"Die Kraft der Erwartung", Predigt über Jesaja 35, 3-10 von Gunda Schneider-Flume
35,3
Die Kraft der Erwartung
Advent, liebe Gemeinde – Zeit der Erwartung, Zeit der freudigen Erwartung, die Jubel auslöst. Aus der Erinnerung steigt die Erwartung auf: Es gibt mehr, als das, was alltäglich vor Augen ist. Erwartung geht über die Grenzen dessen, was jetzt Wirklichkeit ist, hinaus. Der Lichterglanz der weihnachtlich geschmückten Straßen und Häuser weckt Erwartungen. Kinder erwarten das große Fest und alle Tage zählen sie am Adventskalender gespannt, wie viele Tage es noch dauert bis sie vielleicht das sehnsüchtig erwartete rote Fernsteuerauto, das sie schon so lange wünschen, bekommen. Möge ihnen die Kraft der Erwartung erhalten bleiben, und mögen Erwachsene sich immer wieder an Erwartungen der Kinderzeit erinnern können!
Eltern sind in Erwartung, sicher auch in Sorge, ob die Zeit für alle Vorbereitungen noch reicht. Man erwartet den Besuch der erwachsenen Kinder, die ganze Familie kommt zusammen. Man erwartet einen Gast. Gewiss, es gibt auch Stöhnen, mitunter tiefes Seufzen bei allen, die unter der Last von Vorbereitungen leiden in den Geschäften, in den Kaufhäusern, bei der Post, zu Hause. Aber oft ist die freudige Erwartung doch noch größer als die Müdigkeit. Man kann die Erwartung an den Gesichtern und an der Haltung der Menschen ablesen. Erwartung macht Menschen aufrecht, den Gang fest und in den Gesichtern strahlt schon etwas von dem Erwarteten.
Doch es gibt auch bange Erwartung. Wird die Familie noch einmal zusammenfinden oder werden die alten Gräben wieder aufbrechen? Man ahnte es ja schon vorher und erwartete nichts Gutes. Schlechte Erinnerungen provozieren schlechte Erwartungen. Das Urteil „Es bleibt doch alles beim Alten“ hält alle gefangen und lähmt. Freude kann nicht aufkommen.
Es gibt bange Erwartungen von Trauernden: Wie soll ich die Festtage begehen ohne meinen verstorbenen Partner? Werde ich das Alleinsein ertragen?
Was mögen die Erwartungen der Fliehenden in Kriegsgebieten sein? Wann ist der nächste Raketeneinschlag zu erwarten? Was sind die Erwartungen der Gefangenen in Lagern? Der Dichter Liao Yiwu berichtet davon. Gequälte können nichts erwarten über die alltägliche Drangsal hinaus. Können die im Bürgerkrieg in Syrien flüchtenden Christen an einen Advent noch denken?
Bange Erwartungen machen Angst, und sie machen müde, unendlich müde, bis schließlich die Kraft der Erwartung erlischt. Auch zerbrochene Erwartungen kann man an der menschlichen Gestalt ablesen. Müde Menschen mit zerstörten Erwartungen gehen gebeugt mit gesenktem Haupt und schleppendem Schritt, und sie sehen nicht mehr über die Grenzen dessen hinaus, was jetzt gerade Realität ist. Manchmal erwarten sie gar nichts mehr, sie können nichts mehr erwarten, es ist, als ob die innere Spannkraft in ihnen erloschen ist.
Liebe Gemeinde, der Predigttext zum heutigen 2. Adventssonntag weckt neue Erwartungen, freudige Erwartungen, Jubel. Ich lese den Text aus dem Buch des Propheten Jesaja im 35. Kapitel:
Jesaja 35, 3–10
3 Stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie!
4 Sagt den verzagten Herzen: „Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott! Er kommt zur Rache; Gott, der da vergilt, kommt und wird euch helfen.“
5 Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden.
6 Dann werden die Lahmen springen wie ein Hirsch, und die Zunge der Stummen wird frohlocken. Denn es werden Wasser in der Wüste hervorbrechen und Ströme im dürren Lande.
7 Und wo es zuvor trocken gewesen ist, sollen Teiche stehen, und wo es dürre gewesen ist, sollen Brunnquellen sein. Wo zuvor die Schakale gelegen haben, soll Gras und Rohr und Schilf stehen.
