"Die Melodie der Liebe" - Predigt über Johannes 12, 44-50 von Klaus Pantle
12,44
Die Melodie der Liebe
1
Liebe Gemeinde,
„Fest der Liebe“, wird Weihnachten genannt. Da nimmt es nicht Wunder, dass die Liebe die Melodie ist, die den Predigttext auf den heutigen 1. Sonntag nach dem Christfest grundiert – auch wenn das Wort selbst gar nicht genannt wird:
Jesus aber rief: Wer an mich glaubt, der glaubt nicht an mich, sondern an den, der mich gesandt hat. Und wer mich sieht, der sieht den, der mich gesandt hat.
Ich bin in die Welt gekommen als ein Licht, damit, wer an mich glaubt, nicht in der Finsternis bleibe.
Und wer meine Worte hört und bewahrt sie nicht, den werde ich nicht richten; denn ich bin nicht gekommen, dass ich die Welt richte, sondern dass ich die Welt rette. Wer mich verachtet und nimmt meine Worte nicht an, der hat schon seinen Richter: Das Wort, das ich geredet habe, das wird ihn richten am Jüngsten Tage.
Denn ich habe nicht aus mir selbst geredet, sondern der Vater, der mich gesandt hat, der hat mir ein Gebot gegeben, was ich tun und reden soll. Und ich weiß: sein Gebot ist das ewige Leben. Darum: was ich rede, das rede ich so, wie es mir der Vater gesagt hat.
Liest man diese Worte im Zusammenhang des Johannesevangeliums, dann hört man Jesus sagen:
„Ich und der Vater sind eins (Johannes 10,30). Und Gott ist Liebe (1. Johannes 4,16). Liebe war der Beweggrund, warum er mich, den Sohn, in diese Welt gesandt hat, damit alle, die an mich glauben, nicht verloren sind (Johannes 3,16). In mir wurde Gott, der die Liebe ist, Mensch (Johannes 1,14). Deshalb gilt: Wer an mich glaubt, der glaubt an die Liebe, denn er hört meine Worte und sieht meine Taten, die Liebe wirken. Worte und Taten, die Liebe wirken, bringen Licht ins Dunkel der Welt. Die Liebe zündet Lichter an und der wird Kosmos hell. Wer meine Worte und Taten ignoriert oder sie geringschätzt, der schadet sich selbst. Wer sie aber hört und sieht und wer meine Liebe annimmt und spürt, der hat schon das ewige Leben (Johannes 3,16). Der lebt anders. Der liebt, so wie ich euch liebe (Johannes 13,34).“
„Fest der Liebe“ wird Weihnachten genannt, weil sich mit der Ankunft Jesu die Melodie, nach der menschliches Leben spielt, grundlegend ändert.
2
Nach welcher Melodie spielt unser Leben? Wir, die wir mitten in einer Großstadt leben, hören alle Jahre wieder eine Weihnachtsmelodie, die laut und grell und ordinär ist. Viele Menschen, mit denen ich in der Vorweihnachtszeit gesprochen habe, sagten mir: „So schön Weihnachten eigentlich ist: ich bin froh wenn alles vorbei ist. Dann kann man hier endlich wieder normal leben.“ Die Weihnachtsmelodie, die doch eigentlich eine Melodie der Liebe ist, hat sich bei uns verwandelt in eine laute, grelle und ordinäre Melodie des Kommerzes, die fast alles andere übertönt.
Nach welcher Melodie spielt unser Leben? Es scheint tatsächlich, dass die innerstädtische Vorweihnachtserfahrung symptomatisch geworden ist für alle Lebensbereiche, in denen wir uns bewegen. Unser Leben spielt nach der Melodie der Ökonomie. Fast all unsere Lebensbereiche und Lebensbewegungen sind unter das Diktat der Wirtschaft geraten. Aus allen Radio- und Fernsehkanälen quellen im Stundentakt Begriffe wie Globalisierung, Finanz- und Schuldenkrise, Rettungsschirm, Stabilität, Effizienz, Konkurrenz und Produktivitätssteigerung. Diese Grundmelodie prägt alle globalen, bundesweiten, landesweiten wie innerstädtischen Diskussionen und Zukunftsplanungen. Nicht einmal vor der Kirche hat diese Entwicklung Halt gemacht. Seit Jahren beschäftigen kirchliche Gremien sich vor allem mit Projekten wie „Wirtschaftliches Handeln in der Kirche“. Diese Grundmelodie der Ökonomie ist sogar eingedrungen in unsere zwischenmenschlichen Beziehungen. Auch diese und sich selbst gilt es zu managen: mit Selbst-Management, Zeit-Management, Beziehungs-Management, Qualifizierungs- und Optimierungsstrategien, am besten unter Anleitung von kommerziellem Coaching für die „Irgendwohin-Steuerung des Selbst“ (Mattan Shachak). Und man unterliegt oder unterwirft sich dem Druck, sich selbst und die zwischenmenschlichen Beziehungen unablässig zu bewerten nach Produktivität und Relevanz oder nach Kosten und Nutzen. Freundschaften, selbst zwischen Kindern, werden danach beurteilt, was sie bringen. Kinderbetreuung wie die Pflege von Gebrechlichen und Behinderten werden bis ins Detail quantifiziert, in Rechnung gestellt und eingefordert. Selbst in den intimsten zwischenmenschlichen Bereich, in die Liebe, spielt diese Melodie: Man bietet sich an und sucht sich auf Partnerbörsen, auf denen „Sexyness“ ein Kapital darstellt, man trifft sich auf Speed-Datings, ratet sich und alles Mögliche in Sozialen Netzwerken, kontrolliert seinen Body-Maß-Index, seine Work-Life-Balance und zieht Genuss-Bilanz. Marktfremde Gesichtspunkte verschwinden aus den Beziehungsverhältnissen, auch aus dem Beziehungsverhältnis zu sich selbst.
