"Der Vorläufer" - Predigt über Johannes 1, 29-34 von Matthias Wolfes
1,29
"Der Vorläufer" - Predigt über Johannes 1, 29-34 von Matthias Wolfes
Der Vorläufer
„Des andern Tages sieht Johannes Jesum zu ihm kommen und spricht: Siehe, das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt! Dieser ist’s, von dem ich gesagt habe: Nach mir kommt ein Mann, welcher vor mir gewesen ist; denn er war eher denn ich. Und ich kannte ihn nicht; sondern auf daß er offenbar würde in Israel, darum bin ich gekommen, zu taufen mit Wasser.
Und Johannes zeugte und sprach: Ich sah, daß der Geist herabfuhr wie eine Taube vom Himmel und blieb auf ihm. Und ich kannte ihn nicht; aber der mich sandte, zu taufen mit Wasser, der sprach zu mir: Auf welchen du sehen wirst den Geist herabfahren und auf ihm bleiben, der ist’s, der mit dem heiligen Geist tauft. Und ich sah es und zeugte, daß dieser ist Gottes Sohn.“
Liebe Gemeinde,
Johannes der Täufer – um ihn geht es. Er gibt sein Zeugnis, und dieses Geben ist mindestens ebenso wichtig, wie das Zeugnis selbst.
Johannes ist der, der vorausweist. Er ebnet dem wirklichen Menschen die Bahn. Mit Jesus kann sich kein Christ irgendwie gleichsetzen. Aber was den Täufer betrifft, so verhält es sich vielleicht etwas anders. Auch bei ihm kann, selbst nur im Sinne der Anschaulichkeit, von Sich-Gleichsetzen natürlich keine Rede sein, das ist klar. Dafür sind ja allein auch schon die Züge viel zu fremd, mit denen er beschrieben wird. Johannes war ein Prediger in der Wüste. Es fallen einem Stichworte ein wie Askese, Einsamkeit, unbedingte Hingabe an die Aufgabe. Seine Bußpredigt ist äußerst hart. Auf der anderen Seite ist es gerade diese schroffe Härte, diese Radikalität, die ihn ja auch wieder anziehend macht.
Im Rufen zu Buße, Umkehr und Neuordnung des Lebens erscheint er so, wie wir ihn gewöhnlich kennen. Das verbinden wir mit seinem Namen. Er war außerdem derjenige, der Jesus am Jordan getauft hat und der damit auf gewisse Weise am Anfang des Weges Jesu steht. Die Taufe Jesu wird als spektakuläres Ereignis geschildert, allerdings spektakulär vor allem für uns, die wir jetzt die gläubigen Berichte davon vor uns haben. Was damals überhaupt erkennbar gewesen ist, bleibt offen.
Folgen wir aber den Worten des vierten Evangelisten, so scheint es, als wenn sich das ganze Taufgeschehen im Grunde um des Johannes willen zugetragen habe. Er ist der Adressat der Inszenierung. Man könnte meinen, Gott habe den Geist extra auf Jesus herabfahren lassen, um dem Johannes die Augen zu öffnen. Und nun, nach diesem offenbarungsartigen Ereignis, kann Johannes eben nicht länger sagen: „Ich kannte ihn nicht“. Denn nun weiß er, um wen es sich handelt: Um den, der mit dem heiligen Geist tauft, und eben nicht nur mit Wasser, so wie Johannes selbst es getan hat.
Es ist die geschichtliche Rolle des Vorläufers, den Weg zu bereiten für den eigentlich Wichtigen. Johannes der Täufer bereitet dem Messias den Weg, er klärt die Lage, ruft eine gewisse Unruhe hervor, in die hinein dann der Angekündigte seinen Auftritt hat. –
Diese Vorläufer haben auf mich immer einen starken Eindruck gemacht. Im Horizont des Christentums und der christlichen Geschichte ist der Täufer die markanteste dieser Gestalten. Aber es gab ja auch die Vorreformatoren, es gab stets einzelne Versprengte, die irgendwie aus der Ordnung fielen und denen es oblag, auf Kommendes ahnungsvoll vorauszuweisen. In ihnen ist die Kraft des Neuen noch nicht zur Entfaltung gekommen, aber man kann es doch bereits deutlich spüren.
Heute haben wir mit unserem Predigttext die Gelegenheit, einen Schritt zurück zu tun hinter das, was uns sonst meist beschäftigt. Lassen Sie uns diese Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen, sie kann uns einiges sagen über den Reichtum des Glaubens und auch unseres Lebens mit und in dem Glauben.