8 Und es wird dort eine Bahn sein, die der heilige Weg heißen wird. Kein Unreiner darf ihn betreten; nur sie werden auf ihm gehen; auch die Toren dürfen nicht darauf umherirren.
9 Es wird da kein Löwe sein und kein reißendes Tier darauf gehen; sie sind dort nicht zu finden, sondern die Erlösten werden dort gehen.
10 Die Erlösten des Herrn werden wiederkommen und nach Zion kommen mit Jauchzen; ewige Freude wird über ihrem Haupte sein, Freude und Wonne werden sie ergreifen, und Schmerz und Seufzen wird entfliehen.
Was für eine Erwartung, was für eine Hoffnung! Gott kommt, die Erwartung auf dieses Ereignis will der Prophet wecken, auch bei Müden und Gebeugten, die voller Angst sind und weiche Knie haben, ihnen allen ruft der Prophet zu: „Seid getrost, fürchtet euch nicht, da ist euer Gott.“
Das Volk Israel hatte eine schwere Zeit hinter sich, ein lange währendes Exil in Babylon. Die Folgen der Gefangenschaft, die schlechten Erfahrungen und die Angst ließen die Rückkehrer nicht los, sie lähmten sie. Sie konnten nicht mehr über die Mauern ihrer Unterdrückung und Demütigung im fremden Land blicken. Das Elend war für sie zur einzigen Wirklichkeit geworden. – Wie ermutigt man Menschen, die so müde geworden sind, dass sie nichts mehr erwarten? Menschen, die all ihre Spannkraft verloren haben, weil ihre Hoffnungen immer wieder enttäuscht wurden? Lieber keine Erwartungen mehr als neue Enttäuschungen, so heißt dann die Klugheitsregel. Es bleibt doch alles beim Alten.
In diese Situation hinein ruft der Prophet: „Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott! Er kommt zur Rache, Gott, der da vergilt kommt und wird euch helfen.“
Rache – ein uraltes Gesetz, eine uralte menschliche Gegebenheit. Jedes Unrecht, jede Verletzung verlangt Vergeltung: Auge um Auge, Zahn um Zahn, unerbittlich. Wir kennen Rachewirklichkeiten unter Kindern, unter Jugendlichen, unter Erwachsenen. Menschliche Rache führt rasch zu einer Spirale der Gewalt. Immer wieder. Alle Tage sehen wir Bilder von Rachewirklichkeiten von Kriegsschauplätzen überall auf der Welt, aber auch aus friedlichen Ländern, auch in unserer Stadt ist Rache alltägliche Wirklichkeit. Überall, wo es mit einem Anflug von Schadenfreude heißt: „Das geschieht ihm recht“, geht es um so etwas wie heimliche Rache.
Liebe Gemeinde, in einer Welt, in der die Rache die alltäglichste, normalste Wirklichkeit ist, tritt Gott mitten hinein in die menschliche Rachewirklichkeit. „Mein ist die Rache“ lautet das alte Gotteswort. Wenn Gott zur Rache kommt, ist den Menschen die Rache entzogen, denn Gott nimmt alle Rache auf sich. Aber Gott ist nicht so konsequent, wie Menschen es erwarten und vielleicht auch insgeheim wünschen. In Gott verwandelt sich die Rache. Der Prophet Hosea hat schon diese wunderbare Verwandlung verheißen: „Mein Herz ist andern Sinnes, alle meine Barmherzigkeit ist entbrannt. Ich will nicht tun nach meinem grimmigen Zorn … Denn ich bin Gott und nicht ein Mensch.“ So ist es mit der göttlichen Konsequenz.
Gott kommt zur Rache – als Kind in der Krippe, er kommt zur Vergeltung – als der, der sich hingibt am Kreuz. Das widerspricht menschlichen Erwartungen.
Das Kreuz Jesu Christi ist der Ort, an dem sich alle Lebenszerstörung, alle Lieblosigkeit, alle Gottvergessenheit zusammenballen, Ort der Rache an einem Unschuldigen, Ort der Rache an dem Gott der Liebe. An diesem Ort hat der allmächtige Gott die Rache auf sich selbst gezogen und überwunden. Deshalb ist Menschen die Rache entzogen: Den Gewalttätern und den Unterdrückern, denen die sich heimlich rächen und ihre Kollegen übervorteilen, und denen, die ihre Kameraden drangsalieren; denen die wütend murmeln: das geschieht ihm recht, ist die Rache entzogen.
