Die 10 Gebote: In die Freiheit geführt - Predigt über 2. Mose 20, 1-17 von Christoph Römhild (mit einer Meditation von Thies Gundlach)
20,1
Die 10 Gebote: In die Freiheit geführt
  
  MEDITATION ÜBER DER DIE 10 GEBOTE
  Von Thies Gundlach
  Früher war es üblich, dass es vor jeder Abendmahlsfeier eine Art Beichte gab.
  So eine Art der Beichte machte Sinn, in der die Menschen nach innen schauten, sich selbst ehrlich ansahen und bewusst machten, was sie selbst von Gott trennte. Damals wurde dieser Blick nach innen leider zu­meist sehr moralistisch verstanden, man dachte an den reißerischen Augenaufschlag zu einem fremden Mann, man dachte an die geklaute Marmelade oder den übers Ohr gehauenen Geschäftspartner.
  Die Art von Moralismus schadet zwar nichts, führt aber auch nicht in die Tiefe; denn im Kern heißt Beichte zuerst ein Stillwerden in sich selbst, ein Horchen auf das, was mir wirklich wichtig ist, ein nüchterner Blick auf meine Wege, die ich gehe, mit mir selbst, mit meinen Mitmenschen, meinen Kindern, meinem Partner.
  
  Beichte heißt Bilanz ziehen, innere Bilanz, eine Zwischenstopp einlegen, sich selbst einen Raum gönnen, in dem ich ehrlich werden kann. Und jeder von uns, der solchen inneren Raum betritt, wird auch Dinge und Ereignisse erinnert, auf die er nicht so sehr stolz ist, die ihm leid tun auch gegenüber dem Partner, den Kindern der Familie oder anderen Menschen, Dinge, die er am liebsten ungeschehen machen würde.
  
  Wer so viele Jahre zusammenwohnt, wer so viel Zeit mit sich und anderen Menschen zugebracht hat, der weiß um Dinge, die zwar niemanden etwas angehen, die wir in unserer Seele verschließen, die aber zu uns gehören unser Leben lang und um die vor Gott zu wissen gut und heilsam ist.
  
  Deswegen möchte ich uns allen die Möglichkeit geben, in sich zu horchen, nicht bedrängend, nicht bohrend und sensationsgierig, sondern still jede und jeder für sich. Ich lade sie ein, einen Augenblick nach innen zu hören im Angesicht von Fragen, die uns durch die 10 Gebote Gottes gestellt sind.
  So haben wir die Möglichkeit, anschließend ehrlich und deswegen aufrecht in diesen Gottesdienst und diese Woche zu gehen [und Abendmahl zusammen zu feiern].
  
  Beichtfragen
  Das erste Gebot
  Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine
  anderen Götter haben neben mir.
  Das erste Gebot fragt uns:
  Wer ist mein Gott, was ist mir wichtig,
  wem gehört mein Herz, wem traue ich?
  
  Das zweite Gebot
  Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen.
  Das zweite Gebot fragt uns:
  Welche Götter verehre ich, welche Helden vergöttere ich,
  wem gilt meine Bewunderung, wonach strebt meine Seele?
  
  Das dritte Gebot
  Du sollst den Feiertag heiligen.
  Das dritte Gebot fragt uns:
  Kann ich still werden vor Gott, kann ich beten, kann ich hören auf Gottes Wort, vertrage ich Ruhe, Stille, Besinnung?
  
  Das vierte Gebot
  Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren.
  Das vierte Gebot fragt uns:
  Wo komme ich her, wem schulde ich Dank,
  aus welchen Quellen schöpfe ich, wessen Lieder singe ich? 
  
  Das fünfte Gebot
  Du sollst nicht töten.
  Das fünfte Gebot fragt uns:
  Wann muss ich streiten, wo fühle ich Hass,
  wann bin ich streng, wer muss leiden an mir?
  
  Das sechste Gebot
  Du sollst nicht ehebrechen.
  Das sechste Gebot fragt uns:
  Wer ist meine Freund, meine Freundin, wen kann ich lieben,
  wer darf mir nahe kommen, mit wessen Liebe spiele ich?
  
  Das siebte Gebot
  Du sollst nicht stehlen.
  Das siebente Gebot fragt uns:
  Was will ich unbedingt haben, wem nehme ich Raum zu Leben,
  worauf bin ich gierig, wer darf reich sein neben mir?
  
