"Der Mensch in Sünde - (k)ein hoffnungsloser Fall" - Predigt über Römer 7,14-25a; 8,2 von Markus Kreis
7,14
22.Sonntag nach Trinitatis/IV - 04.11.2012
Predigt über Römer 7,14-25a; 8,2
Der Mensch in Sünde - (k)ein hoffnungsloser Fall
 
Liebe Gemeinde,
 
nur Enttäuschung spricht aus dem Paulustext, eine einzige Enttäuschung. Zum Glück handelt es sich um eine doppelte Enttäuschung, um eine Enttäuschung im zweifachen Sinn.
 
Aus dem Paulustext spricht zum ersten eine tiefe Illusionslosigkeit, also das Gefühl, dass eine wichtige Hoffnung zerstört worden ist. Zum anderen ist aus dem Text eine geläuterte Klarheit zu hören, also das Gefühl, dass Paulus aus einer Täuschung herausgerissen worden ist, einen Irrtum hinter sich gelassen hat.
 
Entsprechend hält der Text zwei Wahrheiten bereit, eine bittere und eine süße.
 
Die bittere, illusionslose Wahrheit lautet: Der Glaubende ist nicht gewappnet gegen Irrtum und Fehlurteile, also auch nicht gegen entsprechende Fehler und missratene Handlungen, sei es in Gesprächen beim Reden und Hören oder sei es beim Schaffen und Machen, beim Helfen und Zuarbeiten.
 
Die süße und geläuterte Wahrheit lautet: Der Geist Christi befreit den Geist des Glaubenden von seinen Irrtümern und Fehlern in Wort und Tat.
 
Zwei miteinander im Streit liegende Kommandozentralen beherrschen laut Paulus den Menschen: eine, die ihm bewusst ist und eine, die ihm nicht bewusst ist, oder besser gesagt, die ihm erst nachträglich und überraschend bewusst wird, das ist die bittere illusionslose Wahrheit.
 
Die eine Kommandozentrale ist das ICH, das Bewusstsein, der Wille des Menschen mit seinen Gedanken und Gefühlen, Gewissheiten und Entschlüssen. Aus dem ICH erwachsen des Menschen Taten und Handlungen, mit denen er seine Gewissheiten und Entschlüsse verkörpert, sich in der Welt sichtbar macht. Mit seinen Taten und Handlungen will er sich natürlich nicht nur zeigen, sondern seine Welt gestalten, sich daselbst einrichten.
 
Die andere, die unbewusste oder nachträglich erst zu Tage tretende Kommandozentrale, nennt Paulus die Sünde. Sie liegt im Widerstreit mit dem ICH des Menschen, seinem Bewusstsein. Sie scheint aus dem Nichts heraus zu agieren. Der Mensch bemerkt nicht, wann sie mitmischt, und plötzlich wird es ihm klar.
 
Paulus erklärt nichts zur Sünde. Sie ist als Macht einfach da. Dass Paulus dieses Phänomen mit dem Wort Sünde benennt, erweckt den Eindruck, dass damit eine greifbare Sache gemeint ist. Dem ist nicht so. Der durch die Benennung mit dem Wort Sünde erweckte Eindruck ist leider falsch. Die Sünde greift aus dem Nichts ein. Und wenn überhaupt, dann ist sie erst nachträglich erkennbar, wenn’s zu spät ist.
 
„Das Gegenteil von gut gemacht ist...? Gut gedacht!“ Paulus belegt mit einem ähnlichen Sinnspruch, dass tatsächlich zwei Kommandozentralen im Menschen miteinander kämpfen, das Ich und die Sünde Vers 18b, 19. Dies gilt sogar dann, wenn das ICH, wenn der Glaubende mit seinem Bewusstsein das Gesetz Gottes befolgt, Gottes Geboten gehorcht. Auch dann treten Absicht und Erfolg auseinander, auch dann schaltet sich die Sünde dazwischen.
 
Nun kann man einwenden: Wer lässt sich heutzutage noch von Kommandos bestimmen, seien es bewusste oder unbewusste? Diese Zeiten sind vorbei. Wir leben in einer kapitalistisch geprägten Demokratie. Da regiert die Selbstbestimmung und nicht die Fremdbestimmung.
 
Da ruft und gehorcht man nicht Kommandos und Befehlen, da werden Gedanken ausgetauscht, Überlegungen angestellt, Begründungen angeboten und diskutiert, die schließlich in Überzeugungen und eigene Urteile münden. Und im Einklang mit seinen Überzeugungen und Urteilen entschließt man sich zum entsprechenden Tun und Lassen.
 
