1. Allein sein
Sofort danach drängte Jesus die Jünger, in das Boot zu steigen.
Sie sollten an die andere Seite des Sees vorausfahren.
Er selbst wollte zuerst noch die Volksmenge verabschieden.
Als die Volksmenge weggegangen war, stieg er auf einen Berg,
um in der Einsamkeit zu beten.
Es war schon Abend geworden, und Jesus war immer noch allein dort.
(Mt 14, 22-23)
Es gibt den Moment, da willst du allein sein - musst dich zurückziehen. Nur mit dir und Gott. In den Wald. Ins Kloster. Oder die Bettdecke über den Kopf.
Jesus geht in die Wüste oder auf einen Berg oder in den Garten Gethsemane.
Rückzug sogar für den Gottessohn.
Ja, klar: ist verständlich. Und doch merkst du, wie sich alles in dir dagegen sträubt.
Ich brauche ihn doch gerade jetzt, denkst du. Hier an meiner Seite. In dieser Zeit, wo ich nicht weiß, was nächstes Jahr sein wird. Oder übernächstes.
Und die Jünger?
Eben noch mit 5000 Leuten zusammen gewesen. Brot geteilt. Wunder erlebt.
Und jetzt? Als ob nichts gewesen wäre? Zurück ins Boot, wie früher als Fischer.
Zurück in den Alltag, in die Nacht - aber ohne ihn. Ohne Jesus.
Es gibt Momente, da bin ich allein. Aber ich will dann nicht allein sein.
2. Zuviel
Das Boot war schon weit vom Land entfernt.
Die Wellen machten ihm schwer zu schaffen, denn der Wind blies direkt von vorn.
(Mt 14, 24)
Der Wind hat sich gedreht - bläst ihnen ins Gesicht. Der Himmel heult. Hohe Wellen stürzen von Tal zu Tal. Plötzlich wird aus ruhigen Handgriffen Hektik. Eigentlich sind die Jünger erfahrene Fischer. Sie kennen die Tücken des Sees. Aber ob es diesmal gut ausgeht?
Es gibt den Moment, da wird alles zu viel. Du verlierst den Überblick, die Kontrolle.
Wenn bei dir zuhause alle Kinder gleichzeitig krank werden und du nicht mehr zum Schlafen kommst. Wenn du den Führerschein abgeben musst, aber eine wichtige Dienstreise vor dir hast und nicht weißt, wie du es deiner Chefin sagen sollst. Wenn du nicht weißt, wie du die vielen Klausuren in der Schule schaffen sollst.
Es gibt Momente, da geht gar nichts mehr.
Wo ist Jesus? Wo ist Gott? Stellst du dann überhaupt diese Frage?
Oder bist du dann nicht viel zu sehr damit beschäftigt, das Richtige zu tun - das, was jetzt ansteht? Ein Schritt nach dem Anderen. Versuchen, doch noch klar zu denken. Irgendwie aus dieser Situation raus kommen. Egal wie, Hauptsache heil. Musst alleine klar kommen…. Und merkst, dass das nicht geht.
Kennst du das?
3. Wenn gar nichts mehr geht
Um die vierte Nachtwache kam Jesus zu den Jüngern.
(Mt 14, 25a)
Die Jünger haben schlimme Stunden hinter sich. „Ich kann nicht mehr!“, ruft jede Zelle und jeder Muskel. Und das Gehirn will endlich endlich zur Ruhe kommen. Die vierte Nachtwache - das ist tiefste, dunkelste Nacht. Eine Nacht, die kein Ende nehmen will. Wer im Krankenhaus eine Nachtschicht hat, hat dann die größten Kämpfe. Die vierte Nachtwache ist die Zeit, wo viele Menschen wach werden und nicht mehr einschlafen können. So gegen 3 Uhr oder 4 Uhr nachts.
Und genau jetzt kommt Jesus. Dann, wenn es am dunkelsten ist. Wenn ich richtig am Ende bin. Gar nichts mehr will. Den Kopf ausschalten. Das Kreisen abstellen. Genau jetzt, in diesem Moment kommt Jesus.
4. „Fürchtet euch nicht!“
Jesus lief über den See.
Als die Jünger ihn über den See laufen sahen, wurden sie von Furcht gepackt.
Sie riefen: »Das ist ein Gespenst!« Vor Angst schrien sie laut auf. Aber sofort sagte Jesus zu ihnen: »Fürchtet euch nicht! Ich bin es. Ihr braucht keine Angst zu haben.«
(Mt 14, 25b-27)
Es gibt diesen Moment, da kannst du nicht mehr klar sehen.