  Das achte Gebot
  Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.
  Das achte Gebot fragt uns:
  Rede ich schlecht von anderen, wessen Schwächen schlachte ich aus,
  wann täusche ich meinen Nächsten, mache ich mich größer, besser als ich bin?
  
  Das neunte Gebot
  Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus.
  Das zehnte Gebot
  Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh noch alles, was dein Nächster hat.
  
  Das neunte und zehnte Gebot fragt uns:
  Lebe ich bescheiden, kann ich abgeben, muss ich anderen Reichtum nachäffen, lebe ich über meine Verhältnisse?
  
  Stille (zum Altar)
  
  GEBET:
  Gott, vor Dir werden unsere Gedanken ernst und aufrecht,
  vor Dir brauchen wir uns nicht verstecken,
  du schenkst uns Ehrlichkeit in uns selbst, auch gegen uns selbst,
  denn du siehst unser Herz und verurteilst uns nicht,
  du schenkst Frieden und Wahrheit und Versöhnung.
  Dafür danken wir dir.
  
  Amen.
  
  Der Text: Die Zehn Gebote
  
  1 Und Gott redete alle diese Worte:
  2 Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe.
  3 Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.
  4 Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis1 machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist:
  5 Bete sie nicht an und diene ihnen nicht! Denn ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen,
  6 aber Barmherzigkeit erweist an vielen tausenden, die mich lieben und meine Gebote halten.
  7 Du sollst den Namen des HERRN, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der HERR wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen missbraucht.
  8 Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligest.
  9 Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun.
  10 Aber am siebenten Tage ist der Sabbat des HERRN, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Vieh, auch nicht dein Fremdling, der in deiner Stadt lebt.
  11 Denn in sechs Tagen hat der HERR Himmel und Erde gemacht und das Meer und alles, was darinnen ist, und ruhte am siebenten Tage. Darum segnete der HERR den Sabbattag und heiligte ihn.
  12 Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass du lange lebest in dem Lande, das dir der HERR, dein Gott, geben wird.
  13 Du sollst nicht töten.
  14 Du sollst nicht ehebrechen.
  15 Du sollst nicht stehlen.
  16 Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.
  17 Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau, Knecht, Magd, Rind, Esel noch alles, was dein Nächster hat.
  
  
  Die Predigt
  
  Liebe Gemeinde,
  
  was für ein Text!
  
  Es ist Weltliteratur.
  
  Wenn Sie nur fünf Texte aus der Bibel vorstellen dürften, dieser
  wäre gewiss darunter.
  
  Wenn Sie fünf Texte der Menschheit auswählen müssten, dieser
  wäre darunter.
  
  Und er spricht in unsere Zeit hinein, spricht in jede Zeit hinein.
  
  Ich sage wohl nicht zu viel, wenn ich behaupte, jeder
  hat schon mal ein Gebot überschritten, hat nicht getötet,
  aber hat verletzt, beleidigt, geneidet, übergangen, beschönigt all diese
  kleinen Missachtungen des Alltags.
  Und jeder von uns hat auch schon zu leiden gehabt unter
  solchen Missachtungen.
  
  Das fängt im Kleinen an und setzt sich im Großen unserer Zeit fort.
  
  Viele Menschen erleben unsere Zeit nicht nur als post-modern sondern als zynisch und kalt.
  
  Das menschliche Miteinander, die Moral, das Recht
  sind in den Augen vieler pervertiert und zerbrochen.
  
  Seit dem Ersten Weltkrieg, dem Zweiten Weltkrieg,
  dem Krieg auf dem Balkan Mitte der 90er Jahre,
  ist der Glaube an das Gute im Menschen ins Wanken geraten.
  
  Diese Erfahrungen bilden die Folie, durch die wir die Welt erleiden.
  
  *             *             *
  
  Jeder steht nun unter diesem Pauschalverdacht,
  doch nur an sich zu denken.
  
  Dies gehört zu der Gebrochenheit unserer Welt:
  Nichts in dieser Welt ist noch moralisch.
  Auch wenn sich zwei Menschen näher kommen,
  basiert es nur auf der Suche nach dem je eigenen Vorteil.
  