In seinem „Lob der Liebe“ analysiert der Philosoph Alain Badiou die Folgen dieser Entwicklung auf die Liebe und die Liebesfähigkeit der Menschen. Lässt man sich heutzutage auf eine Beziehung ein, so beobachtet er, dann möglichst ohne ein Risiko einzugehen. Man bleibt sich selbst und sucht im Anderen vor allem die Bestätigung seiner selbst. „Liebe ohne Zufall“, verspricht eine Partnervermittlungs-Website. Dort lässt man einen Datenabgleich zwischen den Profilen der Partnersuchenden erstellen und probiert es mit dem oder der, mit dem oder der das Risiko, dass es nicht klappt, am geringsten scheint. Liebe sollte sich in einer Sicherheits- und Komfortzone abspielen. So wird die Liebe – unter der Melodie der Ökonomie – zu einer Variante der Formen des Genießens und soll vor allem Wärme, Intimität und angenehme Erregung bringen. Stimmt irgendwann die Genuss-Bilanz nicht mehr, lässt man es und begibt sich wieder auf den Partner-Markt. Freundschaft und Liebe werden zur Ware. Ein anderer Zeitdiagnostiker resümiert über dieses Leben unter der Melodie der Ökonomie: „Heute geht zunehmend der Anstand, die Anständigkeit, ja Abständigkeit verloren, nämlich die Fähigkeit, den Anderen auf seine Andersheit zu erfahren“ (Byung-Chul Han).
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Nach welcher Melodie spielt unser Leben? Wenn es nach Gott geht, nach der Melodie der Liebe: „Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben“ (Johannes 3,16).
Die Liebe geht von Gott aus. Sie ist der Welt geschenkt und erklärt und auf Dauer gestellt. Gott macht den Menschen eine Liebeserklärung. Wer zu jemandem sagt: „Ich liebe dich“ und meint das ernst, der sagt das für die Ewigkeit. „Denn im Grunde ist das die Liebe: eine Erklärung der Ewigkeit, die sich in der Zeit verwirklichen und entfalten muss, so gut sie kann. Ein Hinabsteigen der Ewigkeit in die Zeit“ (Alain Badiou). Es ist diese Liebeserklärung Gottes, die die Grundmelodie vorgibt für die gesamte Existenz des Glaubenden. Sie ermöglicht, ihm zu leben in der ewigen Gewissheit: Ich bin geliebt, ohne wenn und aber, ohne Bedingung, ohne dass ich Leistung erbringen oder ständig meinen Wert beweisen müsste.
Geliebte leben leichter. Und sie lieben leichter. Liebe wirkt ansteckend  wie ein Virus, will weiterlaufen und sich verbreiten. Wobei in diesem Weiterlaufen der Liebe stets ein Bruch stattfindet, wenn es sich um wahre Liebe handelt. Wahre Liebe strebt zum Anderen. Der Andere ist der Andere. Man muss das betonen. Der Andere ist der, der Nicht-Ich ist. In der liebenden Begegnung mit dem Anderen zerbricht meine Perspektive der Welt. Die des Geliebten gewinnt elementare Bedeutung. Liebende machen die Erfahrung, dass man die Welt vom Gesichtspunkt des Unterschieds aus erfahren kann. Insofern ist die Liebe der Gegenbeweis gegen die weitverbreitete Überzeugung, dass jeder nur seine eigenen Interessen verfolgt. Die Liebe reißt einen heraus auf den Anderen hin. Meine Welt, die nun die unsere ist, wird eine andere. Gemeinsam leben wir nicht mehr in meiner, sondern in einer anderen Welt, in der anderes wichtig ist, als alleine mein Profit, mein Wohlergehen, mein Gewinn, mein Genuss. Dem Anderen, dem Gegenüber, dem Nicht-Ich gilt nun das Interesse, gelten meine Hinwendung und meine Zuneigung. Das ist es, was Gott im Weihnachtsgeschehen aufführt und was der Sohn in allen seinen Worten lehrt und in allen seinen Taten zeigt.
