Die Kraft der Irritation – Er wird ein Knecht und ich ein Herr
Der Predigttext für den heutigen Gottesdienst am Altjahrabend steht im Lukasevangelium, Kapitel 12, die Verse 35-40:
„Lasst eure Lenden umgürtet sein und eure Lichter brennen (36) und seid gleich den Menschen, die auf ihren Herrn warten, wann er aufbrechen wird von der Hochzeit, damit, wenn er kommt und anklopft, sie ihm sogleich auftun. (37) Selig sind die Knechte, die der Herr, wenn er kommt, wachend findet. Wahrlich, ich sage euch: Er wird sich schürzen und wird sie zu Tisch bitten und kommen und ihnen dienen. (38) Und wenn er kommt in der zweiten oder in der dritten Nachtwache und findet's so: selig sind sie. (39) Das sollt ihr aber wissen: Wenn ein Hausherr wüsste, zu welcher Stunde der Dieb kommt, so ließe er nicht in sein Haus einbrechen. (40) Seid auch ihr bereit! Denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, da ihr's nicht meint.
Irritationen,
liebe Gemeinde,
Irritationen haben etwas heilsames.
Weil sie unsere gewohnten und etablierten Denkmuster unterlaufen.
Wir alle haben uns ja den Alltag so eingerichtet, dass er läuft.
Wir wissen, was wir zu tun haben,
haben entschieden, wie wir denken,
wie wir das Leben verstehen,
was wir gut und was wir eher unangenehm finden.
Wir haben uns festgelegt, im Handeln, im Denken, im Fühlen, im Deuten.
Und das ist auch gut so.
Ein Leben ohne Routinen, wäre extrem anstrengend. Wir müssten uns ständig neu erfinden. Wir könnten auf nichts zurückgreifen.
Routinen erleichtern das Leben.
Der Alltag, das Etablierte, das Gewohnheitsmäßige – sie sind der Normalfall des Lebens.
Gott sei Dank ist das so und gebe Gott, dass das zurückliegende Jahr für uns alle viel Alltag, viel Gewohnheit bereithielt.
Manchmal aber stockt das Normale.
Eine Irritation tritt auf.
Die gewohnten und vertrauten Muster werden durchbrochen.
Man muss innehalten, kommt ins Nachdenken und überprüft seine Muster.
Es gibt große Irritationen, nachhaltige Erschütterungen, Beben, die sich durch die Normalitäten des Alltags fräsen – eine Krankheit, ein Todesfall, eine tiefe Enttäuschung, aber auch: eine neue Liebe, der Auszug der Kinder, eine großartige Reise, neue Horizonte.
Daneben gibt es aber auch die kleinen Irritationen, die uns ins Nachdenken bringen.
Ein neuer Gedanke, der befremdet und das Gewohnte in Frage stellt. Im Kontakt mit Kindern kommt so etwas ja verlässlich vor.
Eine Alltagskonstellation, die plötzlich alles auf den Kopf stellt.
Eine kurze Szene, eine Beobachtung, in der Straßenbahn, am Arbeitsplatz.
Ein Bild, das anregt und Impulse gibt, weil es irritiert.
Der heutige Predigttext enthält eben eine solche „bildhafte“ Irritation:
Selig sind die Knechte, die der Herr, wenn er kommt, wachend findet. Wahrlich, ich sage euch: Er wird sich schürzen und wird sie zu Tisch bitten und kommen und ihnen dienen.
Am Ende aller Zeiten,
dann, wenn der Wechsel aller Jahre in die letzte Zeit mündet und alle Zeit sich einfügt in die Ewigkeit,
dann, in jener Zeit, wird der Herr, also Christus, den Knechten, also uns, dienen.
Dann wird der Herr die Schürze anziehen, wird den Tisch festlich decken und die Knechte werden die Gäste des Herrn sein.
Der Herr wird dienen.
Die Knechte werden bedient werden.
Dass wir Menschen Knechte sind,
liebe Gemeinde,
das ist zunächst keine sonderlich irritierende Einsicht.
Das entspricht unserer Erfahrung.
Wenn wir auf das zurückliegende Jahr blicken, dann legt sich diese Einsicht einem vielleicht sogar von selbst nahe – ein elender Knecht bin ich.
Mein Leben – immer auch das Leben eines Knechtes.
Ein beladenes Arbeitsjahr liegt hinter uns: Erfolge, Versage, lästige Kollegen, unschöne Seilschaften, Umstrukturierungen und das Tempo wird immer schneller, der Takt wird dichter und immer läuft die Angst mit, dass alles noch schlimmer wird, dass sich der eigene Job in China wiederfindet, dass der Abstieg nicht aufzuhalten und das Tempo nicht zu drosseln ist.
Auch von der Schule sagen Eltern und Kinder: Eine Knechtsanstalt ist sie geworden. Gedrängte Zeiten. Kaum ist die eine Klassenarbeit vorbei, kommt schon die nächste Reform um die Ecke und jeden Tag ist ein Kampf gegen die Lehrer, gegen die Anfechtungen der Pubertät und um die Anerkennung der Freunde.
