"Der zweifache Schrei" - Predigt über Matthäus 27, 51-54 von Rolf Wischnath
27,51
Der zweifache Schrei
  
  Der Bericht vom Tod Jesu, wie ihn der erste Evangelist gibt (Matthäus 27, 33-50), soll in diesem Jahr von den evangelischen Kanzeln gepredigt werden. In Klammern setzt der EKD-Predigtplan – also nur als „Möglichkeit“  – die Verse 51 – 54. Ich habe über diese Verse noch nie eine Predigt gehört und selber in vierzig Jahren auch nicht darüber gepredigt. Nun entdecke ich Überraschendes:
  
  Unter dem Kreuz des gekreuzigten Jesus wurde nach dem Zeugnis des Matthäus nicht (wie etwa in der Passion Bachs) gesungen und gebetet. Vielmehr ist ein zweifacher Schrei zu hören. Es ist zunächst der Schrei, mit dem Jesus aufschreit und den Psalm 22 betet: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ – Genauer muss es heißen „Auf was hin?“ Oder: „Worauf hin hast Du mich verlassen?“ Nicht nach dem „Grund“, sondern nach dem „Ziel“ fragt der Schreiende (V. 46). Dieser Gebetschrei ist oft verstanden worden als Ausdruck letzter Verzweiflung, in welcher der Gekreuzigte tatsächlich gänzlich von Gott verlassen gewesen sei und er nun auch seinen Glauben an Gott verloren hätte. Ich meine, dass es so nicht ist:
  
  So wie wir es von einem Beter sagen: „Der betet das Vaterunser“ und wissen, dass dieser nicht nur die erste Zeile, sondern das ganze Vaterunser spricht, so ruft Jesus hier (in rabbinischer Art) mit dem Beginn des Psalms 22 den ganzen Psalm.
  
  Es ist nun aber der Psalm 22 zunächst in seinem ersten Teil ein Psalm aus tiefster Tiefe
  
  -              „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ (V. 1);
  -              „ich aber bin ein Wurm und kein Mensch“ (V. 7)
  -              „sei nicht ferne von mir, denn die Not ist nahe, keiner ist da, der hilft“ (V. 12)
  -              „Mein Gott, mein Gott warum bist du fern meiner Rettung,
  den Worten meiner Klage?
  
  Dann jedoch ist der Psalm von Vers 22 an („Du hast mich erhört“) – im Umbruch - ein Psalm aus höchster Höhe, ein Psalm äußersten Vertrauens, ja des Jubels über Gottes Rettungstat:
  
  -              „doch meine Seele, ihm lebt sie“ (V. 30)
  -              „die nach dem Herrn fragen, werden ihn preisen“; (V.27)
  -              „euer Herz soll ewiglich leben“ (V. 27);
  -              „des Herrn ist das Reich“ (V. 29);
  -              „alle Enden der Erde werden dessen gedenken
  und umkehren zum HERRN“ (V. 28)
  -              „ihn allein werden anbeten alle, die in der Erde schlafen“(V. 30)
  
  Von daher ist der Tod Jesu Ereignis tiefster Erniedrigung und zugleich (!) Ereignis höchster Erfüllung der Verheißung Jesu, er werde das Böse und Gemeine überwinden, ja „den Satan vom Himmel fallen sehen wie einen Blitz“ (Lukas 10, 18). Es darf hier also vom Zeichen der Auferstehung im Tod, vom Ostermorgen im Karfreitag gesprochen werden.
  
  Nun ist auf dem Hügel Golgatha ein zweiter Schrei zu hören: ein unartikulierter Schrei, in dem Jesus stirbt: „Aber Jesus schrie abermals laut auf und verschied“ (V. 50). Und was zweimal in den Evangelien berichtet wird, hat eine doppelte Unterstreichung, hat eine unüberhörbare, scharfe Akzentuierung:
  
  Es ist auch hier nicht der Schrei der Verzweiflung. Es ist vielmehr das Schreien des Menschensohnes, des Weltenrichters, der in seinem Advent kommt „mit den Wolken des Himmels“ (Matthäus 26, 64), wie er es vor dem Hohen Rat ankündigt, und in diesem Kommen – in der Vorstellung jüdischer Apokalyptik – so gellend ruft, dass „die Heiligen“ davon erwachen und auferstehen zum letzten Urteil Gottes, das unmittelbar zuvor auf Golgatha gesprochen ist. Genau das bezeugt Matthäus als schon geschehen, so dass zu sagen ist: Am Nachmittag des Karfreitags geschieht das Weltgericht:
  
  „Und siehe, der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke von oben an bis unten aus“ (27, 51), d.h. der Heilige naht sich selbst, er naht sich seinem sündigen Volk. Gott kommt. Gott kommt zum Gericht. Und die apokalyptisch-adventliche Auferstehung geschieht nach dieser großen Bildrede des Matthäus ebenfalls:
  
  „Und die Erde erbebte, und die Felsen zerrissen, und die Grüfte öffneten sich, und die vielen Leiber der entschlafenen Heiligen wurden auferweckt und sie kamen nach seiner Auferweckung aus den Grüften hervor, gingen in die heilige Stadt und erschienen vielen“ (V. 52f.)
  