Was die Liebe im Anderen bewirkt? Wer geliebt wird, der kann aller Dunkelheit entfliehen. Er muss sich nicht verbergen, nicht vor Anderen, nicht vor sich selbst, auch nicht vor seiner eigenen Dunkelheit. Wer geliebt wird, kann sich dem Guten, Frohen und Freudigen in seinem Leben wieder öffnen. Wer sein Leben unter der Grundmelodie der Liebe lebt, dem wird es gelingen, sich von der lauten, grellen und ordinären Melodie der Ökonomie, die alle Lebensdimensionen durchdringen will, nicht beherrschen zu lassen. Denn wer unter der Grundmelodie der Liebe lebt, bleibt selbst in und jenseits jeder Einsamkeit, die auch zum Leben gehört, in Kontakt mit all dem, was in der Welt das Dasein lebenswert macht.
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Der Film „Cloud Atlas“ erzählt ineinander verschränkt sechs Geschichten aus einem Zeitraum von 500 Jahren. In all diesen Geschichten geht es um den Kampf zwischen der lauten, grellen und ordinären Grundmelodie der Ökonomie und der Grundmelodie der Liebe. Alle Geschichten erzählen von der anscheinend unverlierbaren Hoffnung darauf, dass sich die Liebe durchsetzt und Erlösung bringt. Eine dieser Geschichten spielt in der Zukunft, im futuristischen Neo-Seoul im Jahre 2144. Sie erzählt von einem geklonten Serviermädchen. Replikanten wie sie sind Wegwerfmädchen, reine Arbeitssklaven für eine Herrenrasse, die bedingungslos ihr Profit- und Genussstreben auslebt. Diese Replikanten lässt man funktionieren, solange sie funktionieren, dann tötet man sie und verarbeitet sie zu Nahrung für die nachgezogenen Arbeitssklaven. Eines dieser Serviermädchen bricht aus diesem System aus. Sie wehrt sich gegen die Demütigungen, nachdem sie diese endlich als solche empfinden gelernt hat und findet einen Retter, der sie liebt. Das geklonte Mädchen verändert sich durch diese Liebe grundlegend, sie wird Mensch im wahrsten Sinne des Wortes, begreift dadurch, was mit ihr und Ihresgleichen geschieht und zieht mit ihrem Geliebten und vielen anderen in den Kampf gegen das zynische System einer pervertierten Ökonomie. Natürlich werden sie entdeckt und verfolgt und gefasst und verhört und am Ende liquidiert. Denn die Liebe ist eine mächtige Kraft, vor allem dann, wenn sie zur Passion wird, wenn Liebende am Ende sogar bereit sind, sich selbst für die Liebe zu opfern. Da zeigt sich, dass Liebe stärker sein kann als der Tod und das macht sie für solch totalitäre, rein ökonomistisch orientierte Systeme brandgefährlich. In ihrem Kampf wird die zum Menschen mutierte Replikantin zur Messias-Gestalt, die sich hingibt. Ihr Blut wird vergossen zur Rettung von vielen. Vor und noch nach ihrem Tod erscheint sie auf zahlreichen Bildschirmen und verkündet ihr Evangelium, wenn sie sagt: „Unser Leben gehört nicht uns. Von der Wiege bis zur Bahre sind wir mit andern verbunden.“
Unser Leben spielt, wenn wir uns auf den verlassen, der zu Weihnachten in unser Leben gesandt wurde, unter der Melodie der Liebe. Im Bewusstsein, dass wir Geliebte sind, in der Erkenntnis, dass wir miteinander verbunden sind und in der Bereitschaft, uns auf anderweitige Lebensperspektiven einzulassen, gewinnen wir ewiges Leben. Ewigkeit meint bei Johannes von Gott begleitete, qualifizierte Zeit. Das „ewige“ Leben ist von der Liebe geprägt und getragen und durchwirkt – es ist ein anderes Leben, als das von der Ökonomisierung aller Lebensverhältnisse geprägte, es ist ein anderes Leben als die alte Existenz, die von Konkurrenz, Berechnung und Ratings, aber auch von zwanghafter Suche nach Leidensfreiheit und Risikolosigkeit geprägt ist: „Das ewig Licht geht da herein, / gibt der Welt ein' neuen Schein; / es leucht' wohl mitten in der Nacht/und uns des Lichtes Kinder macht.“ (Gelobet seist Du, Jesu Christ/EG 23,4). Und jeder noch so kleine und unbedeutend erscheinende Akt menschlicher Liebe trägt etwas bei zum ewigen Leben. Amen.
Perikope
30.12.2012
12,44