Du hast den Tunnelblick und erkennst den Ausweg nicht. Du weißt nicht mehr, wo oben und unten ist. Funktionierst nur noch mechanisch, weil die Augen brennen und die Ohren dröhnen. Alles, was jetzt noch dazu kommt, macht dir Angst. Gespenster, die frei rum laufen.
Jesus versteht das. Und darum sagt er sofort: Ich bin es. Ihr braucht keine Angst zu haben!
Dringt er damit durch? Durch das Dröhnen, das Brennen, das Funktionieren?
Ich bin es. Der, der mit euch gegessen hat und 5000 andere auch. Der euch aus eurem bisherigen Leben gerissen hat, und dem ihr eigentlich alles zutraut. Ich bin es.
Es gibt Momente, da hörst du eine leise Stimme - in dir oder von außen, manchmal weißt du das nicht. Aber du hörst sie. Und sie sagt dir: Fürchte dich nicht! Es wird gut. Du schaffst es. Ich bin ja bei dir. Du bist nicht allein.
Momente auf dem Mittelmeer. Ein Schlauchboot auf dem Mittelmeer. Der Motor ist ausgegangen, die Babies schreien, Öl ist ausgelaufen, es stinkt und die Wellen heben sie bedrohlich auf und ab. Und auf einmal ist da ein Schiff. Groß ist es und die Scheinwerfer hell! Ob das Rettung ist? Oder nicht doch ein libysches Schiff, das sie beschießen wird oder zurückschleppt in die libysche Hölle, der sie ja gerade entrinnen? Die Menschen im Schlauchboot ducken sich, verstecken ihre Kinder, weinen vor Angst. Und dann die Stimme: Wir sind es. Die SeaWatch. Habt keine Angst. Wir retten euch!
Ja, es gibt diesen Moment, da möchtest du dieser Stimme glauben, aber du kannst es noch nicht. Zu müde, zu erschöpft, zu viel durchgemacht, als dass da ein einfaches „Fürchte dich nicht!“ genügen könnte. Aber jede Faser in dir sehnt sich nach diesen Worten.
5. Mutmacher
Petrus sagte zu Jesus:
»Herr, wenn du es bist, befiehl mir, über das Wasser zu dir zu kommen.«
Jesus sagte: »Komm!«
Da stieg Petrus aus dem Boot, ging über das Wasser und kam zu Jesus.
(Mt 14, 28-29)
Es gibt den Moment, da hat dir jemand Mut gemacht.
Du steigst aus dem Boot aus. Aus der sicheren Schale, die dich trägt, die dir Schutz gibt. Du überwindest deine Angst und wagst etwas Neues, etwas ganz Neues. Denn da ist jemand, der traut es dir zu und sagt: „Komm!“ Und dieser jemand ist Jesus.
Du fängst eine neue Stelle an. Gehst in einen neuen Verein. Du ziehst in eine andere Stadt. Du sprichst die Frau an, die dich interessiert. Du sagst deinem Nachbarn, dass er deine Kinder nicht so anbrüllen soll. Du steigst in ein Boot, das dich übers Mittelmeer in Sicherheit bringen soll.
6. Wellen
Aber auf einmal merkte er, wie stark der Wind war.
Da bekam er Angst. Er begann zu sinken und schrie: »Herr, rette mich!«
(Mt 14, 30)
Kennst du ihn, diesen Moment? Da löst sich der Mut in Luft auf. Das Wasser ist zu unruhig. Du bekommst Angst. Der Schatten, über den du springen wolltest, ist zu groß.
Mir passiert das immer wieder - in den sozialen Medien zum Beispiel. Da entdecke ich vor kurzem, wie eine Kollegin im Netz fertig gemacht wird. Ein Shitstorm fällt über sie herein. Menschen beschimpfen sie und bespucken sie, so wie früher die Pranger vor einer Kirche oder auf dem Marktplatz. Und das nur, weil sie offen von sich und ihrer Familie gesprochen hat und wie sie das Problem mit der Scheidung und der gemeinsamen Tochter gelöst hat. Aber damit war sie auf einmal keine Heilige mehr…
Ich springe ihr bei. Diskutiere mit den Leuten, stelle mich vor sie. Ich wage mich auf das Wasser. Aber die Wellen werden zu groß. Der Strudel reißt mich mit. Ich verstricke mich in die Argumentationen, komme nicht mehr hinterher. Und es dauert nicht lange und mich überfällt die Angst. Jetzt greifen sie mich an. Beschimpfen mich. „Wie können Sie als Kirchenfrau sowas sagen!“ Ich gehe unter. Weiß nicht mehr weiter. Verzweifelt, weil mir nichts mehr einfällt. Warum habe ich mich auch darauf eingelassen? Diese Wasser sind zu tief, zu wild. Herr, rette mich!