Liebe Gemeinde, die Adventszeit ist seit alters die Zeit der Buße, der Umkehr, weil Gott zum Gericht kommt. Wenn Gott zum Gericht kommt, wird alles aufgedeckt, nichts bleibt verborgen. Gottes Gericht bringt menschliche Wirklichkeit zurecht, Gottes Kommen unterbricht menschliche Rachewirklichkeit mit Heil. Der Prophet kündet davon in wundervollen Hoffnungsbildern. Er provoziert Erwartungen und Hoffnungen, Sehnsüchte und Wünsche, und was für welche! Das ist kaum zu glauben!
Die Wüste blüht, es gibt Wasser, Lebensstoff, die Blinden sehen, die Lahmen springen, es gibt einen Weg in der Unwegsamkeit der Wüste und in der Aussichtslosigkeit der eigenen Resignation und Verzweiflung. Was sind das für Hoffnungsbilder, die der alte Prophet ausruft! Man kann in der Bibel, insbesondere im Buch Jesaja, verfolgen, wie die großartigsten Hoffnungsbilder gesammelt werden, um die unfassbare Erfahrung zur Sprache zu bringen, dass Gott zu den Menschen kommt. Da wird Licht sein in der Finsternis, Friede zwischen Menschen und zwischen Menschen und Tieren, da wird ein Weg durch die Wüste sein.
Jesus von Nazareth hat mit den prophetischen Heilsbildern aus dem Jesajabuch das Wesen seines Auftrags umschrieben. Auf die Frage Johannes des Täufers: „Bist du es, der kommen soll, oder sollen wir auf einen anderen warten?“ antwortet Jesus mit einem Zitat aus unserem Predigttext: „Blinde sehen und Lahme gehen“, und er fährt fort, „Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf, und Armen wird das Evangelium gepredigt.“
Liebe Gemeinde, wenn Gott kommt, bleibt nichts „beim Alten“. Menschen geraten neu in Bewegung. Sie beginnen zu hoffen und zu wünschen. Wer wunschlos ist, der ist nicht glücklich, sondern verstorben, hat einmal ein kluger Politiker gesagt. Wer wunschlos ist, der ist nicht glücklich, sondern verstorben, denn er hat sich vergraben in einer Weltsicht ohne Erwartungen, ohne Hoffnung, ohne Horizont. Das ist in der Politik nicht anders als im persönlichen Leben. In einer solchen Weltsicht ist die Hoffnung ein Störfaktor.
Wenn Gott kommt, wird diese Weltsicht aufgebrochen, denn Gott provoziert neue Erwartungen und Hoffnungen, Sehnsüchte und Wünsche. Die Wüste beginnt zu blühen. Das ist wie eine Vision. Sind das Utopien, zu schön, um wahr zu sein? Die blühende Wüste, in der sich Teiche erstrecken, wo Dürre war? Das sind überschwängliche Hoffnungsbilder. Sie können annähernd fassen, was sich ereignet, wenn Gott kommt: neue Lebensmöglichkeiten, wo wir keine Möglichkeiten mehr sehen, neuer Mut, wo nur Angst herrschte, Vertrauen, wo nur Hass war. Diese Bilder malen mehr als alles. Menschen werden aus der Wüste ihrer erstorbenen Erwartungen, ihrer versteinerten Herzen, ihrer verlorenen Hoffnungen herausgeholt.
Geht es uns nicht gelegentlich auch so in der Adventszeit? Irgendwo durch Musik und Lichterglanz eine kurze Erinnerung an ein Weihnachtsfest, Erfahrung von Menschenfreundlichkeit und Freude. Gottes Kommen weckt Erwartungen und Hoffnungen. Ich darf dürfen wünschen wie Kinder wünschen.
Wo Gott kommt, gibt es kein normalerweise. Wo Gott kommt, werden Menschen wunderbar verändert. Sie erheben ihr Haupt. Sie sehen neue Möglichkeiten, sie hören, was ihnen vorher verschlossen war. Ist das Utopie, Wunschbild im Nirgendwo? Es ist Hoffnungsbild für Erfahrungen, die Menschen machen, wenn Gott kommt. Ist das nicht auch meine Erfahrung? Es gibt Tage, da sehe ich nichts mehr, es ist alles dunkel, aber es kommt jemand, nimmt mich an der Hand, führt mich und schiebt mir buchstäblich einen Weg unter die Füße. Langsam, Schritt für Schritt, sehe ich wieder Licht, weil ich nicht meiner Blindheit vertraue, sondern dem anderen.
