"Der Trost der ganzen Welt", Predigt zu Psalm 69,17 von Konrad Stock
69,17
„Erhöre mich, Gott, denn deine Güte ist tröstlich;
wende dich zu mir nach deiner großen Barmherzigkeit.“ (Psalm 69,17)
I
„Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt?“
In der Mitte des Liedes „O Heiland, reiß die Himmel auf“, in der Mitte dieses weiten und tiefen Advents-Lieds finden wir diesen erwartungsvollen und sehnsuchtsvollen Vers. Friedrich Spee - Mitglied des Ordens der Gesellschaft Jesu, theologischer Lehrer und geschätzter Schriftsteller – hat dieses Lied im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts gedichtet. Er hat es gedichtet in den ersten Jahren des furchtbaren Dreißigjährigen Krieges. In der Zeit, in der der brüchige Friede zwischen den christlichen Kirchengemeinschaften zerbrach. In der Zeit, in der die großen europäischen Mächte ihre Konflikte auf dem Boden des alten deutschen Reiches austrugen. In der Zeit, die unendlich vielen Menschen Hunger und Krankheit, Angst und Schrecken bescherte. In der Zeit, in der die großen Städte wie etwa das alte Magdeburg zerstört und in der überall die Landwirtschaften verwüstet wurden. In dieser Zeit gab der Dichter dem Empfinden und der Klage unendlich vieler Menschen Worte: „Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt?“
Der theologisch gebildete Dichter Friedrich Spee konnte dem Empfinden und der Klage unendlich vieler Menschen Worte geben, weil er in der Bibel zu Hause war. Er war damit vertraut, dass das Wort Trost ein Grundwort der Bibel ist. Ihm war bewusst, dass namentlich die Psalmen das tiefe menschliche Verlangen nach Trost zum Ausdruck bringen. Natürlich hatte er die Stellen wortwörtlich im Kopf, in denen die Propheten – allen voran das Buch des namenlosen „Deuterojesaja“ - das Volk Israel zum festen Vertrauen auf den Trost aufrufen, den Gott selbst und Gott allein gewährt. Bestimmt wollte er verstehen, wie der Apostel Paulus dazu kommt, in seinem Brief an die Gemeinde zu Rom Gott den „Gott des Trostes“ zu nennen. Sein Gedicht gliedert sich in das große Netzwerk der Gedanken ein, die im Bild, im Buch und in der Musik den Menschen gerade in den trostlosen Momenten des Lebens zeigen wollen, dass Gottes Güte tröstlich ist.
II
Was ist von diesem großen, von diesem durch die Jahrhunderte hindurch geknüpften Netzwerk geblieben? Manchmal fürchte ich, es sei zerrissen.
Schon die schönen deutschen Worte „Trost“ und „trösten“ sind selten geworden. Wer sie gebraucht, muss sich sofort des Verdachts erwehren, er betreibe die Geschäfte derer, die doch nur vertrösten – die also über den wahren Stand der Dinge täuschen wollen. Seit gut zweihundert Jahren klären uns die führenden Dichter und Denker der Gesellschaft auf über das Trostlose des Menschenlebens. Da nimmt es ja nicht wunder, dass ihnen jedes Interesse und jede Fähigkeit zu trösten abgeht, falls sie nicht statt des Tröstens zur Gewalt und zum bewaffneten Kampf aufrufen.
Hat die Glaubensgemeinschaft der Kirche diesem Trend widersprochen? Hat sie ihm etwas Vernünftiges, etwas Überzeugendes entgegengesetzt? Ist sie der Raum, in dem Menschen zumal in den trostlosen Situationen ihres Lebens Trost finden? Lehrt sie denn und zeigt sie denn, wie wir einander zumal in den trostlosen Situationen des Lebens trösten können? Manchmal beschleichen mich die Zweifel, ob sie dazu mit guten, mit geistlichen, mit evangelischen Gründen imstande war und imstande ist.
Dennoch wollen wir einstimmen in den Ruf des Dichters des 69. Psalms: „Erhöre mich Gott, denn deine Güte ist tröstlich; wende die zu mir nach deiner großen Barmherzigkeit.“ Dennoch wollen wir verstehen, was an diesem Ruf dran ist. Wie können wir in diesen Ruf einstimmen, und wie können wir ihn uns als unseren eigenen Ruf zu eigen machen?
