Die Angst in die Luft werfen – Predigt zu 2.Tim 1,7-10 von Daniela Hammelsbeck
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Die Angst in die Luft werfen – Predigt zu 2.Tim 1,7-10 von Daniela Hammelsbeck

Liebe Gemeinde,
Statistiker haben nachgezählt und finden den Zuspruch „Fürchte dich nicht!“ genau 365 Mal in der Bibel. Für jeden Tag des Jahres. Wie ein roter Faden zieht er sich durch die ganze Bibel: Abraham hört ihn, als er in hohem Alter in die Fremde aufbricht, genauso wie Hagar, deren Sohn unter einem trockenen Busch im Sterben liegt. Der Engel sagt ihn Maria bei der Ankündigung von Jesu Geburt. Den Hirten auf dem Feld und den Frauen am Grab erklingt er. Und ganz am Ende der Bibel heißt es: Fürchte dich nicht! Ich bin der Erste und das Letzte. Offenbar weiß die Bibel ganz genau, dass wir diesen Zuspruch immer wieder nötig haben. Denn Angst gehört zu den Grundbefindlichkeiten der Menschen. Jede und jeder von uns weiß, wie es ist, Angst zu haben.

Der Predigttext ist eine Rede gegen die Furcht – wie ein lautes „Fürchte dich nicht!“ kann man ihn hören. In einer besonders angstvollen Zeit verfasst der Apostel Paulus einen Trostbrief an Timotheus, seinen Mitarbeiter. Wir wissen heute, dass dieser Brief eigentlich gar nicht von Paulus stammt, er ist lange nach dessen Tod geschrieben worden. Da schlüpft aber jemand in die Haut des Apostels, um mit dessen Autorität die Menschen zu stärken und zu ermutigen.
Dieser Paulus sitzt im Gefängnis, er muss mit dem Tod rechnen, und aus dieser Not heraus schreibt er an einen, der den Mut verloren hat. Timotheus verkündigt das Evangelium, aber die Menschen wollen ihn nicht mehr hören. Es gibt viel interessantere Botschaften. Sie kehren sich von ihm ab, sie kritisieren ihn, sie feinden ihn an, verleumden ihn, bedrängen ihn. Er kann nicht mehr. Er hat Angst. Er verzagt. Da kommt dieser Brief und er liest darin:

Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit. Darum schäme dich nicht des Zeugnisses von unserm Herrn noch meiner, der ich Gefangener bin, sondern leide mit mir für das Evangelium in der Kraft Gottes.
Er hat uns selig gemacht und berufen mit einem heiligen Ruf, nicht nach unseren Werken, sondern nach seinem Ratschluss und nach der Gnade, die uns gegeben ist in Christus Jesus vor der Zeit der Welt, jetzt aber offenbart ist durch die Erscheinung unseres Heilands Christus Jesus, der dem Tode die Macht genommen hat und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht hat durch das Evangelium.
(2. Tim 1, 7-10)

Wovor fürchten Sie sich? Wo spüren Sie den Geist der Furcht in Ihrem Leben? Geist der Furcht – das sind nicht die Ängste, mit denen wir in der Regel gut leben können, etwa die Angst vor Hunden oder die Höhenangst.
Geist der Furcht – das sind die Ängste, die uns stark beeinflussen, die uns bestimmen und die uns hilflos machen. Solche Ängste können ganz vielfältig sein: Die Angst vor der Dunkelheit und vor den eigenen Abgründen. Das unerträgliche Herzklopfen beim Warten auf die Diagnose. Die Verzagtheit vor einer Prüfung und die Sorge zu versagen. Die Angst um unsere Lieben und die Angst, sie zu verlieren. Die Angst vor dem Verlust von Position und Arbeitsstelle. Die Angst vor den rasanten Umwälzungen in unserer Gesellschaft und dem globalen Chaos in der Welt. Die Angst, das eigene Leben nicht mehr in der Hand zu haben. Die Angst, das Leben zu verfehlen. Und nicht zuletzt die Angst, alles zu verlieren, das Leben selbst. Die Angst vor dem Tod. Wir haben das Leben nicht ohne die Furcht.
Angst hat mit Enge zu tun. Die Blutgefäße verengen sich. Das Herz pocht und pumpt das Blut fünfmal schneller durch den Körper. Die Muskelspannung nimmt zu. Alles verkrampft sich. Angst kann Menschen die Lebensimpulse nehmen, die Lebendigkeit. Sie kann blind machen und die Handlungsspielräume ganz klein werden lassen. „Angst essen Seele auf“, heißt ein bekannter Film.

Wenn der Timotheusbrief gegen Angst und Furcht anredet und anschreibt, dann geht es nicht darum, die Angst einfach weg zu machen. Das funktioniert ja nicht. Es geht darum, ihr die Grenzen zu zeigen. Ihr den Anspruch auf unser Leben strittig zu machen. Sie nicht überhand nehmen zu lassen. Denn das ist die Gefahr bei der Angst: Dass sie immer noch größer wird, dass man aus lauter Angst vor der Angst noch mehr Angst bekommt. Angst kann wie ein Gefängnis sein, in das wir uns einschließen und in dem wir keinerlei Ausweg mehr sehen können.