Der Prophet malt ein weiteres Hoffnungsbild: Da wird eine Bahn sein, ein Weg, auf dem es kein Umherirren und keine Gefahr von reißenden Tieren gibt, die in der Wüste Palästinas bedrohlich gegenwärtig waren. Der verheißene Weg ist Weg in der Wüste, wo es normalerweise keinen Weg gibt.
Gottes Kommen schafft einen Weg auch für die, für die es vermeintlich keinen Weg mehr gibt, denen vermeintlich nicht mehr zu helfen ist. Sollte es so nicht denen gehen, die einen Weg zum Frieden suchen in der Friedlosigkeit der Welt? Es ist nichts zu sehen als Hass, es ist nichts zu hören als Granaten und Raketen. Die Friedensucher und Friedensstifter finden sich damit nicht ab. Insofern sind sie wahrhaftig keine Realisten. Sie suchen mehr, einen Weg, auf dem Vertrauen wächst und gegenseitige Solidarität, Frieden. Wo die Suche nach diesem Weg beginnt, ereignet sich das Kommen Gottes. Es ereignet sich das, was der Beter des Psalms beschreibt: „Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen“.
Liebe Gemeinde, der da kommt, kommt nicht mit Gewalt, sondern als Kind mit der Macht der Liebe. So eröffnet sich ein neuer Weg, eine wunderbare Bahn. Die Rache bleibt hinten, sie ist Menschen entzogen, sie ist abgetan, abgetan bleiben Hass, Lebensfeindschaft und Lieblosigkeit. Auch das ist wie ein Traum unter Menschen. Aber so ist Gott. Er löst Menschen aus Hass und Rachewirklichkeit und bittet um Versöhnung, damit Menschen neu leben können.
„Die Erlösten des Herrn werden wiederkommen und nach Zion kommen mit Jauchzen: ewige Freude wird über ihrem Haupte sein; Freude und Wonne werden sie ergreifen, und Schmerz und Seufzen wird entfliehen.“
Amen.
Der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
Advent, liebe Gemeinde – Zeit der Erwartung, Zeit der freudigen Erwartung, die Jubel auslöst. Aus der Erinnerung steigt die Erwartung auf: Es gibt mehr, als das, was alltäglich vor Augen ist. Erwartung geht über die Grenzen dessen, was jetzt Wirklichkeit ist, hinaus. Der Lichterglanz der weihnachtlich geschmückten Straßen und Häuser weckt Erwartungen. Kinder erwarten das große Fest und alle Tage zählen sie am Adventskalender gespannt, wie viele Tage es noch dauert bis sie vielleicht das sehnsüchtig erwartete rote Fernsteuerauto, das sie schon so lange wünschen, bekommen. Möge ihnen die Kraft der Erwartung erhalten bleiben, und mögen Erwachsene sich immer wieder an Erwartungen der Kinderzeit erinnern können!
Eltern sind in Erwartung, sicher auch in Sorge, ob die Zeit für alle Vorbereitungen noch reicht. Man erwartet den Besuch der erwachsenen Kinder, die ganze Familie kommt zusammen. Man erwartet einen Gast. Gewiss, es gibt auch Stöhnen, mitunter tiefes Seufzen bei allen, die unter der Last von Vorbereitungen leiden in den Geschäften, in den Kaufhäusern, bei der Post, zu Hause. Aber oft ist die freudige Erwartung doch noch größer als die Müdigkeit. Man kann die Erwartung an den Gesichtern und an der Haltung der Menschen ablesen. Erwartung macht Menschen aufrecht, den Gang fest und in den Gesichtern strahlt schon etwas von dem Erwarteten.
Doch es gibt auch bange Erwartung. Wird die Familie noch einmal zusammenfinden oder werden die alten Gräben wieder aufbrechen? Man ahnte es ja schon vorher und erwartete nichts Gutes. Schlechte Erinnerungen provozieren schlechte Erwartungen. Das Urteil „Es bleibt doch alles beim Alten“ hält alle gefangen und lähmt. Freude kann nicht aufkommen.
