Der Vorhang ist offen - Predigt zu Hebräer 10, 19-25 von Reiner Kalmbach
10,19-25

Der Vorhang ist offen!

In unseren Gottesdiensten, in der Liturgie und vor allem von der Kanzel aus, werfen wir des Öfteren mit Begriffen um uns, die nur von Insidern verstanden werden, und selbst diese haben manchmal Probleme sie in die aktuelle Wirklichkeit zu übertragen. Worte, Formeln an denen der Staub von Jahrhunderten klebt. Gottesdienste vorbereitet für Menschen die buchstäblich im Kirchenschiff aufgewachsen sind. Was aber, wenn jemand (zufällig?) durch die (offene) Tür hereinkommt, der dies alles nicht kennt, der vielleicht auf der Suche ist, der gerne dazugehören möchte...?

Diese Predigt entsteht im extremen Süden Argentiniens, dort wo man es „Patagonien“ nennt, dort wo die Menschen die zu unseren Gottesdiensten kommen, rein gar nichts mit Begriffen anfangen können, die irgendwann einmal in den Tiefen der Kirchengeschichte entstanden sind. Eine Kirche die sich, um nicht von ihr verschluckt zu werden, der Welt geöffnet hat, eine Kirche die in letzter Zeit immer wieder die eine Frage stellt: weshalb existieren wir eigentlich?, wie können wir diese Existenz rechtfertigen? Die christliche Kirche, und damit die christliche Gemeinde, ist für die Menschen da, in ihr soll die Welt sehen woher sie kommt und nach wessen Pfeife sie tanzt. In anderen Worten: die Kirche existiert nicht um ihrer selbst Willen, sondern um...Gottes Willen..., und damit um der Menschen Willen...

Das Wort das uns für heute gegeben ist, gehört zu jenen die erst einmal übersetzt sein wollen. Wir lesen und hören Worte die wir nicht verstehen können, ihre Bedeutung verbirgt sich..., ja wie hinter einem dicken und schweren Vorhang. Gleichzeitig erwacht in uns der Wunsch, vielleicht sogar eine Art Sehnsucht, zu „sehen“, was sich hinter dem Vorhang verbirgt.

Dieses Wort steht im Brief an die Hebräer, im 10. Kapitel, die Verse 19 bis 25

(Textlesung)

Der geschlossene Vorhang

Das ist wie im Theater: die Sitzreihen füllen sich, noch hört man Gemurmel, dann wird es langsam dunkler, das Gemurmel leiser..., die Lichter erlöschen vollends und dann..., Stille, die Spannung steigt...

Eigentlich könnte es jetzt losgehen, der Vorhang zur Seite gezogen..., aber vorläufig geschieht noch nichts, man hört vereinzeltes Hüsteln... Das ist mir einmal passiert, wir sassen gute fünfzehn Minuten..., im dunkeln...und in der Stille. Später erfuhren wir, dass man hinter den Kulissen auf den Hauptdarsteller wartete, er hatte verschlafen.

Auch hier und heute gibt es einen Hauptdarsteller, ohne ihn geht es einfach nicht. Das Stück spielt im Alten Testament, nein, eigentlich stimmt das nicht, so kann man es nicht sagen... In den Gedanken der Menschen an die dieser Brief (an die Hebräer) gerichtet ist, lebt das Alte Testament weiter. Und das, obwohl sie jetzt Christen sind. Es ist eben schwer, sich von Altbewährtem zu lösen. Was man mir von Kindesbeinen beigebracht hat, das vergesse ich nie, es ist ein Teil von mir geworden. Ich lebe ungefähr 15.000 km von meinem Elternhaus entfernt, habe manche der hiesigen Lebensgewohnheiten lieben und schätzen gelernt..., und dennoch bin und bleibe ich Schwabe, und das mit Stolz (aber das ist ein anderes Thema).

Der Verfasser des Briefes will es seinen Lesern und Hörern leicht machen. Er knüpft da an, wo sie sich auskennen, eben in der Welt des Altes Testaments. Für sie gibt es keinen direkten Zugang zu Gott, das ist undenkbar! Aber eben diese uralte Glaubenserfahrung hat ihnen den Zugang zu dem ermöglicht, was sich hinter dem Vorhang befindet. So wie der Brief zu ihnen spricht, verstehen sie sofort...

Seit der Mensch existiert sucht er einen Zugang zum Göttlichen. Dass ihm dies verwehrt ist, spürt er sehr schnell. Gott, oder eben das was er für Gott hält, oder dazu ernannt hat, ist einfach zu weit weg, zu gross, zu mächtig, zu furchtbar, als dass man sich ihm, einfach so, nähern könnte. Also braucht´s „Vermittler“, Menschen die über besondere Gaben verfügen, Menschen die zu Vermittlern ernannt, auserwählt, berufen sind. Nur sie und nur sie haben Zugang zum „Allerheiligsten“. Diese Priester, besser gesagt, „Hohepriester“ haben natürlich sehr viel Macht, manchmal sogar politische Macht.