Heute geht es um die Vorgeschichte, es geht um das Noch-Nicht. Wir haben soeben wieder die Weihnachtszeit erlebt und die Zeit des Advents. Für mich ist das immer die ganz besonders schöne Zeit, eben weil sie eine Zeit des Noch-Nicht ist. Eines „Noch-Nicht“, dessen Erfüllung sich unweigerlich einstellen wird und das deshalb voller Gewicht ist und uns mit zuverlässiger Erwartung erfüllt. Ich weiß, daß das Kommende eintreten wird. Das, wovon die Erwartung spricht, wird wirklich werden. Aber das Entscheidende ist: Es ist eben noch nicht wirklich geworden; sein Wirklich-Werden steht noch aus – darin liegt der Zauber des Noch-Nicht. Oder, um es noch einmal in anderen Worten zu sagen: Das Werden ist noch nicht zum Sein geronnen, sondern es ist ganz es selbst. Alles das, was ist, ist ja bereits in einen festen Zustand übergegangen, während es als Werdendes eben noch auf diesen Zustand hin unterwegs ist. Vielleicht besteht überhaupt sein Wesen darin, immer auf diesen Zustand hin unterwegs zu sein: das beträfe etwa uns selbst in unserem Dasein. Als Christen sind wir immer unterwegs, unser ganzes Leben ist ein Werden auf das hin, was wir noch nicht sind, was wohl Gott schon im Moment unserer Entstehung bei sich gesehen und gewollt hat, was zu werden aber eben die Aufgabe unseres Lebens ist.
Auch wir selbst, als solche, die „unterwegs“ sind, gehören also strenggenommen zu jenen Vorläufern. Vielleicht ist es auch deshalb, daß man immer wieder hören kann, eine Gestalt wie Johannes der Täufer sei doch eigentlich noch interessanter. In dem, was dem Eigentlichen vorausgeht, ist eben das ganze Potential der Hoffnung enthalten und unversehrt bewahrt, es ist noch nicht abgeschliffen, enttäuscht von der realen Gestalt. Erwartung und Enttäuschung stehen ja, wer wüßte das nicht, in unlösbarer Verbundenheit nebeneinander. Jeder Vorläufer muß sich ja stets fragen: Ist er es, dem ich den Weg bereite, trügt mich der Augenschein nicht, gehe ich fehl?
In unserem Text allerdings wird jeder Zweifel behoben, der sich etwa des Johannes bemächtigt hat. „Und ich sah es und zeugte, daß dieser ist Gottes Sohn.“ Doch es nimmt sehr für ihn ein, wenn er zuvor die Unschlüssigkeit und das Unwissen offen eingesteht, als für ihn noch galt: „Ich erkannte ihn nicht.“
Man kann es bedauern, daß die Evangelien so wenig über den Täufer mitteilen. Er war ja doch ebenfalls, wie Jesus, eine von Gott erleuchtete Gestalt. Jeder Zug ist da von äußerstem Wert. Eine fiktive Konstruktion kann nicht weiterhelfen, obwohl ich alle gut verstehe, die an dieser Stelle mit Hilfe ihrer Phantasie einen Schritt weitergehen.
Für manche ist Johannes geradezu eine Art „Lieblingsgestalt“. Das hat wohl auch etwas mit der Eigenart ihrer eigenen Religiosität und ihres Jesusbildes zu tun. Vor Jesus selbst empfinden sie eine gewisse Scheu. Und in der Tat wüßte man wohl nicht so recht zu sagen, wie man sich überhaupt ihm gegenüber verhalten sollte, falls es über Raum und Zeit hinweg zu einer Begegnung mit ihm – ich meine der historischen Gestalt – kommen sollte. Gerade das Unnahbare, das, wenn Sie so wollen, „Heilige“, wäre doch wohl wie eine unsichtbare Wand zwischen einem selbst und ihm.
Rigoros, unerbittlich, unnahbar war nun sicher auch der Täufer, vielleicht sogar noch mehr als Jesus in seiner ganzen Abgeschiedenheit und zivilisationsfeindlichen Attitüde. Und doch ließe sich hier vielleicht eine Verbindung finden. Es wäre eben doch anders, und eine Begegnung mit dem Johannes ließe sich dann eben doch machen. Jesus als Zentralgestalt des Christentums verliert nichts, wenn man über Johannes, den Täufer, nachdenkt und sich ihm irgendwie näher fühlt als jenem, dessen Licht so blendend hell leuchtet.