Es ist wohl wahr: die Menschen heute entscheiden vieles selbst, sogar was sie als ihre Gewissheiten gelten lassen. Und wenn sie mal nicht selbst entscheiden dürfen, müssen sie nur selten ganz krass gegen ihre Überzeugungen handeln. Spricht all das nicht dafür, dass wir heute bereits die inwendigen Menschen sind, von denen Paulus im Predigttext so positiv spricht. Diejenigen, welche sich nur von ihrem Gemüt und Urteil leiten lassen – und nicht vom Fleisch, will sagen von Äußerlichkeiten, äußeren Bedingungen, Sachzwängen?
 
Diese unheimliche Kommandozentrale, die Sünde, die regiert auch ins menschliche Urteilsvermögen hinein, auch in die Urteile, die Menschen in gutem Glauben fällen. Betrachten wir das Kachelmann Urteil! Auch ein Glaubensurteil, das möglicherweise einen Irrtum bezeugt. Ein Glaubensurteil stellt es aus folgendem Grund dar:
 
Der Herr Angeklagte wurde freigesprochen, und zwar mangels überzeugender objektiver Beweise - in eins übrigens mit teils widersprüchlichen Aussagen seitens der Frau Klägerin. Was wirklich passiert ist, können nur diese zwei Personen wissen, niemand sonst. Ein Glaubensurteil also, verkündet von einem ordentlichen Gericht.
 
Es könnte sein, dass der Beklagte doch verbrecherisch im Sinne der Anklage gehandelt hat. Wenn er sich so verhalten hat, dann irrt das im Fall Kachelmann ergangene gerichtliche Glaubensurteil. Und nicht nur das vom Gericht verkündete Urteil irrt, sondern auch ein Rechtsgrundsatz wird fraglich, der mit der Sache verbunden ist.
 
Der Rechtsgrundsatz lautet: Niemand darf ohne ausreichende Beweislage schuldig gesprochen werden. Auch dieser Grundsatz ist ein Glaubensurteil. Und im Falle einer tatsächlichen Schuld des Beklagten erscheint der erwähnte wichtige Rechtsgrundsatz plötzlich unzulänglich, Fehler anfällig, irgendwie zwielichtig.
 
Nebenbei bemerkt: Trotzdem halte ich persönlich diesen Rechtsgrundsatz für unaufgebbar. Für mich verkörpert er im Rechtswesen auf eine bestimmte Art den Gedanken der Rechtfertigung des Sünders.
 
Wenn der Herr Beklagte unschuldig gewesen ist und trotz unzureichender Beweislage verurteilt worden wäre, was wäre dann gewonnen? Der unschuldige Kachelmann als Sündenbock für zahlreiche ungesühnte Verbrechen von Männern an Frauen? Wer weiß überhaupt nur von ungefähr, wie viele ungesühnte Verbrechen von Frauen an Männern vorliegen?
 
Auch Christen irren in Glaubensdingen, geben fehlbare Glaubensurteile ab, egal ob es sich um große oder kleine Fragen und Probleme handelt. Da muss man gar nicht weit zurückgehen in die Zeiten der großen konfessionellen Trennungen innerhalb der christlichen Kirche. Denken wir nur an die Deutschen Christen vor ca. 80 Jahren. Da haben sich große Teile in wichtigen Fragestellungen ganz gewaltig geirrt, mit der Bibel in der Hand, trotz der daraus entnommenen Zitate.
 
Und wer sich in großen Dingen irren kann, der ist auch im Kleinen, in Alltagsdingen nicht davor gefeit. Das Leben in Gottes Schöpfung ist in seinem Zusammenhang eben vielfältiger und komplizierter, als dass es sich in ein paar Gewissheiten und moralische Lehrsätze hinein pressen ließe, seien diese auch der Bibel entnommen, seien sie von einem Großteil einer Gemeinde fraglos anerkannt. Das Gesetz des Gottesgeistes ist größer als das, was wir für uns aus der Bibel wortwörtlich ableiten. 
 
Die bittere, illusionslose Wahrheit lautet: Wir verfügen auch als Christen nicht über die Wahrheit für unser Leben, die Wahrheit muss uns von Gott in Christus immer wieder neu zugespielt werden. Vers 24.
 
