Nach meinem Empfinden darf die Geschichte nicht mit Vers 7 enden. Ich würde mindestens bis Vers 17 lesen. Um die Hörer nicht überzustrapazieren, könnte man Johannes 9,1-7 in der Lesung vortragen und Vers 8-17 vor der Predigt.
Es mag auch ein Gefühl der moralischen Überlegenheit in der Frage liegen, die die Jünger dem Meister stellen: „Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist? Das Schicksal des Blinden geht ihnen nicht wirklich nahe, sonst würden sie in seiner Gegenwart wohl nicht so fragen. Könnte aber auch sein, dass sie es wirklich wissen wollen. Der Mann ist schließlich von Geburt an blind. Wie kann das sein, wenn Gott die Schöpfung gut eingerichtet hat? Er selbst kann doch keine Schuld an seinem Schicksal tragen, also müssen die Eltern irgendetwas getan haben, was der Sohn nun ausbaden muss. Und doch klingt die Frage nicht besonders betroffen. Sie macht den Blinden zum Objekt. Sie erniedrigt ihn zur Sache. So als wäre er nicht nur blind, sondern auch noch taub. Wer ist schuld? Vermutlich weder der Blinde noch seine Eltern. Wie gut, dass wir nicht mehr in solchen Kategorien denken. Wie gut, dass diese Zeiten vorbei sind.
Nein, das stimmt nicht. Dafür gibt es wohl immer noch zu viel Leiden in der Welt. Und so fragen viele: Wer ist schuld an diesem oder jenem Missstand? Wer ist schuld am Klimawandel? Die Menschen könnte die Antwort heißen, aber weil das viel zu unkonkret ist, sagen die, die fragen: die Autofahrer. Oder zugespitzter noch: die Besitzer eines SUV. (Jedenfalls wenn man selbst keinen besitzt.) Die Vielflieger sagen sie, und um die von ihren Gewohnheiten abzubringen, erfinden Leute mit Einfluss das Wort „Flugscham“. Die Fleischesser sagen die, die sich endlich zum veganen Leben durchgerungen haben und stolz darauf sind. Die Männer sind schuld, dass wir es nicht weiterbringen, sagen die ehrgeizigen Frauen.
Die Zeiten, in denen wir stolz waren, dass wir uns von der (bürgerlichen) Moral befreit hatten, scheinen unendlich weit entfernt zu sein. Heute geht es darum, wem man die Verantwortung für welchen Missstand zuschieben kann. Wer hat das getan? Antworten bitte an das BKA oder jede örtliche Polizeidienststelle. Die Schuldigen sollen endlich zur Rechenschaft gezogen werden.
Ein altes Spiel. Ein böses Spiel. „Schwarzer Peter“ heißt es wohl. Aber jetzt kommt der Spielverderber. Jesus heißt er und er hat schon so manches Spiel durcheinandergebracht. Er verweigert sich der Frage nach der Schuld des Blinden. Das Licht der Welt, sagt er, scheint auch für den Blinden, jedenfalls seit dem Augenblick, als er mir begegnet ist. Denn ich, Jesus, bin das Licht der Welt. Und dieses Licht soll der arme Mann jetzt ebenfalls sehen. Und dann tut er das Wunder. Er spuckt in den Staub, er bereitet einen Brei, streicht ihn dem Blinden auf die Augen und schickt ihn dann zum Teich Siloah, um sich zu waschen. Was der dann auch tut. „Und kam sehend wieder“, so berichtet es das Johannesevangelium.
An dieser Stelle könnte die Geschichte nun zu Ende sein. Und wir könnten ihn jetzt fragen, ob er froh über seine Heilung sei. Vermutlich würde er sich an den Kopf greifen. Was das für eine Frage sei, würde er antworten. Er könne die Welt und ihre Farben sehen. Er sei nicht mehr auf seinen Stock angewiesen. Er könne Gesichter erkennen. Auch das Staunen in unseren Gesichtern könne er sehen. Ob da auch ein paar Zweifel seien? Ach ja: zum allerersten Mal wisse er, wie Bäume aussehen. Oder Menschen.
Aber wir können ja noch ein bisschen nachhaken. Wir kennen die ganze Geschichte, also könnten wir zum Beispiel fragen: Einmal angenommen, du hättest voraussehen können, was nachher passierte, hättest du dann immer noch gesagt: „Ja, Herr, ich will sehen können?“
Er hat es ja nicht wissen können. Wenn man vom Rathaus kommt, ist man klüger, hat einer
gesagt, der es wissen musste, und er hat Recht. Das Misstrauen seiner Umgebung, („Kann der wirklich sehen? Hat der uns ein Leben lang zum Narren gehalten?“) die hochnotpeinliche Befragung durch die Pharisäer und am Ende sogar der Ausschluss aus der Synagoge; angenommen, er hätte das alles vorausgesehen, hätte er sich dann immer noch für das Sehen entschieden?
