"Die Bedingung des Lebens" - Predigt über Offenbarung 2, 8-11 von Matthias Wolfes
2,8
"Und dem Engel der Gemeinde zu Smyrna schreibe: das sagt der Erste und der Letzte, der tot war und ist lebendig geworden: Ich weiß deine Werke und deine Trübsal und deine Armut (du bist aber reich) und die Lästerung von denen, die da sagen, sie seien Juden, und sind’s nicht, sondern sind des Satans Schule. Fürchte dich vor der keinem, das du leiden wirst! Siehe, der Teufel wird etliche von euch ins Gefängnis werfen, auf daß ihr versucht werdet, und werdet Trübsal haben zehn Tage. Sei getrost bis an den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben. Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt: Wer überwindet, dem soll kein Leid geschehen von dem andern Tode.“
 
Liebe Gemeinde,
ein fremder Hauch weht uns an. Es geht eisig zu am Ende der Zeiten. Was für ein Ton herrscht hier? Und sind wirklich wir es, denen diese Worte gelten? Auf jeden Fall ist klar: Wieder haben wir es mit schwergewichtigen Worten zu tun. Das kann nicht anders sein, stammen sie doch aus einer endzeitlichen, apokalyptischen Schrift, und im übrigen paßt es ja auch zu dem Punkt, den wir jetzt im Kirchenjahr und mit dem Volkstrauertag erreicht haben. Aber auch heute wollen wir uns langsam dem Text nähern. Einzelne Wendungen und Begriffe fallen heraus. Es geht um Leben und Tod, Trübsal, Armut, auch vom Teufel wird gesprochen. Am Ende steht dann aber doch eine sehr positive Aussage: Wer nämlich „überwindet“, dem soll kein Leid geschehen.
Im Mittelpunkt steht also die Ermutigung in schwerer, ja eigentlich allerschwerster Zeit. Es soll sich ja um den Untergang der Welt handeln. Aber genauso handelt es sich um die Kraft, die einem das Vertrauen auf Gott gibt, um das alles zu bestehen, zu „überwinden“.
Nun wird uns das Apokalyptische nicht mehr ebenso ansprechen wie die Christen der Anfangszeit, als man davon ausging, die Wiederkehr des Herrn stehe unmittelbar bevor. Wir halten es für vernünftig, vorauszusetzen, daß unser Leben eine gewisse Dauer erreichen wird. Das bedeutet ja nicht, daß uns nicht klar sei, es könne auch sehr plötzlich zuende sein, im Grunde jederzeit und sofort. Aber der Horizont ist doch anders, innerhalb dessen wir leben. Eine sinnvolle Form des Lebens setzt jedenfalls in unserer Welt auch das Zutrauen in einen Fortbestand voraus. Nur so können wir Verantwortung übernehmen, geordnete Verhältnisse anstreben und erhalten, uns Aufgaben widmen.
Auf der anderen Seite gehört es zu einem erfüllten Leben, daß es sich auch mit den letzten Zeiten, dem Ende, überhaupt mit der Unverhandelbarkeit der uns gesetzten Lebensfrist beschäftigt. Nicht der Tod, aber doch das Sterben ist Teil des Lebens. Und wenn auch der Tod oder das Nicht-mehr-lebendig-sein außerhalb dessen liegt, was wir „Leben“ nennen, so ist das eben anders mit demjenigen Punkt, auf den alles Leben zuläuft. In unserem christlichen Glauben haben wir eine Gewähr dafür, daß der Tod nicht die alleszerstörende Verneinung ist. In dem heutigen Predigttext steht: „Sei getrost bis an den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben.“
Das ist es, wie wir den Tod sehen. Der Tod ist von der Zeit gesetzt, jener Lebenszeit, die uns zugemessen ist, und wenn eines Tages die Stunde gekommen sein wird, dann ist dieser Lauf zuende. Aber der Lauf ist auf eine Weise zuende, die den Tod zu einer Art Ziel macht.