  Es ist Zeit, die 10 Gebote neu zu entdecken.
  
  Die 10 Gebote als Grundlage
  des individuellen Verhaltens,
  aber auch aller späteren Rechtstexte,
  jedes Rechtsverständnisses überhaupt,
  sind hochaktuell. Und Sie spiegeln in einer Knappheit ein
  skeptisches, ja hartes Menschenbild, das diese Gebote eben nötig macht.
  
  *             *             *
  
  Aber der Reihe nach!
  
  Wie ist der Zusammenhang der 10. Gebote?
  
  Das Volk Israel war in ägyptischer Sklaverei und
  Gott befreit es durch Mose und Mirjam.
  
  Das Volk zieht
  durch das sich teilende Schilfmeer in die Freiheit.
  Endlich Freiheit.
  
  Deswegen beginnen die Zehn Gebote auch mit der Selbstvorstellung Gottes:
  „Ich bin dein Gott…“
  Und was zeichnet ihn aus?
  „…der dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt hat.“
  Er ist der Gott der Freiheit.
  Der Gott, der Israel, der uns herausführen kann.
  
  Das Ziel auf diesem Weg ist klar: Das Gelobte Land, in dem Milch und Honig fließt.
  
  Aber auf dem Weg dorthin müssen sie 40 Jahre durch die Wüste ziehen.
  
  Die Wüste soll das Volk läutern, erst die nächste Generation,
  die die Knechtschaft nicht mehr geschmeckt hat, soll in dem
  neuen Land wohnen dürfen.
  
  Auch später bleibt die Wüste der Ort für Israel, der für Rückzug und einen neuen Anfang steht.
  Die Wüste ist in der Bibel der Gegensatz zur Stadt oder
  zu den Städten und bewohnten Landschaften, dem Land.
  
  Wenn die Städte in der Krise sind, so zieht man sich zurück
  in die Wüste. Es ist so, als würde man zurück zu den Quellen
  gehen.
  
  Die Wüste ist der Ort der Verheißungen für das Land.
  
  Ist das Land in der Krise, so geht man in die Wüste, um den Kompass neu auszurichten, um neue Verheißungen, neue Visionen für das Leben im Land zu erhalten.
  
  Johannes der Täufer war in der Wüste, hat hier zur Umkehr aufgerufen und hat Jesus hier getauft.
  Das Land war in der Krise, weil es von den Römern besetzt war, weil die Menschen arm waren.
  Und in der Wüste ist Jesus in Versuchung geführt worden.
  
  Und in dem gelobten Land und auch jetzt schon, in der Wüste, sollen die Israeliten in Freiheit leben lernen. Und in ethischen Handlungen, in Recht, vorbildlich für alle anderen Völker. Das exemplarische Volk Gottes.
  
  Und der Leitfaden für die Freiheit sind die Gebote, die in der Wüste
  am Berg Sinai gegeben werden, die 613 Gebote für die Israeliten und
  auch diese 10, die besonders herausgehoben sind.
  
  Die 10 Gebote sind so der Unterpfand der Freiheit.
  Denn ohne Richtschnur, ohne ein Ziel, ohne Gemeinschaft
  mit Gott und Gemeinschaft mit anderen Menschen, kann
  es keine Freiheit geben.
  Freiheit ist eben nicht nur die Freiheit von etwas, sondern
  die Freiheit zu etwas.
  Die 10 Gebote gewähren so Freiheit, da sie
  einen Ermöglichungsraum schaffen, in dem etwas
  entstehen kann, dass sonst nicht entstehen könnte.
  Hier kann gelingendes Leben entstehen.
  Hier kann man mit anderen Menschen zusammen
  leben, ohne Streit oder Neid oder Lügen.
  
  Sie stehen auf zwei Steintafeln.
  
  Auf der ersten Tafel die Selbstvorstellung Gottes und die
  drei ersten Gebote, die mit unserer Beziehung zu Gott zu tun haben.
  Wir sind in ein Leben mit Gott gerufen, nur so kann Leben gelingen.
  
  Auf der zweiten Tafel die Gebote, die unsere Beziehungen anleiten sollen,
  zu unseren Eltern, zu unserem Nächsten, zu unseren Nachbarn.
  Zu allen Menschen.
  
