In der Liebe ist keine Furcht / Reformation und Flüchtlinge in Deutschland: Was sie miteinander zu tun haben - Predigt von Peter Lampe

In der Liebe ist keine Furcht
Reformation und Flüchtlinge in Deutschland:
Was sie miteinander zu tun haben

In der Liebe ist keine Furcht, liebe Gemeinde. So der 1. Johannesbrief (4,18). Aber in unser Land schleicht sich Furcht ein—nach einem Sommer überwältigenden Helfens. Dieses Helfen,  Gott sei’s gedankt, dauert an bei Tausenden von Freiwilligen und Amtsträgern, bei Christen, Atheisten, Juden und Muslimen. Menschliches Zuwenden ist kein christliches Proprium. Dennoch, Ängste beschleichen in diesem Herbst die Hälfte der Bevölkerung, ob das denn gut gehen kann mit den Hunderttausenden Zufluchtsuchender. Beamte und Freiwillige arbeiten bis zum Erschöpfen in den Auffanglagern. Die Nerven liegen oft blank. Zwischenfälle werden gemeldet. Da gibt es nichts zu beschönigen. Kann das alles gut gehen?

Logistisch wird es auf längere Sicht gut gehen. In den ersten drei Nachkriegsjahren wuchs die Bevölkerung des westlichen Deutschlands durch Flüchtlinge um bis zu 20%. So wie damals wird der Neuzugang auch heute logistisch bewältigt werden. Eine Zuzugsrate von 20% werden wir in diesem Jahrzehnt (2010-20) niemals erreichen—selbst in wildesten Prognosen nicht.[i]  Migration tut einer Gesellschaft ökonomisch gut, ungleich mehr gut, als dass sie belastet, so zeigen viele Studien.[ii]

Nein, nicht die Logistik, nicht die Ökonomie, unsere Köpfe sind langfristig die schwierigere Baustelle. Die Ängste in uns. Am rechten Rand gebären sie inzwischen einen Terrorismus, den wir eigentlich von Neuankömmlingen zu erleben fürchteten. Eine groteske Situation: ein hausgemachter Terrorismus, der nicht zuletzt vor importiertem Terror schützen will. Da sucht der Teufel, einen vermeintlichen Beelzebul zu vertreiben.

Furcht beschleicht so auch die Zufluchtsuchenden – vor solchen Deutschen, die vor lauter Angst in rassistischem Verleumden und schließlich in feiger nächtlicher Brandstiftung einen Ausweg suchen. Wenn einige Landsleute demonstrieren, schwenken sie eine schwarz-rot-goldene Kreuzesfahne. Sie schwingen sich zu Verteidigern eines christlichen  Abendlandes auf, ohne dass ihre Landeskirchen sich kritisch mit ihnen auseinandersetzten. Das kann nicht so bleiben. Ja, unser Land, ein Einwanderungsland, wird sich ändern, wird bunter werden, und verschiedene Flügel werden sich geistig auseinandersetzen müssen, nicht nur interreligiös, auch innerkirchlich, auch innerdeutsch.  Da wird viel Austausch stattfinden müssen, viel persönliches Begegnen, damit dieses Land nicht aus den Fugen gerät.

Der Karikaturist Nel zeichnete unlängst ein überlanges Plüschsofa und ließ ein altes Ehepaar darauf Platz nehmen. In der einen Ecke Er, in der anderen Sie. Dazwischen viel Platz. Er: “Was sollen nur all die Fremden hier!” Sie: “Genau, wir sind doch einander fremd genug!”

Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind gewaltig. Nicht nur die vielen Neuen, die auf dem europäischen Sofa Platz nehmen, auch die Einheimischen, die darauf sitzen und die Tuchfühlung zueinander verlieren, sind zu integrieren. Wie viele werden am Ende auf das Sofa passen? Sind die Köpfe, die Herzen enger als das Sofa lang?

In der Liebe ist keine Furcht. Das ist kein Mantra, das in finsterem Walde wir uns vorsprechen, um Grusel zu vertreiben. Das Motto entspringt tiefer reformatorischer Überzeugung und ist im Gottesverhältnis begründet. Martin Luther formulierte in der 14. seiner 95 Thesen:  „Ist die Liebe (zu Gott) unvollkommen, so bringt…das notwendig große Furcht”. Und in seinem Kommentar zu dieser These spitzte er zu, dass letztlich die Furcht auf einen Mangel an Gottesglauben  zurückzuführen sei, auf ein defectum fidei.[iii] Indem Luther den Glaubensbegriff dem Gegensatzpaar Liebe - Furcht zuordnete, machte er klar: Ängste breiten sich aus, wo Gott nichts zugetraut wird, wo wir unser ganzes Sein nicht auf Gott aufstützen und ihm uns vertrauensvoll in die Arme werfen. Furcht wirft Schatten, wo Gott nicht von Herzen geliebt wird.