Das können wir, indem wir für einen Augenblick innehalten und uns auf unsere eigene Lebenserfahrung besinnen. Sich auf die eigene Lebenserfahrung zu besinnen: das ist grundsätzlich die Methode, die uns die Chance gibt, hier und heute die biblische Sprache des Trostes und die biblische Kunst des Tröstens zu verstehen und uns zu eigen zu machen. Diese Methode wollen wir jetzt einmal ausprobieren.
III
Am besten fangen wir damit an, dass wir uns der frühen Situationen unseres Lebens erinnern, in denen wir trostbedürftig waren und Trost gefunden haben.
Trostbedürftig sind wir zuallererst als kleines Kind. Da fühlen wir schmerzhaft den Hunger und den Durst. Da fürchten wir uns vor dem Dunkel der Nacht. Da wollen wir aufstehen und fallen hin. Da wollen wir in die Arme genommen werden. Da wollen wir die Haut und die Hand der Mutter und des Vaters spüren und halten. Da wollen wir hören, dass alles nicht so schlimm ist und dass der Schmerz vorübergeht. „Heile, heile Segen“ - das wirkt nicht immer, aber doch immer wieder Wunder. Da suchen wir Trost. Da suchen wir Worte und Gesten, die uns Halt geben. Solche Worte und solche Gesten sind wie ein Versprechen: ich bin ja da, ich gehe ja mit, ich begleite dich ja. Es ist dieses Versprechen, das dem kleinen Kind zu seiner eigenen Kraft und zu seiner eigenen Stärke hilft. „Trösten“: das heißt in der Erfahrung der Schwäche und des Leids Halt geben. „Trösten“: das heißt stark machen. „Trost“ ist „Halt“, „Zusammenhalt“. Die Mutter, die tröstet, der Vater, der tröstet, ist wie Gott. Ihre Güte ist tröstlich.
Je älter wir werden, desto trostbedürftiger werden wir. Werden wir auch fähig zu trösten?
Viele Leute, und zumal viele gescheite und gelehrte Leute, wollen die Erfahrung des Kind-Seins verdrängen und vergessen. Schließlich wachsen wir ja – durch manche Krisen und Konflikte hindurch - in die größeren Bereiche der Verantwortung hinein: in die Verantwortung für einen einfachen Job oder für einen anspruchsvollen Beruf; in die Verantwortung für eine Lebensgemeinschaft, für eine Ehe, für eine Familie, für ein Kind; in die Verantwortung für das politische Leben einer Gesellschaft; in die Verantwortung für die Not und für das Leid der nahen und der fernsten Nächsten; und – nicht zu vergessen – in die Verantwortung für die Gemeinschaft des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung in der Kirche.
In diesen größeren Bereichen der Verantwortung können wir nicht das Kind bleiben, das wir einst gewesen sind. In diesen größeren Bereichen der Verantwortung erleben wir allerdings auch unsere Grenzen. Wir sehen hier das eigene menschliche Versagen. Wir gestehen uns hier, wie wenig wir uns interessieren und engagieren für die realen Nöte und Probleme unserer Gegenwart. Wir müssen uns auch sagen, wie schwer wir doch die richtigen Worte finden, mit denen wir den Schatz des Glaubens weitergeben an die nächste Generation. Wir müssen eine Krankheit ertragen, die vielleicht heilbar, vielleicht aber auch ernst und schwer und unheilbar ist. Und wenn wir zu uns selbst ganz offen und ganz ehrlich sind, müssen wir uns wohl sagen, wie wenig uns das Gottvertrauen wirklich durchs Leben trägt und unserem Leben Frieden und Freude gibt.
Je älter wir werden, desto trostbedürftiger werden wir. Wo bleibt der Trost für das erwachsene Leben? Werden wir auch fähig zu trösten?
III
Nun wissen wir alle, dass man uns Trost in Hülle und Fülle verkaufen will. Und damit gute Geschäfte macht. Ist es nicht tröstlich, dass es die Schokolade gibt, die uns einen schweren Tag versüßt? Ist es nicht tröstlich, dass es das Gläschen Wein gibt, in das man nach einer bekannten Schnulze seine Sorgen und seinen Kummer schütten kann? Ist es nicht tröstlich, dass es die Katze oder den Hund gibt, der uns mit seinen treuen Augen das Gefühl des Einsam-Seins vertreibt? Ist es nicht tröstlich, dass es die spannenden Fußballspiele gibt, die uns die harte Arbeit einer ganzen Woche oder die große Langeweile erträglich machen? Ist es nicht tröstlich, dass es immer wieder große Komödianten wie Hans Moser oder Walter Giller gibt, die ihr Publikum zu Stürmen der Begeisterung hinreißen? Ist es nicht tröstlich, dass uns jeder Krimi lehrt: am Ende wird der Mörder doch gefasst und die Weltordnung wiederhergestellt?