Kennst du das?
7. Jesus mittendrin
Sofort streckte Jesus ihm die Hand entgegen und hielt ihn fest.
Er sagte zu Petrus: »Du hast zu wenig Vertrauen. Warum hast du gezweifelt?«
(Mt 14, 31)
Durchatmen. Dieser Moment, wenn dir jemand die Hand entgegen streckt, dich aufrichtet. Zieht dich aus dem Wasser. Du bist nicht allein, sagt diese Hand. Ich halte dich fest, egal wie hoch die Wellen sind. Und auch wenn dein Glaube gerade sehr klein ist.
Die Seawatch im Mittelmeer.
Die Mail, in der eine alte Frau sich für meine Worte bedankt.
Der Schüler, der mir eine WhatsApp schickt, weil er sich so freut, dass ich auf der Fridays-for-Future-Demo sprechen werde.
Die Karte von meiner Schwester. Da steht drauf: Lächle, du kannst sie nicht alle töten.
Und ich lächle - auch über mich und meine Angst und mein Um-mich-selber-kreisen.
Jesus ist mitten drin in den Wellen. Mitten im Sturm. Gerade dort, wo alles unsicher ist.
Trau dich, sagt Jesus. Zweifle nicht. Ich bin ja da.
8. In diesem Moment
Dann stiegen sie ins Boot und der Wind legte sich.
Die Jünger im Boot warfen sich vor Jesus nieder.
Sie sagten: »Du bist wirklich der Sohn Gottes!«
(Mt 14, 32-33)
Es gibt den Moment, da ist alles klar und eindeutig.
Und ich erkenne: diese Mail, diese WhatsApp, diese Karte, die Seawatch - Jesus spricht da. Es streckt seine Hand aus.
Sieht meine Angst, meinen kleinen Glauben und hält mich.
Ja, Jesus, du bist da.
Auch wenn die Wellen hochschlagen und die Gespenster frei herum laufen und toben. Und sogar wenn die libysche Miliz im Meer ihr Unwesen treibt oder eine wütende Meute mir böse Mails schreibt - du bist da. Und ich lass mich davon nicht einschüchtern. Nicht von den Mails und dem ganzen anderen Mist. Denn du bist da.
Es ist dieser Moment, dieser eine Moment:
Ich steige aus dem Boot. Es genügt, dass du mir mehr zutraust als ich.
Da draußen. Und hier. Mit dir. In diesem Moment.
Amen.
(Liedvorschläge: „Ich möcht‘, dass einer mit mir geht“ – „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ – „Vertrauen wagen“ – „Stay with me / Bleib mir nah“)
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich werde diesmal nicht in der Stadtkirche predigen (wie sonst), sondern „draußen“ auf dem Land. Ich kenne die Gemeinde dort kaum, gehe aber davon aus, dass das Gefühl des „Alles ist zu viel“ und „ich gehe unter“ den meisten sehr vertraut sein wird. Corona hat das Gefühl der Überforderung ja eher noch verstärkt.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Es hat mir geholfen, die Struktur vom Text bestimmen zu lassen (Homilie). Daraus ist dann das Strukturelement „Es gibt Moment(e)“ entstanden.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die Jünger und Petrus durchleben im Boot und auf dem Wasser etwas sehr Existenzielles: allein sein, überfordert sein, Angst haben, etwas wagen, von der Angst wieder eingeholt werden, die Stimme und die Hand, die mir hilft, wieder Boden unter die Füße zu bekommen. Aber wie ist die Frage Jesu „Warum hast du gezweifelt?“ zu verstehen? Ist es Vorwurf oder Sorge? Wieso fragt er das überhaupt? Das wird mich noch weiter beschäftigen.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Meine Coach deckte die innere Struktur der Predigt auf, was mir half, noch konsequenter das Motiv „Es gibt Momente“ als roten Faden zu gestalten. Dank ihres Blicks auf meinen Entwurf trennte ich mich auch von 2 kleinen Abschnitten. Dabei half mir ihre Visualisierung, Abschnitten bestimmte Farben zu geben. Ich schnitt die Abschnitte dann aus und legte sie untereinander und nebeneinander. Das half mir, eine klarere Struktur und die Konzentration auf das Wesentliche zu finden. Danke!