  *             *             *
  
  Die Gebote sollen der Garant sein, dass die Freiheit Freiheit bleiben kann und
  nicht in Tyrannei und Diktatur oder Chaos ausbricht.
  
  Denn wenn man die Gebote weiter denkt, so betreffen sie auch
  die Gesellschaft, sind auch politisch.
  
  Wie die anderen Gebote sollen sie dafür sorgen, dass Israel
  eine vorbildliche, reine und heilige Gemeinschaft wird.
  
  Eine Gemeinschaft, die für die
  Kranken und Schwachen,
  für die Waisen und Witwen sorgt.
  
  Eine Gemeinschaft, die mit der Einrichtung des
  Jobeljahres, ein Schuldenerlass alle 50 Jahre also,
  dafür sorgt, dass niemand zu reich werden kann und
  niemand Leibeigener bleiben muss, niemand zu arm werden kann.
  
  Das weltweite Judentum steht bis heute in dieser
  Tradition des exemplarischen Lebens und der
  überragenden Glaubenstreue auch in aller Verfolgung.
  Hinzugetreten ist die Kirche, in aller Fehlbarkeit
  in aller Schwäche auch zur Heiligkeit und Gemeinschaft
  gerufen ist.
  
  Auch die Kirche ist gerufen, die Zehn Gebote zu befolgen
  und sie immer neu in die heutige Zeit und ihre Zusammenhänge
  zu übersetzen und zu aktualisieren.
  
  Ich denke, dass die Kirchengemeinden solche
  Orte sein können. Orte, an denen wir aufeinander
  achten. Orte, an denen die Schwachen geschützt werden.
  An denen den Armen geholfen wird.
  
  Orte, an denen im Kleinen gelebt wird, was es vielleicht
  irgendwann einmal im Großen geben kann:
  Eine Gemeinschaft von Gleichen ohne Lüge und Neid,
  wo wir einander unsere Seelen öffnen können.
  
  Wo wir nicht immer erwachsen und stark sein müssen.
  
  Orte, wo wir tolerant sind.
  Orte, wo wir den Schwachen helfen.
  Orte, ohne Beleidigung und üble Nachrede.
  
  So kann die Kirche in ihren Gemeinden exemplarische Gemeinschaft
  eines gelingenden Lebens sein.
  Mit Eugen Drewermann gesprochen:
  
  Was Jesus vorschwebt, ist, dass wir den Weg des anderen nicht zu kennen brauchen und auch objektiv nicht kennen.
  Das einzige, was wir tun sollten, ist, den anderen zu begleiten, dahin, wohin er selbst gehen möchte, um nach Hause zu kommen, um in das Eigene, die eigene Identität zu gelangen.
  In den Stunden, wo es dunkel wird und wo er Angst hat, keinen Weg mehr sieht und sich allein fühlt, braucht er uns an seiner Seite. Nicht weil wir es besser wüssten für ihn, aber weil wir gemeinsam und vier Augen besser sehen als er allein mit angstverwirrten Augen.
  Das ist für mich das ganze Christentum.
  Keine Lehre, sondern eine Form, aus Vertrauen zu leben und miteinander zu sein.
  Wir können sie uns aneignen, fühlsamer, poetischer sein.
  Getragen von mehr Mitleid, von der Weite des Herzens.
  Mit weniger Intellektualismus
  mit weniger Enge und Angst.
  
  Diese Erfahrung, diese Erlebnis wünsche ich Ihnen in der Gemeinde,
  in ihrer Familie oder bei ihren Freunden: Dass Sie schwach sein dürfen.
  Natürlich ist auch die Gemeinde immer auch Fragment, ist nicht vollkommen.
  Aber sie ist die Keimzelle einer Welt wie sie sein könnte.
  
  Menschen gehen aufeinander zu,
  Fremde kommen ins Gespräch
  und werden zusammen geführt.
  Ohne Angst vor Berührungen, ohne Angst vor Nähe,
  ohne Scheu sich zu zeigen.
  Mit Begegnungen, mit Gesprächen, mit denen wir nie gerechnet hätten.
  Mit Gesprächen mit Fremden, wo plötzlich Nähe entsteht und ein Lachen.
  
  Wo wir aufeinander achtgeben und einander stützen.
  
  Amen
  
  Der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.     Amen
Perikope
29.09.2013
20,1