Die christliche Unterscheidung - Predigt zu Römer 6,19-23 von Matthias Wolfes
6,19-23

Die christliche Unterscheidung - Predigt zu Römer 6,19-23 von Matthias Wolfes

Die christliche Unterscheidung

„Ich muß menschlich davon reden um der Schwachheit willen eures Fleisches. Gleichwie ihr eure Glieder begeben habet zum Dienst der Unreinigkeit und von einer Ungerechtigkeit zur andern, also begebet auch nun eure Glieder zum Dienst der Gerechtigkeit, daß sie heilig werden. Denn da ihr der Sünde Knechte wart, da wart ihr frei von der Gerechtigkeit. Was hattet ihr nun zu der Zeit für Frucht? Welcher ihr euch jetzt schämet; denn ihr Ende ist der Tod. Nun ihr aber seid von der Sünde frei und Gottes Knechte geworden, habt ihr eure Frucht, daß ihr heilig werdet, das Ende aber ist das ewige Leben. Denn der Tod ist der Sünde Sold; aber die Gabe Gottes ist das ewige Leben in Christo Jesu, unserm HERRN.“ (Jubiläumsbibel 1912)

Liebe Gemeinde,

es ist dem Apostel bitterer Ernst; sein Ton läßt daran keinen Zweifel. Und das entspricht auch dem, was er zu sagen hat: Es geht um „die letzten Dinge“ des religiösen Lebens, um die Grundunterscheidung schlechthin, um das „Entweder – Oder“ des Glaubens.
Scharf fährt Paulus die römischen Christen an: Um der „Schwachheit eures Fleisches willen“ muß er „menschlich“ reden. „Menschlich reden“ heißt hier: Sie damit konfrontieren, daß sie den „Dienst der Unreinigkeit“ versehen und darin „von einer Ungerechtigkeit zur anderen“ schreiten.

I.

Nun kann man sich fragen, wie der Apostel dazu kommt, den Christen der römischen Gemeinde solche Vorwürfe zu machen. Er schreibt von Korinth aus, und was er von den Glaubensgeschwistern der Kapitale wissen kann, dürfte wenig genug gewesen sein. Es empfiehlt sich daher, ruhig an die Sache heranzugehen. Worum es Paulus wirklich geht, ist nicht die Analyse eines faktisch verfehlten Lebens. Er will vielmehr der Mahnung, die er an diesen finsteren Auftakt anschließt, um so größeren Nachdruck verleihen. Und hier ist denn nun von der großen Unterscheidung die Rede. Es ist die Unterscheidung zwischen einem Leben, das aus sich selbst heraus geführt wird, und einem solchen, das sich der Bindung an Gott unterwirft. Im ersten Fall ist der Selbstverlust die unausweichliche Folge, im anderen aber gewinnt man sich selbst in Gestalt des „Ewigen Lebens in Christo Jesu“.
Diese Schlußfolgerung – Tod oder Ewiges Leben als Konsequenz des geführten Lebens – mag uns nun erscheinen wie eine rhetorisch etwas aufgeblähte Interpretation klassischer Weisheit. Es ist ja klar, daß es sich um Chiffren handelt, und von hier aus stünde der Weg offen, den ganzen Komplex „Tod“ als Inbegriff eines sinnlosen, irregeleiteten Lebens zu verstehen, während sich der Gegenbegriff auf eine sinnvolle, erfüllte, bedeutsame Existenz richtet, zu der die Kraft aus dem Vertrauen auf Gott erwächst.

II.