Ich kenne einen Milchviehbauer, nennen wir ihn Fokko. Der ging mit seiner Frau Henrike und mit beider Lieblingskuh auf eine Leistungstierschau, bei der die besten Milchkühe ausgezeichnet werden sollten. Den Hof- und Melkdienst versah an jenem Tag der neue landwirtschaftliche Angestellte. Notfalls konnten sich Bauer und neuer Mitarbeiter per Telefonapparat der Tierschauleitung in Verbindung setzen, aber nur, wenn etwas wirklich Wichtiges zu klären war. Damals waren Mobiltelefone noch sehr exklusiv.
 
Auf dem Schaugelände angekommen, trafen beide auf eine Bäuerin, der Fokko vor Henrike in Liebe zugetan war, und umgekehrt, aber die Sache war nicht von Dauer, schließlich hatte er jetzt seine Henrike, welche um die alte Liebe wusste und sie kannte. Man begrüßte sich, hielt ein Schwätzchen, und ging weiter seines Wegs. Fokko machte sich mitten in einer überdachten Halle mit Balustrade an dem lieben Tier zu schaffen, putzen, striegeln Halfter anlegen usw.
 
Henrike und seine ehemalige Liebe trafen sich indessen andernorts beim Anmeldebüro der Leistungstierschau. Dort ging plötzlich ein Anruf des neuen Mitarbeiters ein, um was es ging, weiß niemand mehr genau, jedenfalls war es wichtig. Und Henrike und die Ex machten sich auf, und suchten Fokko auf getrennten Wegen, um ihn schnellstmöglich ans Telefon zu kriegen.
 
Fokko stand unterdessen mitten in der Vorbereitungshalle, ganz versunken in die Kuhpflege, und hörte plötzlich, wie von zwei einander gegenüber liegenden Balustradenseiten gleichzeitig jeweils eine vertraute weibliche Stimme nach ihm mit seinem Namen rief: Fokko...!
 
Zum Glück hatte er sich in angemessen kurzer Zeit in Richtung seiner Henrike gewendet, und nicht nach der Ex. Er gestand mir unter 4 Augen auf dem Trecker: Die Wahl der richtigen Richtung sehe ich weniger als mein Verdienst, sondern vielmehr als eine Art Geschenk. Ich hätte mich genauso gut auch in die  andere Richtung wenden können. Das wäre mir allerdings sehr arg gewesen...
 
Es geht mir nicht darum, über die Sündhaftigkeit von Fokkos Reaktionsmöglichkeiten zu urteilen. Kann sein, dass Henrike ihm verziehen hätte für den Fall einer spontanen Wendung zur Ex. Kann aber auch sein, dass damit der unscheinbare Keim einer langsamen Beziehungszerrüttung gelegt worden wäre... Mir geht es um folgendes: Ich will mit der Geschichte zeigen, dass und wie Gott in Christus sich zur unverwechselbaren Stimme macht.    
 
Im Gegensatz zu Fokko können Menschen, auch wir Glaubende, die unter die Macht der Sünde geraten, noch nicht einmal die Stimmen unterscheiden und identifizieren, die zu ihnen sprechen und ihnen zusprechen. Das ist recht bedacht wenig verwunderlich. Die Stimme der Sünde erklingt, vorhin wurde es gesagt, wie aus dem Nichts, ansatzlos, ohne sich dagegen wappnen zu können. Und auch der auferstandene Christus spricht zu uns aus dem Nichts seines Todes am Kreuz heraus. Müsste nicht jeder angesichts dieser Lage mit Paulus klagen: Vers 7,24
 
Wie gut, dass es neben der bitteren eine andere Wahrheit gibt. Die süße und geläuterte lautet: Der Geist Christi befreit den Geist des Menschen von seinen Irrtümern und Fehlern in Wort und Tat. Verse 7,25 und 8,2.
 
Den Glaubenden ist verheißen, dass sie wie Fokko unvermutet Geistesgegenwart geschenkt bekommen, egal ob es um spontane oder überlegte Entscheidungen geht. So können sie die Stimmen unterscheiden, die der Sünde und die Jesu Christi.
 
Und nicht nur das: So wie Fokko sich seiner Henrike zugewendet hat, so werden Menschen sich der Stimme des auferstandenen Jesu zuwenden und ihm mit seinen Worten glauben und sie befolgen, in Wort und Tat. Amen.
 
Verfasser: Markus Kreis, StR,
mail: markus-kreis@t-online.de
Perikope
04.11.2012
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