Es gibt bange Erwartungen von Trauernden: Wie soll ich die Festtage begehen ohne meinen verstorbenen Partner? Werde ich das Alleinsein ertragen?
Was mögen die Erwartungen der Fliehenden in Kriegsgebieten sein? Wann ist der nächste Raketeneinschlag zu erwarten? Was sind die Erwartungen der Gefangenen in Lagern? Der Dichter Liao Yiwu berichtet davon. Gequälte können nichts erwarten über die alltägliche Drangsal hinaus. Können die im Bürgerkrieg in Syrien flüchtenden Christen an einen Advent noch denken?
Bange Erwartungen machen Angst, und sie machen müde, unendlich müde, bis schließlich die Kraft der Erwartung erlischt. Auch zerbrochene Erwartungen kann man an der menschlichen Gestalt ablesen. Müde Menschen mit zerstörten Erwartungen gehen gebeugt mit gesenktem Haupt und schleppendem Schritt, und sie sehen nicht mehr über die Grenzen dessen hinaus, was jetzt gerade Realität ist. Manchmal erwarten sie gar nichts mehr, sie können nichts mehr erwarten, es ist, als ob die innere Spannkraft in ihnen erloschen ist.
Liebe Gemeinde, der Predigttext zum heutigen 2. Adventssonntag weckt neue Erwartungen, freudige Erwartungen, Jubel. Ich lese den Text aus dem Buch des Propheten Jesaja im 35. Kapitel:
Jesaja 35, 3–10
3 Stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie!
4 Sagt den verzagten Herzen: „Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott! Er kommt zur Rache; Gott, der da vergilt, kommt und wird euch helfen.“
5 Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden.
6 Dann werden die Lahmen springen wie ein Hirsch, und die Zunge der Stummen wird frohlocken. Denn es werden Wasser in der Wüste hervorbrechen und Ströme im dürren Lande.
7 Und wo es zuvor trocken gewesen ist, sollen Teiche stehen, und wo es dürre gewesen ist, sollen Brunnquellen sein. Wo zuvor die Schakale gelegen haben, soll Gras und Rohr und Schilf stehen.
8 Und es wird dort eine Bahn sein, die der heilige Weg heißen wird. Kein Unreiner darf ihn betreten; nur sie werden auf ihm gehen; auch die Toren dürfen nicht darauf umherirren.
9 Es wird da kein Löwe sein und kein reißendes Tier darauf gehen; sie sind dort nicht zu finden, sondern die Erlösten werden dort gehen.
10 Die Erlösten des Herrn werden wiederkommen und nach Zion kommen mit Jauchzen; ewige Freude wird über ihrem Haupte sein, Freude und Wonne werden sie ergreifen, und Schmerz und Seufzen wird entfliehen.
Was für eine Erwartung, was für eine Hoffnung! Gott kommt, die Erwartung auf dieses Ereignis will der Prophet wecken, auch bei Müden und Gebeugten, die voller Angst sind und weiche Knie haben, ihnen allen ruft der Prophet zu: „Seid getrost, fürchtet euch nicht, da ist euer Gott.“
Das Volk Israel hatte eine schwere Zeit hinter sich, ein lange währendes Exil in Babylon. Die Folgen der Gefangenschaft, die schlechten Erfahrungen und die Angst ließen die Rückkehrer nicht los, sie lähmten sie. Sie konnten nicht mehr über die Mauern ihrer Unterdrückung und Demütigung im fremden Land blicken. Das Elend war für sie zur einzigen Wirklichkeit geworden. – Wie ermutigt man Menschen, die so müde geworden sind, dass sie nichts mehr erwarten? Menschen, die all ihre Spannkraft verloren haben, weil ihre Hoffnungen immer wieder enttäuscht wurden? Lieber keine Erwartungen mehr als neue Enttäuschungen, so heißt dann die Klugheitsregel. Es bleibt doch alles beim Alten.
In diese Situation hinein ruft der Prophet: „Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott! Er kommt zur Rache, Gott, der da vergilt kommt und wird euch helfen.“
Rache – ein uraltes Gesetz, eine uralte menschliche Gegebenheit. Jedes Unrecht, jede Verletzung verlangt Vergeltung: Auge um Auge, Zahn um Zahn, unerbittlich. Wir kennen Rachewirklichkeiten unter Kindern, unter Jugendlichen, unter Erwachsenen. Menschliche Rache führt rasch zu einer Spirale der Gewalt. Immer wieder. Alle Tage sehen wir Bilder von Rachewirklichkeiten von Kriegsschauplätzen überall auf der Welt, aber auch aus friedlichen Ländern, auch in unserer Stadt ist Rache alltägliche Wirklichkeit. Überall, wo es mit einem Anflug von Schadenfreude heißt: „Das geschieht ihm recht“, geht es um so etwas wie heimliche Rache.