Leben und Sterben, Leben und Tod gehören zusammen. Jedem von uns ist das klar, und es wird hier auch niemand sein, dessen Bestreben es ist, das Sterben-Müssen oder den Tod völlig aus seinem Leben auszublenden. Das ist ja nicht die christliche Art, mit dem Tod umzugehen. Unser heutiger Predigttext kann uns nun aber etwas dazu sagen, wie denn nun Leben und Tod zusammengehören.
Es geht in dem Abschnitt um einen Brief, den der Seher Johannes der Gemeinde in Smyrna schreiben soll. Wir lesen das Stück in der „Offenbarung Johannis“, dem letzten Buch des Neuen Testamentes. Nimmt man sich aber diese Offenbarung des Johannes vor, so kann man schon fragen, ob das denn wirklich ein gutes Ende ist. Der Hauptton des Zeugnisses von Christus liegt doch eher woanders, auf der Ermutigung zum Leben. Die Botschaft lautet: Das wahre Leben ist ein anderes als das, das die Welt bietet. Christus ist das vollkommene Leben gerade deshalb, weil er nicht aus der Welt heraus gelebt hat.
Dann aber kann es ja gar nicht sein, daß von dieser Welt solch eine brausende Gefahr ausgeht, wie sie die Offenbarung des Johannes vor Augen stellt. Die Bedenken, die Luther gegen diesen Teil des Neuen Testamentes hatte, leuchten vielen ein, und für ihr eigenes Glaubensleben spielt er auch keine große Rolle.
Heute aber soll es anders sein. Wir haben es mit einer Passage aus dem zweiten Kapitel zu tun. Da geht es um die Aufträge, die eine Stimme – „wie eine Posaune“ – dem Seher Johannes gibt. Mehreren Gemeinden soll er Mahn-, Droh- und Bußbriefe schreiben. Im vorliegenden Fall handelt es sich also um den an die Gemeinde in Smyrna. Offensichtlich sind die dortigen Christen in starker Bedrängnis. Es geht um Trübsal und Armut. Wie es scheint, wurden sie befeindet und angegriffen. Auch hier ist der Tod gegenwärtig, nun aber nicht als eine dem Leben eben schlechterdings gesetzte Wirklichkeit, sondern als ein drohendes Ereignis, das einfach hereinbrechen kann und alle Lebenssicherheit untergräbt.
„Alle Lebenssicherheit wird untergraben“. Es muß ein furchtbarer Zustand sein, in dem sich befindet, wem es so geht. Leider ist diese Erfahrung nicht auf apokalyptische Visionäre beschränkt. Wir müssen uns auch nicht künstlich hineinsteigern in eine Endzeitstimmung, um erkennen zu können, wie bedroht, schwankend, ja geradezu abgründig der Boden ist, auf dem wir einhergehen, fast nicht mehr denn ein Schatten. Dem Gottesfürchtigen ist zu allen Zeiten klar gewesen: „Siehe, meine Tage sind eine Handbreit vor dir, und mein Leben ist wie nichts vor dir. Wie gar nichts sind alle Menschen, die doch so sicher leben“ (Ps 39, 6).
Das Zerbrechliche des menschlichen Daseins, ja alles dessen, was überhaupt existiert, gehört zu den Bedingungen unserer Existenz hinzu. Wir lernen von früh auf, damit umzugehen. Und doch gibt es Momente, in denen uns die Erfahrung, schwach zu sein, angreifbar, verfolgbar, aufs Tiefste trifft. Davon ist hier die Rede. Gegen diese Bedrohung wird eine klare Forderung gesetzt: Obwohl es Euch so geht, obwohl Ihr fern von jeder Sicherheit seid, sollt Ihr dennoch ausharren. Das Widerfahrnis soll nicht geleugnet werden, sondern wir sollen lernen, es auf rechte Weise hinzunehmen.
Für uns klingt eine solche Aufforderung völlig anders als für jemanden, dem die Dauer der Welt ohnehin aufs äußerte begrenzt erschien, weil ja binnen kurzem der erhöhte Herr zurückkehren werde. Wenn wir sie aber auf uns beziehen, dann kann sie nur so verstanden werden: „Harre aus.“ Das bedeutet: Bleibe standhaft. Laß Dich nicht um Dich selbst bringen. „Überwinde.“ Das bedeutet: Bleibe in Deiner Standhaftigkeit Du selbst.