Nichts gegen die Schokolade und gegen das Gläschen Wein, nichts gegen die Katze oder den Hund, nichts gegen die spannenden Fußballspiele, nichts gegen die großen Komödianten oder gegen den Krimi! Aber bieten sie uns wirklich den Trost für das erwachsene Leben? Machen sie uns wirklich fähig zu trösten?
Trost für das erwachsene Leben bieten doch – wie in der Kindheit – die Menschen, die uns wie eine Mutter und wie ein Vater beistehen, wenn wir an unsere Grenzen stoßen und an unseren Grenzen leiden. Freunde und Freundinnen. Menschen, die uns ihre Liebe zeigen. Menschen, deren Haut wir spüren und deren Hand wir nehmen können. Menschen, die uns unsere Verantwortung und unser Geschick nicht abnehmen können und die uns dennoch Halt geben, weil sie uns zuhören und weil sie mitempfinden und weil sie vielleicht ein Wort finden, das Wunder wirkt und neuen Mut und neue Ich-Stärke verleiht: sogar den Lebensmut im Sterben. Ihre Güte ist tröstlich. Und indem uns ihre Nähe wohltut, ereignet sich Gottes Güte, die tröstlich ist. Gottes Güte, Gottes ewige Güte ereignet sich, indem uns Menschen trösten, wenn wir trostbedürftig sind.
Deshalb lautet die entscheidende Frage: wie werden wir fähig zu trösten? Wie werden wir einander zur Freundin und zum Freund? Wie werden wir fähig, einander die Liebe zu schenken, die an die Liebe der Mutter und an die Liebe des Vaters erinnert? Wie werden wir fähig zu trösten, die wir doch selbst – je älter wir werden – so trostbedürftig sind?
Auf diese Frage finden wir die angemessene Antwort, wenn wir bedenken, dass wir uns in das dichterische Wort des 69. Psalms und in das Lied Friedrich Spees eben in der Situation des Gottesdienstes am Sonntag Morgen, am Tag der Auferstehung und der Erscheinung Jesu Christi, vertiefen. Eben in der Situation des Gottesdienstes zeigt es sich: Es ist die Gewissheit der ewigen Güte Gottes, die uns – die wir selbst so trostbedürftig sind – fähig macht zu trösten. Hier sind es drei Schritte, mit denen wir zu dieser Gewissheit gelangen und immer wieder zu ihr finden.
IV
Der erste Schritt:
Wir werden dessen gewiss und wir bleiben dessen gewiss, dass Gottes Güte tröstlich ist, indem wir mit Gott im Gespräch bleiben.
Der 69. Psalm ist ja ein großes Gebet aus dem Psalter, aus Israels großem Gebetbuch. Auch das Gedicht Friedrich Spees ist – wie die meisten Lieder des Gesangbuchs – ein dichtes, ein gedichtetes Gespräch mit Gott. Diese Gespräche mit Gott sind für unser eigenes Sprechen mit Gott unendlich wichtig, weil sie unser eigenes Sprechen mit Gott im besten Sinne belehren und bereichern. Sie bewahren Erfahrungen: nicht nur schöne, sondern auch schreckliche; nicht nur erhebende, sondern auch bestürzende und niederschmetternde Erfahrungen. Ihre Lebenserfahrung legt uns Worte in den Verstand, ins Herz und in den Mund, in denen wir uns und unsere eigenen Erfahrungen unterbringen. Diese Gespräche mit Gott bezeugen uns, dass uns Gott in ewiger Güte hört und erhört. Und sobald und solange uns dieses ihr Zeugnis einleuchtet, werden wir es wagen, es beim Wort zu nehmen und damit Gott selbst beim Wort zu nehmen: „Erhöre mich, Gott, denn deine Güte ist tröstlich“! Unsere so überaus begrenzte Fähigkeit zu trösten hängt wohl davon ab, wie sorgsam und wie behutsam und wie unaufdringlich wir auf Gottes ewige Güte als den ersten und den letzten Grund allen Trostes verweisen.