Liebe Gemeinde, in einer Welt, in der die Rache die alltäglichste, normalste Wirklichkeit ist, tritt Gott mitten hinein in die menschliche Rachewirklichkeit. „Mein ist die Rache“ lautet das alte Gotteswort. Wenn Gott zur Rache kommt, ist den Menschen die Rache entzogen, denn Gott nimmt alle Rache auf sich. Aber Gott ist nicht so konsequent, wie Menschen es erwarten und vielleicht auch insgeheim wünschen. In Gott verwandelt sich die Rache. Der Prophet Hosea hat schon diese wunderbare Verwandlung verheißen: „Mein Herz ist andern Sinnes, alle meine Barmherzigkeit ist entbrannt. Ich will nicht tun nach meinem grimmigen Zorn … Denn ich bin Gott und nicht ein Mensch.“ So ist es mit der göttlichen Konsequenz.
Gott kommt zur Rache – als Kind in der Krippe, er kommt zur Vergeltung – als der, der sich hingibt am Kreuz. Das widerspricht menschlichen Erwartungen.
Das Kreuz Jesu Christi ist der Ort, an dem sich alle Lebenszerstörung, alle Lieblosigkeit, alle Gottvergessenheit zusammenballen, Ort der Rache an einem Unschuldigen, Ort der Rache an dem Gott der Liebe. An diesem Ort hat der allmächtige Gott die Rache auf sich selbst gezogen und überwunden. Deshalb ist Menschen die Rache entzogen: Den Gewalttätern und den Unterdrückern, denen die sich heimlich rächen und ihre Kollegen übervorteilen, und denen, die ihre Kameraden drangsalieren; denen die wütend murmeln: das geschieht ihm recht, ist die Rache entzogen.
Liebe Gemeinde, die Adventszeit ist seit alters die Zeit der Buße, der Umkehr, weil Gott zum Gericht kommt. Wenn Gott zum Gericht kommt, wird alles aufgedeckt, nichts bleibt verborgen. Gottes Gericht bringt menschliche Wirklichkeit zurecht, Gottes Kommen unterbricht menschliche Rachewirklichkeit mit Heil. Der Prophet kündet davon in wundervollen Hoffnungsbildern. Er provoziert Erwartungen und Hoffnungen, Sehnsüchte und Wünsche, und was für welche! Das ist kaum zu glauben!
Die Wüste blüht, es gibt Wasser, Lebensstoff, die Blinden sehen, die Lahmen springen, es gibt einen Weg in der Unwegsamkeit der Wüste und in der Aussichtslosigkeit der eigenen Resignation und Verzweiflung. Was sind das für Hoffnungsbilder, die der alte Prophet ausruft! Man kann in der Bibel, insbesondere im Buch Jesaja, verfolgen, wie die großartigsten Hoffnungsbilder gesammelt werden, um die unfassbare Erfahrung zur Sprache zu bringen, dass Gott zu den Menschen kommt. Da wird Licht sein in der Finsternis, Friede zwischen Menschen und zwischen Menschen und Tieren, da wird ein Weg durch die Wüste sein.
Jesus von Nazareth hat mit den prophetischen Heilsbildern aus dem Jesajabuch das Wesen seines Auftrags umschrieben. Auf die Frage Johannes des Täufers: „Bist du es, der kommen soll, oder sollen wir auf einen anderen warten?“ antwortet Jesus mit einem Zitat aus unserem Predigttext: „Blinde sehen und Lahme gehen“, und er fährt fort, „Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf, und Armen wird das Evangelium gepredigt.“
Liebe Gemeinde, wenn Gott kommt, bleibt nichts „beim Alten“. Menschen geraten neu in Bewegung. Sie beginnen zu hoffen und zu wünschen. Wer wunschlos ist, der ist nicht glücklich, sondern verstorben, hat einmal ein kluger Politiker gesagt. Wer wunschlos ist, der ist nicht glücklich, sondern verstorben, denn er hat sich vergraben in einer Weltsicht ohne Erwartungen, ohne Hoffnung, ohne Horizont. Das ist in der Politik nicht anders als im persönlichen Leben. In einer solchen Weltsicht ist die Hoffnung ein Störfaktor.