Nein, ich weiß nicht, was er antworten würde. Ich weiß nur, dass er über die Antwort längere Zeit nachdenken müsste.
Das Spiel geht weiter. Der Schwarze Peter ist noch da.
Stellt sich die Frage: Warum akzeptieren Menschen das Gute nicht? Warum suchen sie immer wieder den Keim des Bösen darin? Wer die Geschichte zum ersten Mal hört, wird sich wundern, wie ein so positiver Anfang nach und nach immer hässlicher wird. Wenn man diese Geschichte etwa 1500 Jahre in die Zukunft verlegte, so würde sie ein Inquisitionsprozess mit Großinquisitor, hochnotpeinlicher Befragung, Streckbank und am Ende dem Scheiterhaufen. Weil unbußfertige Sünder nun einmal brennen müssen. Gott will es so. Amen.
Und wenn man gar die Linien bis zur Gegenwart ausziehen würde – was würde dann passieren? Schauen wir mal.
Ob ich jetzt wohl von einer Märchenzeit erzähle? Manchmal kommt es mir so vor. Und doch muss es sie gegeben haben, jene Zeit, in der viele Menschen die Welt nicht mehr aufgeteilt haben in „gut“ und „böse“, sondern jeden so leben ließen, wie er wollte. Sie ist vorbei, so wie die Zeit der Märchen eigentlich immer schon vorbei ist, wenn sie erzählt werden und doch erinnere ich mich an sie. Ich meine die Zeit am Ende des letzten Jahrhunderts. Und ich meine, es wäre eine Nachwirkung von „1968“ gewesen. Nicht dass die 68er Bewegung besonders tolerant gewesen wäre. Das war sie nicht und konnte es wohl auch nicht sein, weil sie gegen alles ankämpfte, was irgendwie nach Faschismus roch. Aber sie demonstrierte eben auch gegen das Autoritäre, das nach Kaiserreich und Nationalsozialismus den Deutschen noch tief in den Knochen steckte.
Ich selbst habe diese Zeit eher am Rande erlebt. 1968 war ich fünfzehn Jahre alt und lebte auf dem Land, wo das alles noch kein Thema war. Meine jüngeren Geschwister und ich lebten noch in der Furcht des Herrn, und das war ganz wörtlich zu nehmen. Mein Vater war ein gottesfürchtiger Mann, der seinen Kindern den Glauben und das Gehorchen zu vermitteln versuchte und das Gewünschte öfters einmal mit dem Stock einbläute. Ich habe erst spät gelernt, ihn und seine Überzeugungen in Frage zu stellen und meinen eigenen Weg zu finden. Ohne das, was „1968“ und in den folgenden Jahren passierte, wäre mir das wohl nicht gelungen. Aber nach und nach setzte sich der Geist von „68“ durch. Die Menschen und damit auch ich konnten freier atmen. Sie brauchten sich nicht mehr zu rechtfertigen, wenn sie anders leben wollten. Kinder konnten ihren eigenen Kopf haben; sie konnten ihren Eltern widersprechen. Anders als meine Geschwister und ich musste kaum ein Kind noch Angst haben, geschlagen zu werden. Männer und Frauen konnten unverheiratet zusammenleben und kaum ein Vermieter fragte nach dem Trauschein. Homosexuelle konnten sich zu ihrer Neigung bekennen. Vielleicht wurden sie immer noch schief angesehen, wenn sie sich in der Öffentlichkeit küssten, aber zumindest wurden sie nicht mehr sozial geächtet.
Heute dagegen gibt es wieder eine Moral. Die ist sicher anders als vor fünfzig Jahren, vielleicht sogar subtiler, aber deshalb nicht weniger gnadenlos.
Womit wir im Zeitalter der „Aktivisten“ angekommen sind.