Der zweite Schritt:
Wir werden dessen gewiss und wir bleiben dessen gewiss, dass Gottes Güte tröstlich ist, indem wir immer wieder einkehren in die Mahlgemeinschaft mit dem Christus Jesus selbst.
Was geht vor in dieser Mahlgemeinschaft? Nun, wir tun ja hier nichts anderes als schlicht und einfach miteinander das gesegnete Brot zu essen und aus dem gesegneten Kelch zu trinken. Hier sind wir und hier werden wir miteinander solidarisch, freundschaftlich, vertraut als Gäste an dem Tisch des Herrn. Als Gäste, die wir uns womöglich gar nicht kennen und die wir eilends in unsere verschiedenen Lebensrichtungen und in unsere verschiedenen Geschicke auseinander gehen werden. Was uns hier verbindet, ist die Gegenwart des Christus Jesus.
Es ist die Gegenwart des Menschen, in dessen Existenz der Ruf des 69. Psalms - „Erhöre mich, Gott, denn deine Güte ist tröstlich“ - seine Antwort findet; es ist die Gegenwart des Menschen, in dessen Existenz das Trostlose des Menschenlebens – eines jeden Menschenlebens – gesühnt und ausgesöhnt ist. In dieser seiner Gegenwart sind wir einander nahe über die Grenzen unserer Familie und unserer Freundschaft und unserer Liebe hinaus und hinweg. In der Gegenwart dieses Menschen erscheint uns Gottes ewige Güte wie die Güte einer Mutter und eines Vaters und wie ihre Hände, ihre Haut und ihre beruhigende Stimme. Und sie erscheint gerade so, dass sie Ferne und Fremde zueinander bringt. Es ist die Mahlgemeinschaft mit dem Christus Jesus selbst, die uns dazu bewegt und befähigt, über die Grenzen unserer Familie und unserer Freundschaft und unserer Liebe hinaus und hinweg Initiativen des Tröstens zu ergreifen.
Der dritte Schritt:
Wir werden dessen gewiss und wir bleiben dessen gewiss, dass Gottes Güte tröstlich ist, indem wir uns der Kraft des göttlichen Segens anvertrauen. Segnen kann nur Gott. Nur Gott segnet, weil Gott der Schöpfer ist: der Grund und Ursprung nicht nur unseres eigenen Lebens, sondern auch der Grund und Ursprung dieses ganzen ungeheuren Universums, dessen Anfang und dessen Dauer und dessen Ausdehnung niemand sich vorstellen kann. All dies – das eigene Leben im Ganzen dieses ungeheuren Universums – gibt es nur durch Gottes schöpferische Güte. Und weil es mich selbst im Ganzen dieses ungeheuren Universums durch Gottes schöpferische Güte gibt, ist mir und meinem Leben und Denken und Tun ein bleibender Sinn gegeben. Nichts ist vergeblich und nichts ist umsonst, was jemand in der Kraft des göttlichen Segens tut, der uns am Ende eines Gottesdienstes in die kommenden Werktage begleitet.
V
„Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt?“
Je älter wir werden, desto trostbedürftiger werden wir. Werden wir auch fähig zu trösten, wenn uns in einem einzelnen Fall das Trostlose des Menschenlebens anblickt? Wie werden wir und wie bleiben wir fähig, dem Trost der göttlichen Güte unsere Stimme und unseren Verstand und unsere Hände zu leihen?
Ich habe es gewagt, das dichterische Wort des 69. Psalms und das Lied Friedrich Spees auf die Erfahrung zu beziehen, die die Gemeinschaft mit und im Christus Jesus in der Situation des Gottesdienstes am Tag der Auferstehung und der Erscheinung des Gekreuzigten machen wird. Hier und jetzt ereignet sich der Trost, den wir so dringend brauchen und der uns so konsequent befähigt und bewegt zu trösten. Er ereignet sich, indem wir bleiben im Gespräch mit Gott. Er ereignet sich, indem wir einkehren in die Mahlgemeinschaft mit dem Christus Jesus selbst. Er ereignet sich, indem wir uns der Kraft des göttlichen Segens anvertrauen. Hier und jetzt sind wir in seinem Zentrum; von diesem Zentrum strahlt er aus – überallhin. Amen.
