Die Kunst, das Leben schwer zu nehmen
„Hast du Zeit? Komm mal rüber, ich mach uns einen Kaffee“, ruft mir Diana zu, die Nachbarin von Gegenüber.
Zehn Minuten später sitzen wir in ihrer Küche und unterhalten uns.
Für uns beide eine kleine Pause im bewegten Alltag.
Wobei Dianas Tage immer viel bewegter waren als meine. Sie ist Sportlehrerin, hat eine eigene Fitnessschule und läuft jedes Jahr mindestens einen Marathon, am liebsten im Bergland oder in großen Städten.
Vor einigen Wochen jedoch geht sie mit Verdauungsproblemen zum Arzt und erfährt ziemlich plötzlich, dass sie an Krebs erkrankt ist. Die Verdauungsprobleme sind durch Metastasen in den inneren Organen entstanden.
Nachdem der Schock über den abrupten Stopp ihrer bisherigen Lebensaufgaben etwas verklungen ist, trifft sie Entscheidungen.
Sie spricht offen mit ihrer Familie und ihren wichtigen Freunden über ihre Krankheit und ihre Angst.
Sie gibt die Fitnessschule auf, denn die Ärzte haben zu einem anderen Umgang mit ihren Kräften geraten.
Sie gestaltet das ehemalige Zimmer ihres erwachsenen Kindes zu einem eigenen Rückzugsraum für sich um, ein Luxus, der sie selbst erstaunt und über den sie sich täglich freut.
Und eins fällt mir seither besonders auf: Sie kann so klar sagen, was sie möchte und was nicht. Oder besser: was ihr gut tut und was nicht.
Meist geht sie gefasst in die anlaufenden Termine in der Uniklinik, in die Voruntersuchungen, in die Strahlentherapie, die bald durch Chemotherapie abgelöst wird. Sie weiß, dass es Einbrüche geben wird, körperliche Einschränkungen, Schmerzen.
Aber auch, dass sie gut versorgt wird und seelische Unterstützung zu Hause hat.
Darüber reden wir, wenn wir zusammensitzen und Kaffee trinken. Aber auch über alles Mögliche, was in den Alltag gehört: Kuchenrezepte, das Fernsehprogramm von gestern, Politik oder den neuesten Krimi, eine Leidenschaft, die wir beide teilen.
Ich erlebe etwas in unseren Begegnungen, das ich in vielen Gesprächen mit Patienten in den Kliniken und auch in meinen eigenen Erfahrungen wiederfinde.
Die Erkenntnis, dass Krankheit zum Leben gehört.
Oder allgemeiner: die Erkenntnis, dass Leiden zum Leben gehört.
Das klingt banal, ist es aber nicht.
Denn eigentlich lautet die unbewusste Phantasie unserer Gesellschaft: man muss bis ins hohe Alter fit und gesund sein, alles andere ist ein schreckliches, ungerechtes, katastrophales Unglück.
Dabei ist es klar: Menschen werden krank, Menschen werden alt, Menschen scheitern, Menschen müssen sterben.
Die Ärztin Luise Reddemann sagt es so: „Die Idee, das Leben könnte leicht sein, ist ein verhängnisvoller Mythos.“ (1)
Die Frage, die diesen Mythos aufnimmt und die ich häufig gestellt bekomme, wenn ich als Pfarrerin mit Menschen spreche, ist die nach dem „Warum?“
Manchmal tritt mir diese Frage wütend entgegen, manchmal resigniert, abgeklärt oder nachdenklich:
Warum lässt Gott zu, dass ich krank bin, wo ich noch so viele Pläne habe?
Warum finde ich keinen Partner, obwohl ich mir solche Mühe gebe?
Warum ist mein Kind behindert, wo es doch nicht Böses im Leben getan hat?
Diese „Warumfrage“ ist verständlich, ich habe schon oft überlegt, dass sie uns vielleicht angeboren ist, weil wir denkende Wesen sind, die sich mit ihrem Schicksal bewusst auseinandersetzen können. Da drängt sich diese Frage einfach auf, besonders in Krisenzeiten.
Und die Antworten darauf werden nicht von mir als Theologin erwartet, sondern die Gesprächspartner finden sie in der Regel selbst:
„Seit ich das erlebt habe, kann ich nicht mehr an Gott glauben. Den gibt es nicht.“
„Ich muss etwas getan haben, dass mir das als Strafe Gottes geschickt wurde.“
„Das Leben ist kein Ponyhof, es gehört zum Menschsein, Gutes und Schwieriges zu erleben. Da musst du durch.“
„Wenn ich nicht so impulsiv reagiert hätte, wäre mir das nicht passiert.“
„Gott will mich prüfen, und wenn ich die Prüfung bestehe, wird es mir besser gehen.“
Früher haben sich die Menschen sogar damit getröstet: „Hier auf der Erde ist das Jammertal, aber nach dem Tod werde ich im Paradies sein.“
Und alle Antworten erscheinen vorläufig, fragmentarisch, zerbrechlich, wie schwankende Brücken über einen reißenden Fluss.