Was aber heißt, Gott zu lieben und sich ihm vertrauensvoll in die Arme zu werfen? Paulus führt in 1 Kor 8 (Vers 3) aus: „Wenn ein Mensch Gott liebt, so hat Gott diesen bereits vorher erkannt“. Für Paulus, den Hebräer, bedeutete das Erkennen einer Person nicht bloß kognitives Wahrnehmen, sondern ein liebevolles Zugehen auf den anderen. „Erkennen“ umschreibt in der Hebräischen Bibel gar den intimen Umgang zweier Liebender. Wer liebend den anderen bis ins Innerste berührt, der erst „erkennt“ diese Person. Will sagen: Der Liebe des Menschen zu Gott geht das fürsorgliche Zuwenden Gottes zum Menschen voraus, das „Erkennen“ Gottes. So wie es Jesaja wiedergibt: „Fürchte dich nicht, ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“ (Jes 43). Lieben wir Gott, so ist dies eine Lebenshaltung: ein Sich-Öffnen für die Liebe Gottes in Christus, die mir entgegenströmt und mir immer voraus ist. Ich antworte nur. Mit meiner Liebe, mit meinem Vertrauen in diesen Gott.

Aus solch einem Gottesglauben wächst Gelassenheit, Furchtlosigkeit. Es wächst die Souveränität, bei einem Schlag ins Gesicht die andere Wange hinzuhalten. Es wächst der Wille, sich dem Mitmenschen zuzuwenden, besonders dem Geschundenen. Denn in seinem Gesicht wird das Antlitz des Gekreuzigten sichtbar (vgl. Mt 25), egal ob er Christ, Moslem oder Areligiös ist.

In der Liebe zu Gott ist keine Furcht.

Mit dieser Haltung dürfen wir getrost und ohne Berühungsangst auf unsere neuen Mitbürger zugehen. Sie zum Supermarkt mitnehmen, zum Arzt oder auf die Behörde begleiten, ihnen Deutsch beibringen und sie zum Essen einladen, mit ihnen auf dem Sportplatz bolzen und hinterher feiern, mit Neugier auf ihre Kultur, ihr Anderssein und auf das Gemeinsame, das uns Menschen eint, wenn wir trotz Sprachsalat uns mit einem einfachen Lächeln zu verstehen beginnen. Vor zwei Wochen verbrachte ich auf einem Schiff, das Zufluchtsuchende von den griechischen Inseln nach Athen brachte, eine Nacht inmitten der dicht gedrängt in den Sitzen und auf dem Boden lagernden Kriegsflüchtigen. Ein junger Mann erzählt mir, dass seine Mutter in Kriegshandlungen umkam und er von den Schleppern bestimmt wurde, das überladene Boot zu steuern.  Einem anderen, befragt nach seinem syrischen Heimatort, erstickt es die Stimme. Hören wir ihnen zu! Weinen wir mit ihnen! Lassen wir sie erzählen! Sie haben Erlittenes zu verarbeiten. Lassen wir die Kinder, die nachts im Schlaf zusammenzucken, malen! Es braucht nicht viel, um jede und jeden einzeln wahrzunehmen, sie bei ihren Namen zu nennen. Werden wir ihre Paten.

Angst vor dem Fremden schwindet dem, der das Fremde sich bekannt macht, auf es zugeht. Als Abraham drei Fremde auf sein Zelt zukommen sah, klappte er nicht die Plane herunter, sondern eilte ihnen entgegen—ohne es zu merken, rannte er damit Gott in die Arme. Sie kennen die Geschichte (Gen 18). Er rannte, um die Distanz zwischen sich und dem Unbekannten zu verringern. Aufgeregt über die Fremden, trieb ihn Vorfreude, dass die Ankömmlinge die Welt um sein Zelt herum bereichern würden.

Auf dass sie einander kennenlernen—dazu schuf Gott die Menschen zu Völkern, sagt der Koran in Sure 49 (13), was umgekehrt auch ein Sich-Öffnen der Neuankommenden gegenüber unserer Kultur voraussetzt.

Ohne Berührungsangst werden wir Christen schließlich in interreligiöse Dialoge eintreten. Der Islam in Deutschland wird nicht nur von Salafisten bestimmt. Er wird auch bestimmt von islamischen Intellektuellen, die an ihre religiöse Tradition ebenso historisch-kritisch herangehen wie wir Christen an die unsere und mutig darüber publizieren.[iv] Er wird von muslimischen Bürgern mit bestimmt, denen das Grundgesetz wertvoll ist wie uns. Dieser deutsche Islam hat durchaus die Chance, längerfristig selbst eine Reformation zu erleben, indem er zu eigenen Wurzeln zurückfindet: Über Jahrhunderte ließ ein inkulturierter Islam im vorderen Orient Intellektualität, Dialog und schöpferische Vielfalt zu. Er erlaubte ersprießliches Zusammenleben von Muslimen, Juden und Christen, brachte uns im Westen u.a. die aristotelische Tradition nahe und beeinflusste so unsere Scholastik und schließlich Renaissance. Wenn wir über Renaissance, Humanismus, Reformation und Aufklärung das wurden, was wir im Westen sind, dann stand ein solch inkulturierter Islam am Anfang mit Pate. Wir haben viel miteinander zu besprechen, weil vieles in unseren Geschichten sich verflocht.

