. Und uns ihre Geschichten, ihre Schicksale nicht vom Leib zu halten, sondern sie anzuhören und uns angehen zu lassen.
Solche Freundeskreise folgen dem Beispiel des Königs, der auf dem Esel reitet, auf dem langsamen Reittier, auf dem man sich in Augenhöhe bewegt. Sie folgen dem Beispiel des Königs, dessen Macht in seiner Ohnmacht besteht. Und der so unsere gnadenlosen Machtvorstellungen, unser Recht des Stärkeren, durchbricht.
Er ist auf dem Weg, der Eselreiter. Auf dem Weg zu aller Welt. Auf dem Weg in die Asylunterkunft, auf dem Weg ins Pflegeheim und ins Hospiz, wo die Ehrenamtliche die letzten Stunden des Sterbenden und die Nähe des Todes mit aushält. Er ist auf dem Weg zu uns. Und lädt uns ein, mitzukommen auf seinen Weg des Friedens.
Lädt uns ein, und weiß, wie oft wir den Weg verfehlen. Wir sind nicht er. Wir scheitern regelmäßig beim Versuch, gut zu sein. Gerade deshalb gilt uns seine Liebe. Weil wir sie brauchen. Gerade deshalb lädt er uns immer wieder ein, uns mit ihm auf den Weg zu machen. Amen.
Der König fährt Fahrrad - Predigt zu Johannes 12,12-19 von Christoph Schweizer
12,12-19
Perikope