Predigt-Lied: „O Heiland, reiß die Himmel auf“ (EG 7)
wende dich zu mir nach deiner großen Barmherzigkeit.“ (Psalm 69,17)
I
„Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt?“
In der Mitte des Liedes „O Heiland, reiß die Himmel auf“, in der Mitte dieses weiten und tiefen Advents-Lieds finden wir diesen erwartungsvollen und sehnsuchtsvollen Vers. Friedrich Spee - Mitglied des Ordens der Gesellschaft Jesu, theologischer Lehrer und geschätzter Schriftsteller – hat dieses Lied im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts gedichtet. Er hat es gedichtet in den ersten Jahren des furchtbaren Dreißigjährigen Krieges. In der Zeit, in der der brüchige Friede zwischen den christlichen Kirchengemeinschaften zerbrach. In der Zeit, in der die großen europäischen Mächte ihre Konflikte auf dem Boden des alten deutschen Reiches austrugen. In der Zeit, die unendlich vielen Menschen Hunger und Krankheit, Angst und Schrecken bescherte. In der Zeit, in der die großen Städte wie etwa das alte Magdeburg zerstört und in der überall die Landwirtschaften verwüstet wurden. In dieser Zeit gab der Dichter dem Empfinden und der Klage unendlich vieler Menschen Worte: „Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt?“
Der theologisch gebildete Dichter Friedrich Spee konnte dem Empfinden und der Klage unendlich vieler Menschen Worte geben, weil er in der Bibel zu Hause war. Er war damit vertraut, dass das Wort Trost ein Grundwort der Bibel ist. Ihm war bewusst, dass namentlich die Psalmen das tiefe menschliche Verlangen nach Trost zum Ausdruck bringen. Natürlich hatte er die Stellen wortwörtlich im Kopf, in denen die Propheten – allen voran das Buch des namenlosen „Deuterojesaja“ - das Volk Israel zum festen Vertrauen auf den Trost aufrufen, den Gott selbst und Gott allein gewährt. Bestimmt wollte er verstehen, wie der Apostel Paulus dazu kommt, in seinem Brief an die Gemeinde zu Rom Gott den „Gott des Trostes“ zu nennen. Sein Gedicht gliedert sich in das große Netzwerk der Gedanken ein, die im Bild, im Buch und in der Musik den Menschen gerade in den trostlosen Momenten des Lebens zeigen wollen, dass Gottes Güte tröstlich ist.
II
Was ist von diesem großen, von diesem durch die Jahrhunderte hindurch geknüpften Netzwerk geblieben? Manchmal fürchte ich, es sei zerrissen.
Schon die schönen deutschen Worte „Trost“ und „trösten“ sind selten geworden. Wer sie gebraucht, muss sich sofort des Verdachts erwehren, er betreibe die Geschäfte derer, die doch nur vertrösten – die also über den wahren Stand der Dinge täuschen wollen. Seit gut zweihundert Jahren klären uns die führenden Dichter und Denker der Gesellschaft auf über das Trostlose des Menschenlebens. Da nimmt es ja nicht wunder, dass ihnen jedes Interesse und jede Fähigkeit zu trösten abgeht, falls sie nicht statt des Tröstens zur Gewalt und zum bewaffneten Kampf aufrufen.
Hat die Glaubensgemeinschaft der Kirche diesem Trend widersprochen? Hat sie ihm etwas Vernünftiges, etwas Überzeugendes entgegengesetzt? Ist sie der Raum, in dem Menschen zumal in den trostlosen Situationen ihres Lebens Trost finden? Lehrt sie denn und zeigt sie denn, wie wir einander zumal in den trostlosen Situationen des Lebens trösten können? Manchmal beschleichen mich die Zweifel, ob sie dazu mit guten, mit geistlichen, mit evangelischen Gründen imstande war und imstande ist.
Dennoch wollen wir einstimmen in den Ruf des Dichters des 69. Psalms: „Erhöre mich Gott, denn deine Güte ist tröstlich; wende die zu mir nach deiner großen Barmherzigkeit.“ Dennoch wollen wir verstehen, was an diesem Ruf dran ist. Wie können wir in diesen Ruf einstimmen, und wie können wir ihn uns als unseren eigenen Ruf zu eigen machen?