Das ist der entscheidende Punkt. Von ihm aus möchte ich die Worte des apokalyptischen Sehers an die Gemeinde in Smyrna auch uns gelten lassen. Gewiß besteht ein krasser Abstand zwischen der Weltsicht jener frühen Christen und der unsrigen. Aber wissen denn nicht auch wir, und vielleicht mindestens genauso stark wie sie, um die Vorläufigkeit alles dessen, was unsere Welt ausmacht? Wir sprechen davon in anderen Bildern, aber die Sache selbst ist doch sehr verwandt. Der Glaube, die Verbundenheit mit Gott, hat doch in seinem Kern gerade mit diesem Gefühl und Wissen um die wahre Natur der sogenannten „Wirklichkeit“ zu tun. Wenn die biblischen Schriften und viele religiöse Autoren aller Zeiten uns Auskunft darüber geben wollen, so sprechen sie natürlich ihre Sprache. Aber das Wesentliche ist, was sie sagen, nicht, wie sie es tun.
„Wer überwindet, dem soll kein Leid geschehen von dem andern Tode“, das heißt bis zur Stunde des endgültigen Gerichtes und göttlichen Urteils. Und auch dann wird er, wie es an späterer Stelle in der Apokalypse heißt, dem Tod nicht anheimfallen, denn dieser hat keine Macht über alle, die der Auferstehung teilhaftig werden (Offb 20, 6). „Überwinden“ bedeutet: Standhaft sein, ausharren, sich nicht selbst aufgeben, wenn einen die Welt mit ihrer harten Hand angreift. Wer sich aufgibt, unter dem Leid zusammenbricht, ohne sich wieder erheben zu können, der unterwirft sich ihm und macht sein eigenes Leben zur Stätte des Elends.
Wir bezeichnen uns selbst als religiöse Menschen. Was bedeutet das für das Problem des Todes? Ich möchte es ganz schlicht so sagen: Es gibt nur eine einzige religiöse Art, den Tod zu betrachten. Sie ist zugleich die einzige, die der Seele keinen Schaden zufügt, indem sie von vornherein der Gewalt des Todesgedankens entgegentritt und ihm keine zerstörerische Macht über unser Leben einräumt. Diese einzige religiöse Art ist, den Tod als Teil unserer Wahrheit zu begreifen und zu empfinden. Nicht geradezu als eine „heilige Bedingung“, wie Thomas Mann im „Zauberberg“ seinen klugen Humanisten zu dem orientierungsbedürftigen Helden sprechen läßt. Aber wohl als einen unlösbaren Bestandteil, als nicht zu beseitigende Bedingung, unter der wir überhaupt nur leben können. Wir sind uns dessen bewußt, daß das Leben seine unüberschreitbare Begrenzung hat, daß es einen gesetzten Schlußpunkt gibt und daß es Leben überhaupt und an und für sich nur in der unaufhebbaren Bewegung von Aufgang und Niedergang, von Beginn und Ende geben kann.
So ist den Christen in Smyrna in all ihrer Bedrängnis und Todesgefahr dieses Wort „Tod“ gerade nicht die Quelle der Verzweiflung, sondern es knüpft sich ihnen daran die Ermutigung, die Kräfte anzuspannen und den Lauf allem zum Trotz nicht abzubrechen. Genau das sei heute, an diesem Vorletzten Sonntag des ablaufenden Kirchenjahres, auch uns gesagt. Lassen Sie uns festhalten an unserer Hoffnung. Wir wollen mutig und lebensfroh bleiben, unerschüttert bei uns und standhaft. „Sei getrost bis an den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben.“
Amen.
Verwendete Medien:
Ernst Lohmeyer: Die Offenbarung des Johannes (Handbuch zum Neuen Testament. Band 16), Tübingen 1970.
Thomas Mann: Der Zauberberg. Roman (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Band 5/1), Frankfurt am Main 2002. (Lodovico Settembrini spricht im Kapitel „Ewigkeitssuppe und plötzliche Klarheit“ zu Hans Castorp vom Tod als „Bestandteil und Zubehör, als heilige Bedingung des Lebens“.)
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