Mir kommt es aber heute auf etwas anderes an. Ich möchte das Gewicht auf die rednerische Ausführung legen, in der Paulus seinen Gedanken ausdrückt. Er demonstriert, daß wir die Wirklichkeit in Gegensätzen deuten. Was „Gerechtigkeit“ ist, verstehen wir aus dem Gegensatz von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. „Heilig“ bekommt seinen Sinn aus dem Gegensatz von Heilig und Unrein. „Sünde“ erwächst aus orientierungsloser Ungebundenheit; als „Knecht Gottes“ aber ist man von ihr frei. Doch nicht an dieser dualistisch anmutenden Konstruktion ist Paulus interessiert. Er trägt seine Gegensätze vor, um die Gegensätzlichkeit als solche in ihrer daseinsbestimmenden Endgültigkeit offenzulegen. Er spricht von definitiven Bestimmungen des menschlichen Daseins, und diese Bestimmungen lauten „Tod“ und „Ewiges Leben“.
Der Ungerechtigkeit, der „Unreinigkeit“ der Sünde (im Sinne von Verlorenheit an das Bedeutungslose), entspricht als endgültige Daseinsbestimmung der Tod. Im Gegensatz dazu ist das „Ewige Leben“ der Gerechtigkeit, der Heiligkeit (im Sinne eines verantwortlich und sittlich anspruchsvoll geführten Lebens) und der Bindung an Gottes Herrschaft zugeordnet.

III.

In „Christo Jesu“ ist das Ewige Leben aber deshalb, weil Christus das Urbild, der Inbegriff aller moralischen und göttlichen Vollkommenheiten und also der Begriff der Menschheit schlechthin ist. Er ist der reine, sündlose Mensch, angeschaut unmittelbar als eine Person, als Individuum.
Die radikale und in gewisser Weise geradezu dramatische Szenerie, die Paulus entwirft, setzt eine eigentümliche Sicht auf die Welt voraus. Nicht nur lebt der Christ in ihr wie ein Gast, wie ein kurzfristiger Besucher; sondern das Ende, also die überschaubare Befristung des weltlichen Wesens, ist überhaupt die Grundlage. Wie stehen in dieser Hinsicht dem Ganzen der Wirklichkeit anders gegenüber. Doch scheint es mir bedeutsam und wichtig zu sein, daß wir uns die Unbedingtheit immer wieder vor Augen stellen, mit der der christliche Glaube in seinen Anfangszeiten und dann noch sehr lange unlösbar verknüpft gewesen ist.
Das Wissen vom nahen Weltende bildet den Ausgangspunkt. Es gibt auch den Rahmen für die Deutung Christi vor: Gott ist als Mensch erschienen und damit der Anfang vom Ende der Welt eingeleitet. In dieser Stunde geht es nur noch – das heißt: in aller Ausschließlichkeit – darum, sich dem Urbild möglichst gleichförmig zu machen. Alle weltlichen Bezüge werden gleichgültig; das Streben des Christen ist allein auf Gott und die Realität seines himmlischen Reiches gerichtet.

IV.

Wo das himmlische Leben eine Wahrheit ist, versinkt das irdische Leben in Bedeutungslosigkeit. Das himmlische Leben kann aber nicht Gegenstand meines Glaubens sein, ohne zugleich auch meine Handlungen zu bestimmen. Mein Leben stimmt nur dann mit meinem Glauben überein, wenn ich mich nicht an die vergänglichen, an sich nichtigen und wertlosen Dinge dieser Erde knüpfe.
Das ist der Grundappell des Paulus und einer Vielzahl altkirchlicher und mittelalterlicher Prediger; es ist ein elementarer Zug der klassischen christlichen Predigt. „Auf nichts kommt es so sehr an in diesem Leben wie darauf, es so schnell wie möglich zu überschreiten“ (Tertullian). „Wer das Himmlische begehrt, dem schmeckt nicht das Irdische. Wer nach dem Ewigen verlangt, dem ist das Vergängliche zum Ekel“ (Bernhard von Clairvaux). 
Das ist der Sinn jener Worte über den Gegensatz von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. Für Paulus und das klassische Christentum ist ganz klar: Die moralische Beschaffenheit des christlichen Lebens ist bestimmt durch den Glauben an das Ewige Leben. Natürlich ergibt sich hieraus das Modell eines asketisches Lebens, mehr noch aber handelt es sich um die Abkehr von der Welt als solcher.