  So wird der Tod Jesu in seiner Unermesslichkeit gedeutet - nämlich als unvorstellbares gerichtliches und adventliches Ereignis, in dem Jesus stirbt.
  
  Es gibt eine einzigartige Auslegung dieses Textes in der Matthäuspassion Johann Sebastian Bachs. Günter Jena (Organist und Chorleiter am Michel in Hamburg) beschreibt sie so:
  
  „In Zweiunddreißigstelnoten rasen die Instrumente gewaltige Tonskalen auf- und abwärts. »Tonmalerei« des Reißens — ein Vorgang, der in der Musik das Gleiche sagt wie ein Bild oder ein Geräusch in anderer Wirklichkeit. Das Erbeben der Erde wird fünf Takte lang in ratternden Wiederholungen von Zweiunddreißigstelnoten dargestellt, die sich zu einem riesigenGewirr absteigender Halbtöneaufrichten; nicht wie gewohnt durch eine Quarte, sondern durch eine ganze Oktave bricht er auf, der »enge Weg«, eine unerhörte, auch bei Bach nicht wiederkehrende Strecke gleichzeitig der Einengung und Eruption …. ! Er ist aber auch »Geburtskanal« für eine von keinem Sterblichen erschaute Vision. Denn es wird berichtet, wie die Leiber der Heiligen auferstehen und in die Stadt Jerusalem kommen. Der Evangelist singt in extremen Lagen: oft hoch, exaltiert zweimal den Spitzenton a noch um einen Halbton überschreitend; aber auch in abgründige Tiefen bis unten ausführend, wie denn die ganze Szene in einem langen, tiefen ‚die da schliefen‘ ausklingt.''
  
  Wie sollte es uns beim Lesen oder Hören dieser biblischen Sätze von der Apokalypse im Tode Jesu nicht genau so gehen wie dem Hauptmann und denen, „welche mit ihm Jesus bewachten und das Erdbeben sahen und was da geschah“: dass „sie sich sehr fürchteten“ (27, 54)?
  
  Und so hören wir hier nicht nur eine überdimensionale Musik, sondern das Wort des lebendigen und kommenden Herrn der Kirche, als ein Wort des Menschensohns, des Königs der Welt „zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters, von dannen er kommen wird zu richten die Lebenden und die Toten“. – Was lässt der Karfreitag nach dem Tod Jesu sehen? Die Audition und die Vision des Jüngsten Tages, die Vision der Totenauferstehung. Die Verwirklichung dieser Vision ist im Tod Jesu so gegenwärtig, dass der Evangelist sie schildert als schon geschehenes Ereignis.
  
  Die Folge davon ist, dass ausgerechnet dieser im Gottesschrecken sich fürchtende römische Soldat und „die, die mit ihm waren“, – die also, die zu den Henkern und Gewalttätern gezählt werden, -  die Würdigung erfahren, als Erste auszusprechen, was A und O von adventlicher Furchtlosigkeit und österlicher Hoffnung und pfingstlicher Sehnsucht nach dem Wahren ist, was Kern und Stern des christlichen Glaubens war und ist: „Wahrlich dieser ist Gottes Sohn gewesen!“(27, 54b) – (besser übersetzt: „Dieser war und ist und wird sein der Sohn Gottes.“)
  
  Auch an dieser Stelle legt niemand das Bekenntnis so kraftvoll aus wie Johann Sebastian Bach in der Matthäuspassion, nämlich in einem nur zwei Takte umfassenden vierstimmigen Satz – in As-Dur, der Tonart der „Verklärung“. Wer nur einmal diese Stelle mitgesungen hat, weiß, dass hier eine unglaubliche österliche Kraft in der Seele ersteht. Sie ist so klar und überführend wie die Erscheinung des Auferstandenen vor seinen zagenden Jüngerinnen und Jüngern. Schlechterdings überwältigend. In diesem Bekenntnis sind die Klagen und Grausamkeiten der Passion so nachhaltig überwunden, dass man von einer „Auferstehung im Tod“ sprechen möchte.
  
  „Auferstehung im Tode“ – das ist ein Fachbegriff einiger Brüder der katholischen Theologie. Er bezeichnet die Vorstellung, dass wir in unserem Tod nicht vernichtet werden („Ganztod“), wie einige evangelische Theologen sagen, sondern im Moment des Todes sogleich eingehen in die Ewigkeit Gottes und dort (mit den anderen Heiligen) warten auf die letzte „Auferstehung von den Toten“, auf den neuen Himmel und die neue Erde. Ist es bei Matthäus auch so? Dann wäre das Bekenntnis des Hauptmanns und der Seinen von der gleichen endzeitlichen Kraft wie das Wort des Gekreuzigten an den einen der beiden Schächer: „Heute wirst du mit mir im Paradies sein“ (Lukas 23,43).
Perikope
29.03.2013
27,51