Was nun die Worte betrifft, die er in unserem Abschnitt spricht, so können wir nicht darüber hinwegsehen, daß auch hier der Evangelist Johannes der Gestalter ist. Vergleichen wir die Passage mit den entsprechenden in den anderen drei Evangelien, dann spüren wir den ganz anderen Klang, die theologische Färbung. Aus dem Gesagten ragt heraus die Bezeichnung Jesu als des „Lammes Gottes“. Hier handelt es sich um ein Signalwort. Man hat es von daher zu verstehen gesucht, daß in der Sprache des Johannes und auch Jesu, dem Aramäischen, das Wort für „Lamm“ zugleich „Knecht“ bedeutet, und das ist in der Tat ein wichtiger Hinweis. Dann wäre mit dem Wort des Täufers zugleich ein Bezug zu dem Gottesknecht des Propheten Jesaja (Kap. 53 u.a.) hergestellt, in dem es ja um den leidenden Gerechten geht und der allgemein in der christlichen Tradition als prophetische Vorausweisung auf Jesus gedeutet wird.
Der Prophet also gleichsam als erster Vorläufer, während Johannes dann später dessen Werk fortführt und bis zum Endpunkt vollendet, nämlich bis zur unmittelbaren Ankunft des Vorausgesagten.
Ziehen wir allerdings weitere Stellen aus den neutestamentlichen Schriften heran, dann erscheint das Lamm des Täufers doch eher noch in einem anderen Licht. Denn ähnlich wir Paulus und der Verfasser des Ersten Petrusbriefes dürfte der Evangelist Johannes hier meinen, daß Jesus die Bedeutung des wahren Passahlammes trägt. Die theologische Aussage ist dann: Jesus ist das von Gott gestiftete wahre Passahlamm, und sein Tod schafft – gemäß dem jüdischen Opferkult – stellvertretend Sühne für die Sünden der Menschen.
Man wird nicht leugnen können, daß der Evangelist an dieser Stelle mit der Vorläufergestalt mehr verbindet, als ihr eigentlich zukommt. Er macht den Täufer zum Prediger der Christusbotschaft. Die aber ist erst in späterer Zeit ausgebildet worden. Im übrigen steht diese Deutung Christi keineswegs einzig da im Reigen der neutestamentlichen Deutungen seines Heilswerkes. Deshalb wollen wir auch die Bedeutung hier nicht überschätzen, die sie im Blick auf den Vorläufer, den Täufer Johannes hat. Mit ihm ist in erster Linie verbunden der zu sein, der dem eigentlich Gemeinten vorangeht. Nicht aber kann es seine Aufgabe sein, ihm theologisch sozusagen das Nachwort zu sprechen oder als fiktive Gestalt zu dienen, der ein solches Nachwort in den Mund gelegt wird.
Das Faszinierende finden wir an anderer Stelle: Er ist der, der im Vorfeld steht, der die Ahnung hat, durchdrungen ist von der Erwartung und der mit allen Kräften, mit ganzer Seele und aus vollem Herzen seiner Hoffnung Ausdruck gibt auf den, der kommen wird. Das ist das Einmalige an ihm, und gerade darin fühlen wir uns ihm nahe, ja, in unserem Glauben, unserem Vertrauen auf Gott sind wir ihm darin innig verwandt und ähnlich.
Christus ist die erhabene Gestalt, der Gottessohn, um so unnahbarer, je gewichtiger ihn die theologischen Prädikate machen. Der Täufer aber steht uns nahe und wir ihm, mag er ein noch so seltsamer Mensch gewesen sein. Deshalb stimmen wir auch mit ein in sein Zeugnis, wenn er aus tiefster Erkenntnis der Wirksamkeit Gottes aller Welt bekannte: „Und ich sah es und bezeugte es.“
Amen.
Herangezogene Medien:
Rudolf Bultmann: Das Evangelium des Johannes. 19. Auflage (Unveränderter Nachdruck der 10. Auflage) (Kritisch-Exegetischer Kommentarüber das Neue Testament. Abteilung 2), Göttingen 1968.
Jürgen Becker: Das Evangelium nach Johannes. Kapitel 1 – 10. Dritte, überarbeitete Auflage (Ökumenischer Taschenbuch-Kommentar zum neuen Testament. Band 4 / 1), Gütersloh 1991.