V.

Paulus ruft auf zu einer bestimmten Form von Askese. Bestimmt ist sie durch die negative Haltung zu allem Weltlichen. Es geht nicht (wie bei Max Webers „Innerweltlicher Askese“) darum, sich im Beruf zu bewähren, sondern entscheidend ist die Ablösung aus den Bindungen der Weltlichkeit an und für sich. Die Welt ist die Antistätte, der Un-Ort christlichen Daseins; sein wahrer Ort ist die himmlische Wirklichkeit, die Gott dem Gläubigen eröffnet. „Der ist vollkommen, der geistig und leiblich von der Welt geschieden ist“ (Bernhard). Nicht nur bei Luther wird dieser Gedanke konsequenterweise bis zu einer wahren Todessehnsucht gesteigert: „Darum sollte man lieber einem Christenmenschen raten, daß sie die Krankheit mit Geduld tragen, ja auch begehren, daß der Tod komme, je eher, je lieber. Denn es ist nichts Nützlicheres einem Christen denn bald sterben.“
Man kann über diese Unbedingtheit der Glaubensauslegung erschrecken, und vielleicht darf man auch nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Aber es ist dennoch dies die Sicht, die sich auch in den Worten des Apostels Paulus an die römischen Christen ausspricht.
Das himmlische Leben und nur das himmlische Leben ist das wahre, das beständige, das ewige Leben des Christen. Ihm gilt es entgegenzustreben, und zwar mit aller Kraft. „Nicht vollkommen sein wollen, heißt sündigen“ (Hieronymus). Die Loslösung muß vollständig sein. „Die in das Paradies aufgenommen werden wollen, müssen davon ablassen, wovon das Paradies frei ist“ (Tertullian).

VI.

Nun hat es keinen Sinn, Maximen dieser Art einzuschärfen, wenn man an einem Konzept verantwortlicher Lebensgestaltung interessiert ist. Und das sind wir; darin unterscheidet sich wohl auch das neuere Christentum in der Tat von dem alten. Wir wollen Christen sein nicht gegen die Welt, sondern in ihr. Wir betrachten sie als die Welt Gottes, wir sehen uns als von Gott in sie hineingestellt, und unsere Aufgaben liegen innerhalb ihrer, nicht in der esoterischen oder sonstwie mystisch angehauchten Erwartung eines himmlischen Lebens. Die Rede vom Paradies erscheint uns verdächtig, wenn sie dazu dienen soll, unsere Stellung innerhalb dieser realen Lebenswirklichkeit zu untergraben und zu vergleichgültigen.
Und dennoch: Das christliche Ethos geht in seinen Wurzeln auf ein Entweder – Oder zurück. Dessen sollen wir uns bewußt sein. Es wirkt sich bis auf uns aus; es ist dies unsere Tradition. Auch das Leben des heutigen, modernen, weltzugewandten Christen verlangt Entscheidungen. Entscheidungen aber setzen Gegensätze voraus, und aus diesen Gegensätzen ist der von Gerecht und Ungerecht gewiß nicht der unbedeutendste. In diesem Sinne ist „Heiligkeit“, „heilig“ zu sein, wie Paulus es sagt, das zeitlose, uns mit den Christen aller Zeiten verbindende Ziel der gläubigen Existenz.

Amen.


Verwendete Medien:
Ulrich Wilckens: Der Brief an die Römer. Teilband 2: Röm 6 – 11) (Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament. Band VI / 2), Zürich / Einsiedeln / Köln und Neukirchen-Vluyn 1980.
Ludwig Feuerbach: Das Wesen des Christentums. Herausgegeben von Werner Schuffenhauer und Wolfgang Harich. Zweite, durchgesehene Auflage (Gesammelte Werke. Band 5), Berlin 1984. Die im Text angeführten Zitate stammen aus Kapitel XVIII der Ausgabe von 1843.