Demgegenüber schob sich das derzeit dominante Gesicht des sunnitischen Islam erst vor 36 Jahren in den Vordergrund. Im November 1979 kaperten radikale Gotteskrieger die Große Moschee in Mekka. Zwei Wochen wurde gemetzelt, und danach blieb in Saudi Arabien nichts beim Alten. Um die Hintermänner der Gotteskrieger zu befrieden, kehrte der Staat sich hin zu einem salafistisch-wahabitischen Islam, der kulturfeindlich das Strenge, das Einfache predigt und stimulierende kulturelle Vielfalt und Intellektualität als bedrohlich empfindet. Von da ab paukten Schüler die Scharia, Frauen verhüllten sich, und den Männern wuchs der Bart. Das war nicht immer so.[v] Hier gibt es im und mit dem deutschen Islam viel zu besprechen.

Angstfrei. Berührungsfreudig.

Denn auf welches Letztgültige gründet sich unsere Existenz? Was stärkt Christen den Rücken, gibt Halt in allem Verändern? Die grundlegende reformatorische Einsicht kommt hier zum Tragen, die Luther in seiner Rechtfertigungslehre niederlegte: Abseits und jenseits Deiner Erfolge und Deiner Fehlschläge, jenseits Deiner Leistungen, auch jenseits Deines Scheiterns – jenseits alles dessen spricht Gott zu Dir: „Ich nehme Dich an. Ich habe Dich erkauft. Ich lasse Dich nicht.“ Was Dich im Innersten zusammenhält, was Dir Wert verleiht, was Dich sicher und furchtlos machen kann, das liegt im Jenseits Deiner Qualitäten und Deines Aktionsradius, im Jenseits Deiner Geschäftigkeit, es liegt auch jenseits Deiner Zerrissenheit. Es liegt in dem „Du“ und in dem „Ja“, welche Gott zu Dir spricht. Es liegt darin, dass Gott dich anspricht und damit Anspruch auf dich erhebt. Es liegt allein darin, dass Gott sein Angesicht über Dir leuchten lässt und Dir gnädig ist. Aus dieser Quelle schöpfen Christen ihre Kraft. Du brauchst Dich nicht selbst zu erfinden, Gott hat es bereits getan. Er hat Dich für ewig bei einem unverwechselbaren Namen gerufen. Das ist die Warte, von der aus sich unser Leben ordnet. Das ist das Fundament, auf das wir uns verlassen und von dem aus wir gestärkt die gewaltigen Aufgaben angehen, die auf uns warten—allen Kriegsverbrechern und Brandstiftern zum Trotz. „Und wenn die Welt voll Teufel wär, und wollt uns gar verschlingen, so fürchten wir uns nicht so sehr, es soll uns doch gelingen.“ Das ist nicht apotropäisches Singen im Finstern, sondern Martin Luthers Gesang vertrauender Gottesliebe. Amen.

Und der Friede des Gottes, der die Menschen schuf und lieb gewann, bewahre Eure Herzen, Sinne und Hände in Christo Jesu. Amen.



[i] Auf der Basis von Daten wie z.B. http://de.statista.com/statistik/daten/studie/76095/umfrage/asylantraege-insgesamt-in-deutschland-seit-1995/ (oder auch http://www.pewforum.org/2011/01/27/future-of-the-global-muslim-population-regional-europe, wo Geburtenraten mit berücksichtigt sind) würde selbst bei einem künftigen Zuwachs von z.B. 1 Mio. pro Jahr Deutschland in 2020 allerhöchstens 11 Mio. zusätzlich zum Stand von 2010 beheimaten; das wären 13.5% von 81.8 Mio.

[iii] WA 1:555,9-10.14-15; vgl. Mt 14,30-31; Lk 24,37-38; T. Dietz, Der Begriff der Furcht bei Luther, BHT 147, Tübingen: Mohr Siebeck, 2009, 188 u.ö.

[iv] Vgl. z.B. M. Khorchide, Gott glaubt an den Menschen, Freiburg: Herder, 2015.

[v] Vgl. als ersten Einstieg informativ und mit weiterführender Literatur z.B. Martin Gehlen, Der Islam im Krieg gegen sich selbst, http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-10/islam-saudi-arabien-salafismus-dogmatismus

 

Perikope