Die Gewissheit, das Schöne zu finden in allem, was lebt
Liebe Gemeinde,
jetzt ist es endlich still geworden. Alle Unruhe der Vorbereitungen ist abgeklungen, und wir haben uns hier versammelt, um Gottesdienst zu feiern. Wir wollen uns öffnen für das Weihnachtsgeschehen. Der Zauber, der nicht nur für die Kinder auf diesem Tag liegt, die besondere Atmosphäre lässt unsere Seelen suchen nach Gott. Vielleicht spüren wir die heilige Gegenwart Gottes an diesem Tag so deutlich wie sonst nie im Jahr. Wo ist Gott? Gibt es ihn für mich? Kann ich ihm begegnen inmitten meiner gegenwärtigen Lebenssituation? Wie schön wäre es, wenn uns an diesem Abend etwas ergreifen könnte, etwas, das uns übersteigt, etwas Liebevolles und Tröstliches, das uns das Gefühl gibt, in dieser Welt nicht verloren zu sein. Das Geheimnis von Weihnachten – wir sehnen uns danach, damit in Berührung zu kommen und haben es nicht in der Hand. Doch wir können uns für das öffnen, was uns in den alten Liedern und Texten begegnet.
Von dem Geheimnis spricht auch der Predigttext für diese Stunde. Es ist ein einziger Vers - 1. Timotheus 3,16:
Groß ist das Geheimnis des Glaubens:
Er ist offenbart im Fleisch,
gerechtfertigt im Geist,
erschienen den Engeln,
gepredigt den Heiden,
geglaubt in der Welt
aufgenommen in die Herrlichkeit.
Groß ist das Geheimnis des Glaubens.
Dieser kurze Hymnus nimmt uns mit hinein in eine große Bewegung aus menschlichem Elend hoch hinauf zu Gottes Geist und sogar bis zu den Engeln, dann wieder hinunter zu den Völkern der Erde und all ihren Nöten und wieder hinauf in den Himmel in die Herrlichkeit Gottes. Mehrmals geht diese Bewegung von unten nach oben und zurück. Himmel und Erde werden in diesem Lied geradezu miteinander verwoben, sie durchdringen sich gegenseitig, sie berühren sich in dieser Nacht.
In einem Stall liegt ein Neugeborenes in einer Krippe. Gleichzeitig singt ein Engelchor über den Feldern von Bethlehem, preist Gott und verkündet Frieden auf Erden. Wer in dieser Nacht nur mit bloßem Auge schaut, wer ganz irdisch ist, sieht vermutlich nur die Menschen mit ihrem Neugeborenen im Stall.
Wenn wirklich Friede ist, müsste dann nicht das Neugeborene wenigstens in einem normalen Haus liegen? Müssten dann nicht alle Elendslager überflüssig sein? Müsste dann nicht jede Grausamkeit aufgehört haben? So denken wir, wenn wir unten sind auf der Erde.
Doch diese Nacht nimmt uns mit hinauf, bis zu den Engeln. Diese Nacht öffnet uns den Blick, zeigt es uns in Bildern: Gott ist in der Welt! Im Alltäglichen, im Unscheinbaren, „im Fleisch“. Und er verändert die Dinge. So wie eine Kerze die Dunkelheit hell macht. Die Worte der Propheten reden davon, die alten Lieder singen davon. Das Volk, das im Finsteren wandert, sieht ein großes Licht. Viele sehen es. Nicht alle. Es ist nicht offensichtlich, dass Gott da ist. Es ist ein Geheimnis. Und die, die es sehen, sind nicht mehr in der Dunkelheit verloren.
Maria, die Mutter des Kindes, freut sich. Sie hat den himmlischen Blick. Sie weiß, dieses Kind wird an der Seite der Armen und Schwachen stehen. Wird heilen, trösten, lieben. Ihnen zu ihrem Recht verhelfen. Dieses Kind wird Mächtige vom Thron stürzen.
Das ist ja auch immer wieder geschehen im Lauf der Geschichte. Aber warum müssen wir darauf oft so lange warten? Flüchtlingslager und Gewalttaten hat es immer gegeben.