Um es ganz klar zu sagen: so hat Religion immer schon funktioniert.

In unserem Abschnitt wird das Bild des Tempels in Jerusalem beschrieben, seine Unterteilung in Räume die den Gläubigen zugänglich waren, und solche die nur den Priestern vorbehalten blieben. Und dann das Bild des Vorhangs, der die „weltliche“ Welt von der „jenseitigen“ trennt, dem „Allerheiligsten“. Kein Normalsterblicher hatte je Zugang zu diesem Geheimnis. Denn dieses Geheimnis war Gott, der Unnahbare, der Gewaltige, der Allmächtige...

Und der Mensch?, um diesem Gott gerecht zu werden, muss er seine Gebote erfüllen, er bringt Opfer, strengt sich ein Leben lang an, ein „guter“ Jude, ein guter Christ, ein guter Moslem, ein guter...zu sein..., er versucht den Willen dieses Gottes zu ergründen...Trotzdem, trotz aller Anstrengung, auch wenn er vor der Welt und vor Gott eine reine Weste vorzeigen kann, zwischen ihm und diesem Gott ist der Vorhang.

Wenn ich nun unsere gesellschaftliche Wirklichkeit anschaue, ganz besonders hier in Lateinamerika, dann stelle ich fest, dass wir von diesem Denken so weit gar nicht entfernt sind.

Und gerade deshalb ist dieser Brief an uns gerichtet.

Der Vorhang ist gefallen

Jesus wird uns als der wahre Hohepriester vorgestellt. In ihm offenbart sich der „Unterschied“, in ihm löst sich das Bisherige auf, um etwas Neuem Raum zu geben. Jesus erscheint in der Geschichte der Menschheit, auf der Bühne der Menschheitsgeschichte, und zieht der Vorhang zur Seite. Und nun ruft er uns zu: „...kommt, es ist alles bereit!“, er nimmt uns an der Hand und zusammen mit ihm durchschreiten wir die bisher unbetretbaren Räume. Nichts trennt uns mehr vom Allerheiligsten, die Eintrittsbedingungen sind längst erfüllt, der Hauptdarsteller „riss“ den Himmel für uns auf.

Das Kreuz ist unsere Eintrittskarte, ER hat sie für uns bezahlt, wir konnten, wir mussten nichts dazu legen. Auch das ist „religiöse“ Sprache, aber wir spüren, um was es geht, jeder muss es für sich selbst übersetzen: Jesus ist mein Hohepriester, mit ihm zusammen darf ich die geheimnisschweren, einst dunklen Räume durchschreiten, sie sind jetzt von einem hellen Licht durchflutet..., keine Schatten mehr..., an Jesu Hand spüre ich die Gegenwart Gottes.

Und wenn wir gerade vom „an der Hand nehmen“ sprechen: in unserer Gemeinde leben wir dies ganz konkret mitten im Gottesdienst und an jedem Sonntag. Beim Gebet nehmen wir uns an der Hand, wir stehen in der Gemeinschaft mit Gott und mit unserem Nächsten. Der Brief ist an eine Gemeinde geschrieben, die Gemeinschaft derer die nicht (mehr) demütig und respektvoll vor dem Vorhang Abstand hält, sondern Menschen die sich in einem Raum zusammenfinden, um die Anwesenheit Gottes zu feiern. ER mitten unter ihnen, nicht die hier und ER dort, sondern eben Gemeinschaft. Der Glaube lebt von Erfahrungen im Hier und im Jetzt. Entweder ist Gott bei uns, mit uns, oder es bleibt alles leeres Geschwätz, Ritus.

Denn es ist ja nicht so, dass wir den Vorhang zur Seite gezogen hätten, ER hat es getan, ER hat sich uns offenbart, sich uns gezeigt..., weil er bei uns sein wollte. Ja, es ist noch viel stärker, noch viel tiefer!, wir können nichts tun, um zu ihm zu kommen, jeglicher Versuch ist zum scheitern verurteilt. Martin Luther hat das in seinem eigenen Christenleben durchgemacht und viele von uns versuchen dies immer und immer wieder..., „der Himmel kann doch nicht umsonst sein..., ich muss doch etwas dazu tun...!“

ER kommt zu uns! Dies ist die Botschaft die uns diese Zeit, die wir heute beginnen, nahebringen will.

Für viele Menschen existiert immer noch der schwere und dunkle Vorhang. Sie sehen und spüren ihn in sich drin....Vielleicht sieht man deshalb in den Gottesdiensten so viele ernste Gesichter und so wenige die Freude, Hoffnung und Liebe ausstrahlen...

Advent will uns helfen zu entdecken, mit allen Sinnen zu „sehen“, dass da nichts mehr ist, was uns trennt..., mich...von Gott.

Heute beginnt für uns ein Rundgang durchs Allerheiligste. Wir bestaunen die Räume, werden immer stiller, langsam erkennen wir, langsam gewöhnen wir uns an das Licht das immer heller wird.

Und dann kommen wir an, und dann sehen wir...die Krippe.

Amen.

Perikope
01.12.2013
10,19-25