Das können wir, indem wir für einen Augenblick innehalten und uns auf unsere eigene Lebenserfahrung besinnen. Sich auf die eigene Lebenserfahrung zu besinnen: das ist grundsätzlich die Methode, die uns die Chance gibt, hier und heute die biblische Sprache des Trostes und die biblische Kunst des Tröstens zu verstehen und uns zu eigen zu machen. Diese Methode wollen wir jetzt einmal ausprobieren.
III
Am besten fangen wir damit an, dass wir uns der frühen Situationen unseres Lebens erinnern, in denen wir trostbedürftig waren und Trost gefunden haben.
Trostbedürftig sind wir zuallererst als kleines Kind. Da fühlen wir schmerzhaft den Hunger und den Durst. Da fürchten wir uns vor dem Dunkel der Nacht. Da wollen wir aufstehen und fallen hin. Da wollen wir in die Arme genommen werden. Da wollen wir die Haut und die Hand der Mutter und des Vaters spüren und halten. Da wollen wir hören, dass alles nicht so schlimm ist und dass der Schmerz vorübergeht. „Heile, heile Segen“ - das wirkt nicht immer, aber doch immer wieder Wunder. Da suchen wir Trost. Da suchen wir Worte und Gesten, die uns Halt geben. Solche Worte und solche Gesten sind wie ein Versprechen: ich bin ja da, ich gehe ja mit, ich begleite dich ja. Es ist dieses Versprechen, das dem kleinen Kind zu seiner eigenen Kraft und zu seiner eigenen Stärke hilft. „Trösten“: das heißt in der Erfahrung der Schwäche und des Leids Halt geben. „Trösten“: das heißt stark machen. „Trost“ ist „Halt“, „Zusammenhalt“. Die Mutter, die tröstet, der Vater, der tröstet, ist wie Gott. Ihre Güte ist tröstlich.
Je älter wir werden, desto trostbedürftiger werden wir. Werden wir auch fähig zu trösten?
Viele Leute, und zumal viele gescheite und gelehrte Leute, wollen die Erfahrung des Kind-Seins verdrängen und vergessen. Schließlich wachsen wir ja – durch manche Krisen und Konflikte hindurch - in die größeren Bereiche der Verantwortung hinein: in die Verantwortung für einen einfachen Job oder für einen anspruchsvollen Beruf; in die Verantwortung für eine Lebensgemeinschaft, für eine Ehe, für eine Familie, für ein Kind; in die Verantwortung für das politische Leben einer Gesellschaft; in die Verantwortung für die Not und für das Leid der nahen und der fernsten Nächsten; und – nicht zu vergessen – in die Verantwortung für die Gemeinschaft des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung in der Kirche.
In diesen größeren Bereichen der Verantwortung können wir nicht das Kind bleiben, das wir einst gewesen sind. In diesen größeren Bereichen der Verantwortung erleben wir allerdings auch unsere Grenzen. Wir sehen hier das eigene menschliche Versagen. Wir gestehen uns hier, wie wenig wir uns interessieren und engagieren für die realen Nöte und Probleme unserer Gegenwart. Wir müssen uns auch sagen, wie schwer wir doch die richtigen Worte finden, mit denen wir den Schatz des Glaubens weitergeben an die nächste Generation. Wir müssen eine Krankheit ertragen, die vielleicht heilbar, vielleicht aber auch ernst und schwer und unheilbar ist. Und wenn wir zu uns selbst ganz offen und ganz ehrlich sind, müssen wir uns wohl sagen, wie wenig uns das Gottvertrauen wirklich durchs Leben trägt und unserem Leben Frieden und Freude gibt.
Je älter wir werden, desto trostbedürftiger werden wir. Wo bleibt der Trost für das erwachsene Leben? Werden wir auch fähig zu trösten?
III
Nun wissen wir alle, dass man uns Trost in Hülle und Fülle verkaufen will. Und damit gute Geschäfte macht. Ist es nicht tröstlich, dass es die Schokolade gibt, die uns einen schweren Tag versüßt? Ist es nicht tröstlich, dass es das Gläschen Wein gibt, in das man nach einer bekannten Schnulze seine Sorgen und seinen Kummer schütten kann? Ist es nicht tröstlich, dass es die Katze oder den Hund gibt, der uns mit seinen treuen Augen das Gefühl des Einsam-Seins vertreibt? Ist es nicht tröstlich, dass es die spannenden Fußballspiele gibt, die uns die harte Arbeit einer ganzen Woche oder die große Langeweile erträglich machen? Ist es nicht tröstlich, dass es immer wieder große Komödianten wie Hans Moser oder Walter Giller gibt, die ihr Publikum zu Stürmen der Begeisterung hinreißen? Ist es nicht tröstlich, dass uns jeder Krimi lehrt: am Ende wird der Mörder doch gefasst und die Weltordnung wiederhergestellt?