Aktivisten sind Menschen, die sich für das Gute einsetzen. Wenn ich es einmal überspitzt und vielleicht auch ein bisschen böse ausdrücken darf. Wo immer ein Problem am Horizont auftaucht, wird es bald Menschen geben, die es bekannt machen und sich für seine Lösung einsetzen. Daran ist noch nichts auszusetzen; eher schon daran, dass es für sie nichts Wichtigeres gibt als ihre Sache. Alles andere tritt für sie in den Hintergrund und da es ja bekanntlich mehr als nur ein brennendes Problem unter dem Himmel gibt, nimmt die Lautstärke und auch die Intoleranz sowohl in den Medien wie auch in der Öffentlichkeit eher zu. Aktivisten kämpfen gegen Rassismus, Frauenfeindlichkeit, Umweltzerstörung, für die Rechte von Transpersonen und anderen Minderheiten. Keins dieser Ziele ist schlecht. Nur die Mittel, die sie dafür einsetzen, sind manchmal fragwürdig. So gibt es in der Debatte um die Rechte der Frauen mittlerweile die Begriffe „weiße, alte Männer“ und – womöglich noch pointierter – den Begriff der „toxischen Männlichkeit“. Das Problem mit ihnen ist: Sie sind so wunderbar unscharf. Natürlich denkt man beim „weißen alten Mann“ zuerst an Donald Trump und seine frauenverachtenden Sprüche aber natürlich kann man den Spruch jedem gegenüber anwenden, dessen Position in der Geschlechterfrage man nicht teilt: Weiße Männer (vor allem alte weiße Männer) sollten sich schämen. Wären sie doch besser als Frauen geboren oder als “people of colour“. Am besten ist diese Haltung in der #me too Debatte zu beobachten. Wenn einem Mann sexistisches Verhalten zum Vorwurf gemacht wird, kann er sich schon einmal nach einer neuen Karriere umsehen. Er wird mit Shitstorms überhäuft und im Unterschied zu einem normalen juristischen Verfahren sind Anklage und Richter identisch. Es braucht weder Verteidigung noch Beweise und das Urteil steht von vornherein fest.
Alles ist plötzlich einem moralischen Werturteil unterworfen, und das ist zumindest
für die Aktivisten bindend. Wenn Peter Handke den Nobelpreis für sein Werk bekommt, geht sofort ein Aufschrei durch die Medien. Wie kann man nur, wo er doch Partei für die Serben bezogen hat? „Pipi Langstrumpf“ ist für Kinder nicht zumutbar, weil Pipis Vater angeblich ja ein „Negerhäuptling“ war und das Wort wird vermutlich alle Menschen mit brauner Hautfarbe beleidigen.
Auch eine Macht, die für das Gute kämpft und dabei unfaire Mittel einsetzt oder alle anderen ihren Werturteilen unterwerfen will, verwandelt sich.
Die Vermutung liegt nah, dass dies die Glaubenskriege des 21. Jahrhunderts werden.
An diesem Punkt fällt mir die alte Niemöller Frage ein: „Was würde Jesus dazu sagen?“ Wenn wir an die Geschichte von der Heilung des Blinden denken, könnte die Antwort lauten: Er hat sich der Frage der Jünger nicht angeschlossen. Er hat nicht gefragt: Wer ist schuld, dass dieser arme Mann nicht sehen kann? Stattdessen hat er das getan, was in seinen Möglichkeiten lag: er hat den Mann geheilt, sodass er zum ersten Mal in seinem Leben sehen konnte. Vielleicht hat er den „Shitstorm“, der darauf folgte, vorausgesehen. Zumindest im Johannesevangelium wird ja immer wieder davon erzählt, dass die Feindschaft der Pharisäer und Schriftgelehrten aufgrund der Wunder, die er tat, entstand und dabei immer größer wurde. Aber das hat ihn offenbar nicht besonders interessiert. Er ist seinen Weg konsequent bis ans Ende gegangen.
Es wäre schön, wenn wir von diesem Mann lernen. Wenn wir uns einsetzen für die, die es brauchen und dabei doch immer auf die Wahl der Mittel achten.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich habe keine Gemeinde mehr und so halte ich nur noch selten Gottesdienst. Mir ist bewusst, dass die meisten Menschen, die noch zum Gottesdienst kommen, eher ältere Menschen sind. Dennoch hoffe ich, dass auch die zumindest ein wenig von der Problematik verstehen, die ich hier ansprechen will: der Rolle der sogenannten „Aktivisten“ in den gesellschaftlichen Debatten.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Es wäre gut, wenn die Menschen nicht nur ihre eigenen Maßstäbe für allein gültig erklären würden, sondern ein bisschen Toleranz lernen. Dazu könnte die Auseinandersetzung mit diesem Text beitragen.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Gottes Gnade ist größer als die der Menschen. Er sieht auch da Farben, wo die Menschen nur schwarz oder weiß sehen.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Ich habe an vielen Stellen genauer formuliert, was ich meine. Ich hoffe, das dient der Verständlichkeit.