„Des andern Tages sieht Johannes Jesum zu ihm kommen und spricht: Siehe, das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt! Dieser ist’s, von dem ich gesagt habe: Nach mir kommt ein Mann, welcher vor mir gewesen ist; denn er war eher denn ich. Und ich kannte ihn nicht; sondern auf daß er offenbar würde in Israel, darum bin ich gekommen, zu taufen mit Wasser.
Und Johannes zeugte und sprach: Ich sah, daß der Geist herabfuhr wie eine Taube vom Himmel und blieb auf ihm. Und ich kannte ihn nicht; aber der mich sandte, zu taufen mit Wasser, der sprach zu mir: Auf welchen du sehen wirst den Geist herabfahren und auf ihm bleiben, der ist’s, der mit dem heiligen Geist tauft. Und ich sah es und zeugte, daß dieser ist Gottes Sohn.“
Liebe Gemeinde,
Johannes der Täufer – um ihn geht es. Er gibt sein Zeugnis, und dieses Geben ist mindestens ebenso wichtig, wie das Zeugnis selbst.
Johannes ist der, der vorausweist. Er ebnet dem wirklichen Menschen die Bahn. Mit Jesus kann sich kein Christ irgendwie gleichsetzen. Aber was den Täufer betrifft, so verhält es sich vielleicht etwas anders. Auch bei ihm kann, selbst nur im Sinne der Anschaulichkeit, von Sich-Gleichsetzen natürlich keine Rede sein, das ist klar. Dafür sind ja allein auch schon die Züge viel zu fremd, mit denen er beschrieben wird. Johannes war ein Prediger in der Wüste. Es fallen einem Stichworte ein wie Askese, Einsamkeit, unbedingte Hingabe an die Aufgabe. Seine Bußpredigt ist äußerst hart. Auf der anderen Seite ist es gerade diese schroffe Härte, diese Radikalität, die ihn ja auch wieder anziehend macht.
Im Rufen zu Buße, Umkehr und Neuordnung des Lebens erscheint er so, wie wir ihn gewöhnlich kennen. Das verbinden wir mit seinem Namen. Er war außerdem derjenige, der Jesus am Jordan getauft hat und der damit auf gewisse Weise am Anfang des Weges Jesu steht. Die Taufe Jesu wird als spektakuläres Ereignis geschildert, allerdings spektakulär vor allem für uns, die wir jetzt die gläubigen Berichte davon vor uns haben. Was damals überhaupt erkennbar gewesen ist, bleibt offen.
Folgen wir aber den Worten des vierten Evangelisten, so scheint es, als wenn sich das ganze Taufgeschehen im Grunde um des Johannes willen zugetragen habe. Er ist der Adressat der Inszenierung. Man könnte meinen, Gott habe den Geist extra auf Jesus herabfahren lassen, um dem Johannes die Augen zu öffnen. Und nun, nach diesem offenbarungsartigen Ereignis, kann Johannes eben nicht länger sagen: „Ich kannte ihn nicht“. Denn nun weiß er, um wen es sich handelt: Um den, der mit dem heiligen Geist tauft, und eben nicht nur mit Wasser, so wie Johannes selbst es getan hat.
Es ist die geschichtliche Rolle des Vorläufers, den Weg zu bereiten für den eigentlich Wichtigen. Johannes der Täufer bereitet dem Messias den Weg, er klärt die Lage, ruft eine gewisse Unruhe hervor, in die hinein dann der Angekündigte seinen Auftritt hat. –
Diese Vorläufer haben auf mich immer einen starken Eindruck gemacht. Im Horizont des Christentums und der christlichen Geschichte ist der Täufer die markanteste dieser Gestalten. Aber es gab ja auch die Vorreformatoren, es gab stets einzelne Versprengte, die irgendwie aus der Ordnung fielen und denen es oblag, auf Kommendes ahnungsvoll vorauszuweisen. In ihnen ist die Kraft des Neuen noch nicht zur Entfaltung gekommen, aber man kann es doch bereits deutlich spüren.
Heute haben wir mit unserem Predigttext die Gelegenheit, einen Schritt zurück zu tun hinter das, was uns sonst meist beschäftigt. Lassen Sie uns diese Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen, sie kann uns einiges sagen über den Reichtum des Glaubens und auch unseres Lebens mit und in dem Glauben.