Und auch außerhalb des Arbeitslebens – das Leben ist kein Ponyhof. Alle müssen fit bleiben, bis ins hohe Alter. Da wird man leicht zum Knecht gesellschaftlicher Erwartungen, darf keine Schwäche zeigen, soll ein nützliches und kostengünstiges Mitglied der Gesellschaft sein. Nur keinem zur Last fallen.
„Knecht sein“, das heißt also: eingespannt sein. Zurückgeschraubt aufs Funktionieren-Müssen, aufs Erfolg-Haben.
„Knecht sein“, das heißt: Anschlussfähig sein an die Erwartungen anderer, sich einfügen in die Muster dessen, was gesellschaftlich genehmigt ist.
„Knecht sein“, das heißt: Immer besser werden müssen – am Arbeitsplatz noch schneller, für den Partner oder die Partnerin noch verständiger, für die Kinder noch einfühlsamer, für die Eltern noch pflegebereiter.
„Knecht sein“, das heißt: Immer weiter, immer weiter, immer weiter. Und nie ein Wort des Dankes. C‘est la vie. So ist das Leben.
Leben heißt Knecht sein.
Und diese Einsicht wird nicht leichter, wenn wir sehen, dass wir immer doppelt darin verwickelt sind.
Denn Leben heißt auch: Zum Knecht machen.
Andere und sich selbst.
Wir überziehen auch immer unsere Mitmenschen mit Erwartungen und Ansprüchen, in die diese sich einzufügen und unterzuordnen haben.
Vom Partner erwarten wir Geborgenheit und Toleranz, von der Partnerin dann doch auch, dass die Sache mit dem Haushalt diskret abgewickelt wird.
Von den Kindern erwarten wir natürlich gute Noten und natürlich sind es im Ernstfall die Lehrer, auf die wir unsere Ansprüche weiterleiten.
Von den Mitarbeitern am Arbeitsplatz erwarten wir Engagement, Einsatz, Erreichbarkeit rund um die Uhr.
Und wann sagen wir „Danke“?
Wann durchbrechen wir diesen Knechtskreislauf von Erwartungen und Funktionieren?
Doch eher selten.
Denn wir haben dieses Prinzip so verinnerlicht, dass es sogar zu einem Muster unserer Selbstdeutung geworden ist.
Wir sind Knechte unserer selbst.
Knechte unserer Erwartungen an uns selbst,
an das, was das Leben uns zu bieten hat,
an das, von dem wir denken, dass wir es zu leisten und vorzuweisen haben.
„Auf weiter!“ – so treiben wir uns an.
Da ist noch Luft nach oben.
Karriere heißt ein Zauberwort.
Selbstverwirklichung ein anderes.
Entwicklungspotential ein drittes.
Familienglück ein viertes.
Ja, liebe Gemeinde,
es ist wahr: Wir sind Knechte.
So ist das Leben.
Und vielleicht wird einem das gerade am Altjahrabend besonders deutlich. Schon wieder so ein Knechtsjahr hinter mir.
Bis hierher ist die Aussage Jesu also wenig irritierend. Ja, wir sind Knechte.
Und das ist ja nicht nur eine verheerende Einsicht. Oft leben wir damit ja ganz gut. Vieles gelingt uns, macht uns Freude, denn irgendwie haben wir uns doch alle eingerichtet in diesem Leben und in unseren verschiedenen Knechts-Alltagen.
Wir sind routinierte Knechte.
Immerhin wissen wir so, was wann wo zu tun ist,
was man von uns erwartet,
was wir von anderen erwartet,
was wir von uns selbst erwarten,
welche Freiräume es gibt.
Der Alltag der Knechte ist der Alltag der zwar lästigen, aber doch auch schützenden Routine.
Irritationen sind nicht vorgesehen, denn: C‘est la vie. So ist das Leben.
Worin liegt nun aber die Irritation in dem, was Jesus sagt?
Selig sind die Knechte, die der Herr, wenn er kommt, wachend findet. Wahrlich, ich sage euch: Er wird sich schürzen und wird sie zu Tisch bitten und kommen und ihnen dienen.
Die erste Irritation besteht darin, dass Jesus gar nicht leugnet, dass wir Menschen Knechte sind und dass wir andere Menschen und uns selbst zu Knechten machen.
So ist das Leben.
Der Glaube kann die Gesetze des Lebens nicht außer Kraft setzen.
Erlösung heißt nicht, die Bedingungen des Lebens abzuschaffen.
Wir kommen nicht raus aus diesem Leben. Auch nicht durch die Religion.
Zum christlichen Glauben gehört deshalb immer eine gute Portion Nüchternheit.
Eine Nüchternheit, die anerkennt: So wie es ist, ist es. Auch wenn es ätzend ist. Und anstrengend.
Die erste Irritation ist also der dezente Hinweis von Jesus, von der Religion, vom Glauben nicht mehr und nichts anderes zu erwarten, als was er zu leisten im Stande ist.