Nichts gegen die Schokolade und gegen das Gläschen Wein, nichts gegen die Katze oder den Hund, nichts gegen die spannenden Fußballspiele, nichts gegen die großen Komödianten oder gegen den Krimi! Aber bieten sie uns wirklich den Trost für das erwachsene Leben? Machen sie uns wirklich fähig zu trösten?
Trost für das erwachsene Leben bieten doch – wie in der Kindheit – die Menschen, die uns wie eine Mutter und wie ein Vater beistehen, wenn wir an unsere Grenzen stoßen und an unseren Grenzen leiden. Freunde und Freundinnen. Menschen, die uns ihre Liebe zeigen. Menschen, deren Haut wir spüren und deren Hand wir nehmen können. Menschen, die uns unsere Verantwortung und unser Geschick nicht abnehmen können und die uns dennoch Halt geben, weil sie uns zuhören und weil sie mitempfinden und weil sie vielleicht ein Wort finden, das Wunder wirkt und neuen Mut und neue Ich-Stärke verleiht: sogar den Lebensmut im Sterben. Ihre Güte ist tröstlich. Und indem uns ihre Nähe wohltut, ereignet sich Gottes Güte, die tröstlich ist. Gottes Güte, Gottes ewige Güte ereignet sich, indem uns Menschen trösten, wenn wir trostbedürftig sind.
Deshalb lautet die entscheidende Frage: wie werden wir fähig zu trösten? Wie werden wir einander zur Freundin und zum Freund? Wie werden wir fähig, einander die Liebe zu schenken, die an die Liebe der Mutter und an die Liebe des Vaters erinnert? Wie werden wir fähig zu trösten, die wir doch selbst – je älter wir werden – so trostbedürftig sind?
Auf diese Frage finden wir die angemessene Antwort, wenn wir bedenken, dass wir uns in das dichterische Wort des 69. Psalms und in das Lied Friedrich Spees eben in der Situation des Gottesdienstes am Sonntag Morgen, am Tag der Auferstehung und der Erscheinung Jesu Christi, vertiefen. Eben in der Situation des Gottesdienstes zeigt es sich: Es ist die Gewissheit der ewigen Güte Gottes, die uns – die wir selbst so trostbedürftig sind – fähig macht zu trösten. Hier sind es drei Schritte, mit denen wir zu dieser Gewissheit gelangen und immer wieder zu ihr finden.
IV
Der erste Schritt:
Wir werden dessen gewiss und wir bleiben dessen gewiss, dass Gottes Güte tröstlich ist, indem wir mit Gott im Gespräch bleiben.
Der 69. Psalm ist ja ein großes Gebet aus dem Psalter, aus Israels großem Gebetbuch. Auch das Gedicht Friedrich Spees ist – wie die meisten Lieder des Gesangbuchs – ein dichtes, ein gedichtetes Gespräch mit Gott. Diese Gespräche mit Gott sind für unser eigenes Sprechen mit Gott unendlich wichtig, weil sie unser eigenes Sprechen mit Gott im besten Sinne belehren und bereichern. Sie bewahren Erfahrungen: nicht nur schöne, sondern auch schreckliche; nicht nur erhebende, sondern auch bestürzende und niederschmetternde Erfahrungen. Ihre Lebenserfahrung legt uns Worte in den Verstand, ins Herz und in den Mund, in denen wir uns und unsere eigenen Erfahrungen unterbringen. Diese Gespräche mit Gott bezeugen uns, dass uns Gott in ewiger Güte hört und erhört. Und sobald und solange uns dieses ihr Zeugnis einleuchtet, werden wir es wagen, es beim Wort zu nehmen und damit Gott selbst beim Wort zu nehmen: „Erhöre mich, Gott, denn deine Güte ist tröstlich“! Unsere so überaus begrenzte Fähigkeit zu trösten hängt wohl davon ab, wie sorgsam und wie behutsam und wie unaufdringlich wir auf Gottes ewige Güte als den ersten und den letzten Grund allen Trostes verweisen.