Um den Geist der Furcht in die Grenzen zu weisen, braucht es viel. Ein „Hab keine Angst!“ reicht da nicht. Das weiß auch dieser Paulus im Gefängnis und darum setzt er der Furcht eine ganze Theologie entgegen und erinnert an die Grundfesten des Glaubens.
Wenn ich unterzugehen drohe vor lauter Angst, dann kann das helfen: Erinnert zu werden an das, was mich trägt und hält, was da ist und nicht verloren geht. Von Gnade ist da die Rede, vom selig gemacht sein, von Offenbarung und Licht und Evangelium. Theologische Formulierungen – und es mag sein, dass sie mich nicht ganz erreichen. Vielleicht hat auch der verzagte Timotheus mehrmals lesen müssen. „Jesus Christus hat dem Tod die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht.“, steht da. Der Tod hat verloren, heißt das. Ob Timotheus das verstanden hat? Ob ich das verstehen und glauben kann? Wie wäre es wohl, wenn wir so leben würden, dass der Tod keine Macht mehr über uns hätte? Wenn der Angst ihre ärgste Spitze – nämlich die Angst zu sterben – genommen wäre? Was wäre das für ein Lebensgefühl, Gottes Gnade vor und hinter uns zu wissen, und ganz aus der Hoffnung heraus zu leben, dass wir im Letzten nichts zu fürchten haben? Ich bin überzeugt, wir würden zuversichtlicher leben und fröhlicher, wir hätten weniger Angst im Leben.

Ja, ich ginge so gerne mit solchem Mut durch die Tage. Und es gibt sie: Tage und Zeiten, in denen mir das gelingt. Aber dann kommen eben doch auch immer wieder die Zweifel und mit ihnen die Furcht, dem Leben nicht gewachsen zu sein. Dann zaudere ich, dann bin ich verzagt. Und dann brauche ich klare Gegenworte:
„Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“
Was für eine Zusage, was für ein Zutrauen: Wir haben den Geist Gottes in uns, über uns, um uns, er ist uns gegeben. Ohne dass ich dafür irgendetwas leisten muss und obwohl ich oft so kleinmütig bin. Dieser „Mutmach-Geist“ ist schlicht und einfach da.
Und er gibt mir Kraft: Im Griechischen steht da dynamis, das hat mit Bewegung und Dynamik zu tun. Wo alles erstarrt und gebannt ist vor Angst, da kommt Bewegung und Schwung rein. Da sind wieder Schritte möglich, da tun sich neue Wege auf.
Er gibt mir Liebe: Da klingt Gemeinschaft, Verbundenheit, Beziehung an. Ich muss mich nicht zurückziehen, ich soll mich nicht heraus nehmen, sondern ich kann auf andere zugehen, meine Ängste mitteilen, trösten und getröstet werden.
Er gibt mir Besonnenheit: Ich muss mich nicht verrückt machen, ich habe die Fähigkeit, angemessen zu beurteilen, klar zu denken und abzuwägen.
Kraft und Liebe und Besonnenheit, all das wird mir zugetraut, ich bin kompetent im Umgang mit der Angst!
Glauben bedeutet also nicht, keine Angst mehr haben, das wäre naiv. Glauben bedeutet auch nicht, Angst verdrängen und sich stark geben, das wäre nicht nur naiv, sondern auch gefährlich, denn unterdrückte Angst kommt wieder und kann sehr zerstörerisch sein. Aber – das lese ich aus dem Timotheusbrief: Der Glaube kann die Angst verändern. Der Glaube arbeitet an der Angst. Der Glaube schiebt der Angst einen Riegel vor: bis hierher und keinen Schritt weiter!
Gott hat uns selig gemacht und berufen mit einem heiligen Ruf“, steht da. Was Gott uns wohl zuruft? Ich höre ihn rufen: Du bist nicht alleine, du bist nie alleine, du bist auch im Sterben nicht alleine. Du mit deiner Furcht, du mit deinen Ängsten, ich halte dich, ich trage dich! Vertraue darauf!

Die jüdische Schriftstellerin Rose Ausländer, die den Nazigräuel ausgesetzt war, Angst und Schrecken erlebt hat, beginnt ein Gedicht mit den Worten: „Wirf deine Angst in die Luft“. Da trotzt eine der Furcht mit einer fast schon spielerischen Leichtigkeit. „Wirf deine Angst in die Luft“ – ich finde, das passt gut zum Trotz des Predigttextes. Der behauptet ja auch ganz selbstbewusst gegen den „Geist der Furcht“: Ihr seid darin doch gar nicht gefangen, ihr seid euren Ängsten doch gar nicht ausgeliefert! Ihr seid frei, ihr habt Gottes Geist und Kraft. – Das lässt mich wieder freier atmen, das macht, dass ich einen ersten Schritt heraus treten kann aus der Angst. Wirf deine Angst in die Luft! Es gibt keinen Grund zu verzagen! Fürchte dich nicht!