Heute geht es um die Vorgeschichte, es geht um das Noch-Nicht. Wir haben soeben wieder die Weihnachtszeit erlebt und die Zeit des Advents. Für mich ist das immer die ganz besonders schöne Zeit, eben weil sie eine Zeit des Noch-Nicht ist. Eines „Noch-Nicht“, dessen Erfüllung sich unweigerlich einstellen wird und das deshalb voller Gewicht ist und uns mit zuverlässiger Erwartung erfüllt. Ich weiß, daß das Kommende eintreten wird. Das, wovon die Erwartung spricht, wird wirklich werden. Aber das Entscheidende ist: Es ist eben noch nicht wirklich geworden; sein Wirklich-Werden steht noch aus – darin liegt der Zauber des Noch-Nicht. Oder, um es noch einmal in anderen Worten zu sagen: Das Werden ist noch nicht zum Sein geronnen, sondern es ist ganz es selbst. Alles das, was ist, ist ja bereits in einen festen Zustand übergegangen, während es als Werdendes eben noch auf diesen Zustand hin unterwegs ist. Vielleicht besteht überhaupt sein Wesen darin, immer auf diesen Zustand hin unterwegs zu sein: das beträfe etwa uns selbst in unserem Dasein. Als Christen sind wir immer unterwegs, unser ganzes Leben ist ein Werden auf das hin, was wir noch nicht sind, was wohl Gott schon im Moment unserer Entstehung bei sich gesehen und gewollt hat, was zu werden aber eben die Aufgabe unseres Lebens ist.
Auch wir selbst, als solche, die „unterwegs“ sind, gehören also strenggenommen zu jenen Vorläufern. Vielleicht ist es auch deshalb, daß man immer wieder hören kann, eine Gestalt wie Johannes der Täufer sei doch eigentlich noch interessanter. In dem, was dem Eigentlichen vorausgeht, ist eben das ganze Potential der Hoffnung enthalten und unversehrt bewahrt, es ist noch nicht abgeschliffen, enttäuscht von der realen Gestalt. Erwartung und Enttäuschung stehen ja, wer wüßte das nicht, in unlösbarer Verbundenheit nebeneinander. Jeder Vorläufer muß sich ja stets fragen: Ist er es, dem ich den Weg bereite, trügt mich der Augenschein nicht, gehe ich fehl?
In unserem Text allerdings wird jeder Zweifel behoben, der sich etwa des Johannes bemächtigt hat. „Und ich sah es und zeugte, daß dieser ist Gottes Sohn.“ Doch es nimmt sehr für ihn ein, wenn er zuvor die Unschlüssigkeit und das Unwissen offen eingesteht, als für ihn noch galt: „Ich erkannte ihn nicht.“
Man kann es bedauern, daß die Evangelien so wenig über den Täufer mitteilen. Er war ja doch ebenfalls, wie Jesus, eine von Gott erleuchtete Gestalt. Jeder Zug ist da von äußerstem Wert. Eine fiktive Konstruktion kann nicht weiterhelfen, obwohl ich alle gut verstehe, die an dieser Stelle mit Hilfe ihrer Phantasie einen Schritt weitergehen.
Für manche ist Johannes geradezu eine Art „Lieblingsgestalt“. Das hat wohl auch etwas mit der Eigenart ihrer eigenen Religiosität und ihres Jesusbildes zu tun. Vor Jesus selbst empfinden sie eine gewisse Scheu. Und in der Tat wüßte man wohl nicht so recht zu sagen, wie man sich überhaupt ihm gegenüber verhalten sollte, falls es über Raum und Zeit hinweg zu einer Begegnung mit ihm – ich meine der historischen Gestalt – kommen sollte. Gerade das Unnahbare, das, wenn Sie so wollen, „Heilige“, wäre doch wohl wie eine unsichtbare Wand zwischen einem selbst und ihm.
Rigoros, unerbittlich, unnahbar war nun sicher auch der Täufer, vielleicht sogar noch mehr als Jesus in seiner ganzen Abgeschiedenheit und zivilisationsfeindlichen Attitüde. Und doch ließe sich hier vielleicht eine Verbindung finden. Es wäre eben doch anders, und eine Begegnung mit dem Johannes ließe sich dann eben doch machen. Jesus als Zentralgestalt des Christentums verliert nichts, wenn man über Johannes, den Täufer, nachdenkt und sich ihm irgendwie näher fühlt als jenem, dessen Licht so blendend hell leuchtet.