Liebe Gemeinde: Gott verhindert das Leid nicht. Das gehört auch zum Geheimnis dieser Nacht. Gott leidet selber. Er ist denen, die leiden, nahe. Er zeigt uns in schweren Zeiten, wo wir Trost finden können. Er zeigt uns, wie wir Hass in Liebe verwandeln können. Er zeigt uns wie wir standhalten können, weil wir eine Hoffnung haben. Er zeigt uns mitten im Irdischen das Himmlische. Er ist da. Und dadurch ist alles in ein anderes Licht getaucht.
Wenn wir einen Gott haben wollen, der gleich alles in Ordnung bringt, werden wir in dieser Nacht enttäuscht. Gott ist anders. Gott ist Liebe. Er tritt zu uns in Beziehung und geht mit uns. Das ist unglaublich. Gottes Geist öffnet uns dafür Herz und Augen.
die gewissheit, das schöne zu finden in allem, was lebt,
nennen wir seit alters her gott*
schreibt Dorothee Sölle in einem Gedicht über die Allgegenwart Gottes.
Das Schöne finden in allem? Können wir das wirklich?
Wie ist das, wenn mich jemand verletzt?
Wie ist das, wenn ich selber Fehler gemacht habe?
Wie ist das bei den elenden Missverständnissen?
Bei all meinen Sorgen?
Wie ist das, wenn jemand stirbt, der für mich sehr wichtig war?
Wie ist das bei Krieg, Hunger, Gewalt?
Ist in alledem Gott?
Ja. In alledem ist Gott. In alledem gibt es Kostbares für uns zu entdecken. Groß ist das Geheimnis des Glaubens. Viele haben schon vor uns aus diesem Glauben gelebt. Ihre Geschichten sind ein Vermächtnis. Schön wäre es, könnten wir uns gegenseitig erzählen von Momenten, in denen Himmel und Erde sich berührt haben. Wo wir beschenkt wurden von der Berührung eines Kindes, von Bewahrung in Gefahr, von beglückenden Momenten mitten in schwerer Zeit.
Bei allem, was mir widerfährt, ist Christus neben mir. Was schlimm ist, hält er mit mir aus. Wenn ich missverstanden werde, versteht er mich. Wenn ich etwas versäumt habe, verzeiht er. Dann ist es schon leichter, mit den Mitmenschen zu sprechen. Wenn ich traurig bin, kann ich mich bei ihm ausweinen. Er schenkt mir einen anderen Blick auf schwierige Mitmenschen. Er fordert mich heraus mit der Frage, was ich von ihnen lernen kann. Er lehrt mich, mit den Augen der Liebe zu schauen und mit Liebe im Herzen zu reden. Er zeigt mir, dass es erfüllend sein kann, lange auf etwas zu warten. Er erweitert meine Grenzen. Bringt mir Humor bei und mit mir selber barmherzig zu sein. Lenkt meinen Blick auf das Viele, womit ich beschenkt bin. Lehrt mich, dass es in meinem Leben Dinge geben darf, die sich nicht erfüllen. Er fordert mich auf, nicht nur für mich zu leben. Mich einzusetzen für die, die Hilfe brauchen. Die Toten, um die ich trauere, weiß ich bei ihm gut aufgehoben. Er schenkt mir unvergängliche Freude. In allem ist der Himmel. Ganz besonders in Momenten innigen Verstehens mit anderen Menschen. Vielleicht sind sie selten. Vielleicht musste ich lange darauf warten. Doch wenn sich dieses Wunder ereignet, dann singe ich mit Freudentränen in den Augen: Heut schließt er wieder auf die Tür zum schönen Paradies. Ja, Himmel und Erde können sich berühren mitten in der Nacht.
Sehen wir, wie die dunkle Nacht von himmlischer Klarheit durchleuchtet wird? Hören wir die Engelchöre? Lassen wir uns mit hinauf nehmen bis in Gottes Herrlichkeit? Vielleicht bekommen wir in dieser Nacht wieder eine Ahnung von alledem. Wir feiern diese Nacht gemeinsam. Auch davon geht Kraft aus.
Groß ist das Geheimnis des Glaubens.
Amen.
*Dorothee Sölle, verrückt nach licht. Gedichte, Berlin 1984, S. 168