Wenn Gott kommt, wird diese Weltsicht aufgebrochen, denn Gott provoziert neue Erwartungen und Hoffnungen, Sehnsüchte und Wünsche. Die Wüste beginnt zu blühen. Das ist wie eine Vision. Sind das Utopien, zu schön, um wahr zu sein? Die blühende Wüste, in der sich Teiche erstrecken, wo Dürre war? Das sind überschwängliche Hoffnungsbilder. Sie können annähernd fassen, was sich ereignet, wenn Gott kommt: neue Lebensmöglichkeiten, wo wir keine Möglichkeiten mehr sehen, neuer Mut, wo nur Angst herrschte, Vertrauen, wo nur Hass war. Diese Bilder malen mehr als alles. Menschen werden aus der Wüste ihrer erstorbenen Erwartungen, ihrer versteinerten Herzen, ihrer verlorenen Hoffnungen herausgeholt.
Geht es uns nicht gelegentlich auch so in der Adventszeit? Irgendwo durch Musik und Lichterglanz eine kurze Erinnerung an ein Weihnachtsfest, Erfahrung von Menschenfreundlichkeit und Freude. Gottes Kommen weckt Erwartungen und Hoffnungen. Ich darf dürfen wünschen wie Kinder wünschen.
Wo Gott kommt, gibt es kein normalerweise. Wo Gott kommt, werden Menschen wunderbar verändert. Sie erheben ihr Haupt. Sie sehen neue Möglichkeiten, sie hören, was ihnen vorher verschlossen war. Ist das Utopie, Wunschbild im Nirgendwo? Es ist Hoffnungsbild für Erfahrungen, die Menschen machen, wenn Gott kommt. Ist das nicht auch meine Erfahrung? Es gibt Tage, da sehe ich nichts mehr, es ist alles dunkel, aber es kommt jemand, nimmt mich an der Hand, führt mich und schiebt mir buchstäblich einen Weg unter die Füße. Langsam, Schritt für Schritt, sehe ich wieder Licht, weil ich nicht meiner Blindheit vertraue, sondern dem anderen.
Der Prophet malt ein weiteres Hoffnungsbild: Da wird eine Bahn sein, ein Weg, auf dem es kein Umherirren und keine Gefahr von reißenden Tieren gibt, die in der Wüste Palästinas bedrohlich gegenwärtig waren. Der verheißene Weg ist Weg in der Wüste, wo es normalerweise keinen Weg gibt.
Gottes Kommen schafft einen Weg auch für die, für die es vermeintlich keinen Weg mehr gibt, denen vermeintlich nicht mehr zu helfen ist. Sollte es so nicht denen gehen, die einen Weg zum Frieden suchen in der Friedlosigkeit der Welt? Es ist nichts zu sehen als Hass, es ist nichts zu hören als Granaten und Raketen. Die Friedensucher und Friedensstifter finden sich damit nicht ab. Insofern sind sie wahrhaftig keine Realisten. Sie suchen mehr, einen Weg, auf dem Vertrauen wächst und gegenseitige Solidarität, Frieden. Wo die Suche nach diesem Weg beginnt, ereignet sich das Kommen Gottes. Es ereignet sich das, was der Beter des Psalms beschreibt: „Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen“.
Liebe Gemeinde, der da kommt, kommt nicht mit Gewalt, sondern als Kind mit der Macht der Liebe. So eröffnet sich ein neuer Weg, eine wunderbare Bahn. Die Rache bleibt hinten, sie ist Menschen entzogen, sie ist abgetan, abgetan bleiben Hass, Lebensfeindschaft und Lieblosigkeit. Auch das ist wie ein Traum unter Menschen. Aber so ist Gott. Er löst Menschen aus Hass und Rachewirklichkeit und bittet um Versöhnung, damit Menschen neu leben können.
„Die Erlösten des Herrn werden wiederkommen und nach Zion kommen mit Jauchzen: ewige Freude wird über ihrem Haupte sein; Freude und Wonne werden sie ergreifen, und Schmerz und Seufzen wird entfliehen.“
Amen.
Der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
Perikope