Was nun die Worte betrifft, die er in unserem Abschnitt spricht, so können wir nicht darüber hinwegsehen, daß auch hier der Evangelist Johannes der Gestalter ist. Vergleichen wir die Passage mit den entsprechenden in den anderen drei Evangelien, dann spüren wir den ganz anderen Klang, die theologische Färbung. Aus dem Gesagten ragt heraus die Bezeichnung Jesu als des „Lammes Gottes“. Hier handelt es sich um ein Signalwort. Man hat es von daher zu verstehen gesucht, daß in der Sprache des Johannes und auch Jesu, dem Aramäischen, das Wort für „Lamm“ zugleich „Knecht“ bedeutet, und das ist in der Tat ein wichtiger Hinweis. Dann wäre mit dem Wort des Täufers zugleich ein Bezug zu dem Gottesknecht des Propheten Jesaja (Kap. 53 u.a.) hergestellt, in dem es ja um den leidenden Gerechten geht und der allgemein in der christlichen Tradition als prophetische Vorausweisung auf Jesus gedeutet wird.
Der Prophet also gleichsam als erster Vorläufer, während Johannes dann später dessen Werk fortführt und bis zum Endpunkt vollendet, nämlich bis zur unmittelbaren Ankunft des Vorausgesagten.
Ziehen wir allerdings weitere Stellen aus den neutestamentlichen Schriften heran, dann erscheint das Lamm des Täufers doch eher noch in einem anderen Licht. Denn ähnlich wir Paulus und der Verfasser des Ersten Petrusbriefes dürfte der Evangelist Johannes hier meinen, daß Jesus die Bedeutung des wahren Passahlammes trägt. Die theologische Aussage ist dann: Jesus ist das von Gott gestiftete wahre Passahlamm, und sein Tod schafft – gemäß dem jüdischen Opferkult – stellvertretend Sühne für die Sünden der Menschen.
Man wird nicht leugnen können, daß der Evangelist an dieser Stelle mit der Vorläufergestalt mehr verbindet, als ihr eigentlich zukommt. Er macht den Täufer zum Prediger der Christusbotschaft. Die aber ist erst in späterer Zeit ausgebildet worden. Im übrigen steht diese Deutung Christi keineswegs einzig da im Reigen der neutestamentlichen Deutungen seines Heilswerkes. Deshalb wollen wir auch die Bedeutung hier nicht überschätzen, die sie im Blick auf den Vorläufer, den Täufer Johannes hat. Mit ihm ist in erster Linie verbunden der zu sein, der dem eigentlich Gemeinten vorangeht. Nicht aber kann es seine Aufgabe sein, ihm theologisch sozusagen das Nachwort zu sprechen oder als fiktive Gestalt zu dienen, der ein solches Nachwort in den Mund gelegt wird.
Das Faszinierende finden wir an anderer Stelle: Er ist der, der im Vorfeld steht, der die Ahnung hat, durchdrungen ist von der Erwartung und der mit allen Kräften, mit ganzer Seele und aus vollem Herzen seiner Hoffnung Ausdruck gibt auf den, der kommen wird. Das ist das Einmalige an ihm, und gerade darin fühlen wir uns ihm nahe, ja, in unserem Glauben, unserem Vertrauen auf Gott sind wir ihm darin innig verwandt und ähnlich.
Christus ist die erhabene Gestalt, der Gottessohn, um so unnahbarer, je gewichtiger ihn die theologischen Prädikate machen. Der Täufer aber steht uns nahe und wir ihm, mag er ein noch so seltsamer Mensch gewesen sein. Deshalb stimmen wir auch mit ein in sein Zeugnis, wenn er aus tiefster Erkenntnis der Wirksamkeit Gottes aller Welt bekannte: „Und ich sah es und bezeugte es.“
Amen.
Herangezogene Medien:
Rudolf Bultmann: Das Evangelium des Johannes. 19. Auflage (Unveränderter Nachdruck der 10. Auflage) (Kritisch-Exegetischer Kommentarüber das Neue Testament. Abteilung 2), Göttingen 1968.
Jürgen Becker: Das Evangelium nach Johannes. Kapitel 1 – 10. Dritte, überarbeitete Auflage (Ökumenischer Taschenbuch-Kommentar zum neuen Testament. Band 4 / 1), Gütersloh 1991.
Perikope
Datum 13.01.2013
Reihe: 2012/2013 Reihe 5
Bibelbuch: Johannes
Kapitel / Verse: 1,29
Wochenlied: 68 441
Wochenspruch: Röm 8,14
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