Unser Bibeltext heute findet zu einer weiteren:
„Wir sind ratlos, aber wir verzweifeln nicht…Wir werden zu Boden geworfen, aber wir gehen nicht zugrunde…“. (2)
Da reden Menschen, die in sich Widerstandskraft spüren, die überleben wollen.
Resilienz, so nennen es die Psychologen.
Woher nehmen diese Christen die?
Paulus sagt: „Gott hat es in unseren Herzen hell werden lassen… wir sollten erkennen: Es ist die Herrlichkeit Gottes, die wir sehen, wenn wir auf Jesus Christus schauen...“
Dieser Christus ist ein Mensch. Mit einem schwachen, verletzlichen Körper, dem Schmerzen zugefügt werden, der leiden muss, der stirbt.
Wie wir, manchmal im Leben und sicher am Ende des Lebens.
Aber Gott bleibt nicht tot.
Er steht auf.
Darin zeigt er seine Kraft und die gibt er weiter an die, die glauben.
Das Licht, oder die Kraft oder die Herrlichkeit Gottes, die uns Mut macht, Widerstandskraft aktiviert: ein Schatz, in zerbrechlichen Gefäßen.
Denn nur in und mit unserem vergänglichen und verletzlichen Körper können wir diesen Schatz spüren.
Manchmal spüren wir die Ohnmacht.
Manchmal spüren wir die Wut.
Manchmal spüren wir die Angst.
Manchmal spüren wir die Stärke.
Manchmal spüren wir die Zuversicht.
Und manchmal alles gleichzeitig, so dass wir nicht wissen, wo oben und unten ist.
In den Augenblicken danach aber ist deutlich: ich habe überlebt, weil Gott es überlebt hat, meine Schwäche, meine Zweifel, meine Panik, meine Stärke, meinen Hass.
Ich bin nicht untergegangen.
Ich musste nicht zurückschlagen.
Ich schaue auf Christus, der weiß und kennt, was ich erlebe:
Sowohl den verzweifelten Schrei am Kreuz:
„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ als auch das Sich-Überspülen-lassen von der Wirklichkeit: „In deine Hände, Vater, übergebe ich meinen Geist.“
Ich atme weiter. „Keep breathing.“
So empfiehlt es der englische Psychoanalytiker Donald Winnicott. Weiteratmen.
Gott lebt.
Er zeigt seine Verletzungen, um uns zu zeigen, dass er unsere Verletzungen kennt. Und er lebt mit uns.
Ein Schatz, wenn wir ihn als solchen zu nehmen wissen.
In zerbrechlichen Gefäßen.
Die wir entsprechend vorsichtig behandeln sollen.
Ich finde, meiner Nachbarin Diana gelingt das sehr gut.
Vielleicht, weil sie ihrem Körper schon immer große Aufmerksamkeit gewidmet hat und ihn gut kennt.
Jetzt lernt sie seine Grenzen anders kennen als auf den letzten Kilometern eines Marathonlaufes.
Sie respektiert ihn und zwingt ihm nichts auf, weil sie im Vergleich mit anderen Menschen gut abschneiden möchte.
Die Frage nach dem Warum interessiert sie nicht mehr so sehr. Sie weiß, dass Vergleiche zu anderen nichts bringen. Nichts für sich selbst.
Aber, dass sie nicht nur aus Krankheit besteht, sondern es auch viel Gesundes in ihr gibt, Leben, das sich lohnt und Freude macht, da ist sie sicher.
Diana bittet ihre Freunde darum, für sie zu beten.
Sie weiß, dass ihre Kraft zum guten Teil von Gott kommt und dass sie ein Schatz in zerbrechlichen Gefäßen ist.
Und ich tue das gern und bete für sie, und für mich und für alle, die es brauchen und wollen.
Denn die Kunst besteht darin, das Leben schwer zu nehmen.
(1): http://www.mediale-aufmerksamkeit.de/blog/home/texte/reddemann/ (Zugriff vom 12.01.2016
(2): Übersetzung nach der Basisbibel, Das Neue Testament und die Psalmen, Stuttgart 2012
Die Kunst, das Leben schwer zu nehmen - Predigt zu 2.Korinther 4,6-10 von Monika Waldeck
4,6-10
Perikope