Der zweite Schritt:
Wir werden dessen gewiss und wir bleiben dessen gewiss, dass Gottes Güte tröstlich ist, indem wir immer wieder einkehren in die Mahlgemeinschaft mit dem Christus Jesus selbst.
Was geht vor in dieser Mahlgemeinschaft? Nun, wir tun ja hier nichts anderes als schlicht und einfach miteinander das gesegnete Brot zu essen und aus dem gesegneten Kelch zu trinken. Hier sind wir und hier werden wir miteinander solidarisch, freundschaftlich, vertraut als Gäste an dem Tisch des Herrn. Als Gäste, die wir uns womöglich gar nicht kennen und die wir eilends in unsere verschiedenen Lebensrichtungen und in unsere verschiedenen Geschicke auseinander gehen werden. Was uns hier verbindet, ist die Gegenwart des Christus Jesus.
Es ist die Gegenwart des Menschen, in dessen Existenz der Ruf des 69. Psalms - „Erhöre mich, Gott, denn deine Güte ist tröstlich“ - seine Antwort findet; es ist die Gegenwart des Menschen, in dessen Existenz das Trostlose des Menschenlebens – eines jeden Menschenlebens – gesühnt und ausgesöhnt ist. In dieser seiner Gegenwart sind wir einander nahe über die Grenzen unserer Familie und unserer Freundschaft und unserer Liebe hinaus und hinweg. In der Gegenwart dieses Menschen erscheint uns Gottes ewige Güte wie die Güte einer Mutter und eines Vaters und wie ihre Hände, ihre Haut und ihre beruhigende Stimme. Und sie erscheint gerade so, dass sie Ferne und Fremde zueinander bringt. Es ist die Mahlgemeinschaft mit dem Christus Jesus selbst, die uns dazu bewegt und befähigt, über die Grenzen unserer Familie und unserer Freundschaft und unserer Liebe hinaus und hinweg Initiativen des Tröstens zu ergreifen.
Der dritte Schritt:
Wir werden dessen gewiss und wir bleiben dessen gewiss, dass Gottes Güte tröstlich ist, indem wir uns der Kraft des göttlichen Segens anvertrauen. Segnen kann nur Gott. Nur Gott segnet, weil Gott der Schöpfer ist: der Grund und Ursprung nicht nur unseres eigenen Lebens, sondern auch der Grund und Ursprung dieses ganzen ungeheuren Universums, dessen Anfang und dessen Dauer und dessen Ausdehnung niemand sich vorstellen kann. All dies – das eigene Leben im Ganzen dieses ungeheuren Universums – gibt es nur durch Gottes schöpferische Güte. Und weil es mich selbst im Ganzen dieses ungeheuren Universums durch Gottes schöpferische Güte gibt, ist mir und meinem Leben und Denken und Tun ein bleibender Sinn gegeben. Nichts ist vergeblich und nichts ist umsonst, was jemand in der Kraft des göttlichen Segens tut, der uns am Ende eines Gottesdienstes in die kommenden Werktage begleitet.
V
„Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt?“
Je älter wir werden, desto trostbedürftiger werden wir. Werden wir auch fähig zu trösten, wenn uns in einem einzelnen Fall das Trostlose des Menschenlebens anblickt? Wie werden wir und wie bleiben wir fähig, dem Trost der göttlichen Güte unsere Stimme und unseren Verstand und unsere Hände zu leihen?
Ich habe es gewagt, das dichterische Wort des 69. Psalms und das Lied Friedrich Spees auf die Erfahrung zu beziehen, die die Gemeinschaft mit und im Christus Jesus in der Situation des Gottesdienstes am Tag der Auferstehung und der Erscheinung des Gekreuzigten machen wird. Hier und jetzt ereignet sich der Trost, den wir so dringend brauchen und der uns so konsequent befähigt und bewegt zu trösten. Er ereignet sich, indem wir bleiben im Gespräch mit Gott. Er ereignet sich, indem wir einkehren in die Mahlgemeinschaft mit dem Christus Jesus selbst. Er ereignet sich, indem wir uns der Kraft des göttlichen Segens anvertrauen. Hier und jetzt sind wir in seinem Zentrum; von diesem Zentrum strahlt er aus – überallhin. Amen.
Predigt-Lied: „O Heiland, reiß die Himmel auf“ (EG 7)