Die zweite Irritation besteht dann aber darin, dem Glauben trotzdem Großes zuzutrauen, nämlich die Hoffnung darauf, dass sich einmal alles ändern wird.
Jesus rückt unsere Alltagserfahrung in ein anderes Licht.
In das Licht des Künftigen.
Und dadurch irritiert er sie.
Denn: Am Ende aller Tage, da wird das Knechtsprinzip dieser Welt aufgehoben werden.
Weil es rumgedreht wird.
Am Ende werden die Knechte wie einst die Herren zu Tische liegen, werden sich bedienen lassen, werden empfangen und wohl versorgt werden.
Am Ende wird der HERR wie einst die Knechte eine Schürze anhaben, wird das kühle Bier und den edlen Wein servieren, das Essen auftragen und wird Sorge tragen, dass es den Knechten an nichts fehlt.
Am Ende werden die Knechte rehabilitiert.
Am Ende kommt die Ordnung, von der Gott findet, dass sie die gute ist.
Am Ende dient Gott den Menschen.
An Weihnachten, von dem wir herkommen, an Weihnachten hat diese neue Weltordnung begonnen. Hier nimmt sie ihren Ausgang.
„Er wird ein Knecht und ich ein Herr; / das mag ein Wechsel sein!“
Und seitdem breitet sie sich aus, diese gottgewollte Ordnung der Dinge.
Breitet sich aus in unseren Knechtsalltagen, in unseren Knechtshaltungen.
In unserem Denken, Handeln und Fühlen.
Denn ja, das gibt es, dass wir zwar nicht aus den Gesetzen des Lebens auszusteigen vermögen, dass wir ihnen aber hier und dort Freiheiten und Widerständiges abzutrotzen vermögen.
Weil wir uns den Intrigen, die die anderen funktionalisieren, verweigern.
Weil wir uns überhaupt einmal klar werden darüber, in welche Erwartungen wir uns und die anderen ständig einstricken.
Und weil wir mindestens die anderen einmal freigeben, indem wir die Erwartungen an uns selbst nicht immer auch gleich auf die anderen übertragen.
Weil wir zur Ruhe kommen können, wenn wir einsehen: Das Glück des Lebens ist nicht mit der Menge erfüllter Ansprüche und Erwartungen identisch.
Weil wir in unserer Seele fühlen: Ich bin ein Herr, auch wenn ich als Knecht lebe, leben muss.
Das ist die Würde, die der christliche Glaube zu geben vermag und die verhindert, dass wir zu Tyrannen werden, gleichsam zu Knechts-Tyrannen.
Der Glaube vermag nicht die Bedingungen und Gesetze des Lebens außer Kraft zu setzen. Auch nicht im Neuen Jahr. Aber er vermag die Haltung zu ihnen zu irritieren und damit zu unterlaufen. Weil wir in Christus ein Zeichen haben dafür, wie es wirklich sein soll, wie es dereinst sein wird, in alle Ewigkeit und wie es hier und jetzt schon sein kann, auch im Neuen Jahr.
Erlösung heißt also nicht, die Bedingungen des Lebens abschaffen zu können.
Erlösung heißt: Eine veränderte Sicht gewinnen. Und deshalb anders leben wollen – und können.
Irritationen,
liebe Gemeinde,
Irritationen haben etwas heilsames.
Weil sie unsere gewohnten und etablierten Denkmuster unterlaufen und durchbrechen.
Wir halten inne, wie an diesem letzten Abend des Jahres, kommen ins Nachdenken und überprüfen unsere Muster.
So aber können wir Freiheit zurück gewinnen,
eine veränderte Haltung zu den Routinen und Zwängen unseres Lebens,
eine Hoffnung, die über die Zumutungen des Alltags und die Bedingungen des Lebens hinausreicht,
eine Ahnung davon, wie es eigentlich sein soll, wie Gott es will und wie es einst sein wird.
Ja, wir sind Knechte in diesem Leben.
Ja, wir kommen da nicht raus.
Und ja, auch der Glaube führt da nicht raus. So gerne wir das vielleicht hätten und so leichtfertig uns das manchmal suggeriert wird.
Aber nein, so wird es nicht bleiben.
Nicht für immer.
Nicht in alle Ewigkeit.
Und ja, diese Hoffnung verändert unser Leben schon heute, hier und jetzt.
In dieser Hoffnung wollen wir über die Schwelle der Jahre gehen.
Selig sind die Knechte, die der Herr, wenn er kommt, wachend findet. Wahrlich, ich sage euch: Er wird sich schürzen und wird sie zu Tisch bitten und kommen und ihnen dienen. Darum seid auch ihr bereit! Denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, da ihr's nicht meint. Amen
Predigtlied: EG 27, 1-6 Lobt Gott, ihr Christen alle gleich
Ich lese Lk 17, 7-10 als „Parallelperikope“ des heutigen Predigttextes und lege diesen vor diesem Hintergrund aus.