Die Menschheit hat den Verstand verloren! - Predigt zu Matthäus 25,31-46 von Elke Markmann
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Die Menschheit hat den Verstand verloren! - Predigt zu Matthäus 25,31-46 von Elke Markmann

Die Menschheit hat den Verstand verloren!

„Die Menschheit hat den Verstand verloren!“ Unter diesem Titel sind in diesem Jahr die Tagebücher aus der Zeit des zweiten Weltkrieges von Astrid Lindgren in Deutschland erschienen. (2015 erschienen im Ullstein Buchverlag) Bevor die große schwedische Kinderbuchautorin mit Pippi Langstrumpf ihr erstes Kinderbuch schrieb, führte sie während der Kriegszeit von 1939 bis 1945 Tagebücher. Die sind erst jetzt von ihrer Tochter veröffentlicht worden.
Mit sehr feiner Beobachtungsgabe beschreibt Lindgren darin die Unmenschlichkeit des Krieges: Frauen und Kinder werden von Flugzeugen gejagt und erschossen. Unzählige Menschen leiden unter sinnloser Gewalt, die nur wenig mit den großen strategischen Zielen zu tun zu haben scheint.
Scheinbar hat die Menschheit immer wieder den Verstand verloren – auch heute, im Jahre 2015, ist es nicht anders. Menschen verfolgen einander, ermorden und vergewaltigen einander. Längst ist ein Krieg nicht mehr eine Auseinandersetzung zwischen bewaffneten Truppen, die speziell dazu ausgebildet werden – wenn er dieses überhaupt je war. Zivile Opfer gehören selbstverständlich zum Krieg dazu.
Wenn sich diese Menschen dann aus lauter Verzweiflung auf den Weg machen und eine neue Heimat suchen, in der sie leben und arbeiten – zumindest aber erst einmal überleben können, stehen sie vor verschlossenen Grenzen, in überfüllten kalten Zeltlagern, kommen auf überfüllten Booten um und lernen eine ganz neue Dimension des Grauens kennen. Nur wenige können in friedlichen Ländern Zuflucht finden.

Ungefähr 60 Mio Menschen sind weltweit auf der Flucht.

Dagegen steht dieser Predigttext:

(Text lesen)

Wo werden wir stehen? Wo stehen wir heute?
Klagen wir über die Überfremdung und die Bedrohung durch die Fremden?
Oder nehmen wir die Hungrigen und die ohne Dach über dem Kopf auf?

Es scheint so einfach zu sein! Warum streiten sich Menschen in Europa über den richtigen Weg?

Der Predigttext des heutigen Tages spricht von den selbstverständlichen Aufgaben der Nächstenliebe. Diese Selbstverständlichkeiten gelten in jeder Religion. Auch die Muslime und die Jüdinnen, die Buddhisten und die Hindu – alle leben nach diesen selbstverständlichen Grundwahrheiten: den Nächsten und die Nächste aufzunehmen, ihr zu essen und zu trinken und ihm Kleidung zu geben – es sind Selbstverständlichkeiten der reinen Menschlichkeit.
Durch diesen biblischen Text aus dem Matthäusevangelium wird die Selbstverständlichkeit zum Prüfstein des wahrhaft Gottes gläubigen Menschen. Denn obwohl diese Grundsätze in allen Religionen und Weltanschauungen Selbstverständlichkeiten sind, werden sie immer wieder missachtet. Immer wieder ist das eigene Wohlergehen wichtiger. Immer wieder siegen die Ängste über die Nächstenliebe.

Wir werden die Kriege und bewaffneten Auseinandersetzungen kaum verhindern können. Umso wichtiger ist es, an diesem Volkstrauertag auf diejenigen hinzuweisen, die Opfer von Gewalt, Krieg und Terror geworden sind. Umso wichtiger ist es, an diese Menschen zu denken und ihren Tod und ihr Leid zu beklagen!
Am Volkstrauertag werden in Deutschland seit 1922 die Menschen betrauert, die im Krieg gefallen sind. Auch mit diesem Tag und diesem Gedenken ist schlimme Politik betrieben worden. Oft genug war der Tag nicht einfach ein Tag des Gedenkens, sondern vor allem unter Hitler eher ein Tag der Heldenverehrung, mit dem junge Männer wieder in den Kampf geschickt wurden.
Darum geht es aber eben nicht! An diesem Tag, dem Volkstrauertag, denken wir an die Opfer der Kriege und der bewaffneten Auseinandersetzungen. Jeder Mann und jede Frau, jedes Kind, das in diesem Zusammenhang stirbt, ist ein Toter oder eine Tote zu viel. Jede Tote mahnt uns und erinnert uns an die Aufgabe, die Gott an uns stellt: „Du sollst Gott lieben und deine Nächsten. Sie sind wie Du!“

Wir werden die Kriege und bewaffneten Auseinandersetzungen kaum verhindern können.
Umso wichtiger ist es, das eigene Verhalten immer wieder zu überprüfen: Zu welcher Gruppe gehöre ich? Gebe ich den Hungrigen und Durstigen, denen ohne Heimat und ohne Kleidung, was sie brauchen? Besuche ich Menschen im Gefängnis oder in ihren heillosen Verstrickungen?
Wo stehe ich selbst?

So gerne würde ich sagen können, ich stehe auf Gottes rechter Seite. Tue ich das? Die Menschen im Predigttext wissen nichts davon, ob sie Hungrigen, Durstigen, Nackten oder Menschen ohne Obdach geholfen haben. Für die einen ist es eine solche Selbstverständlichkeit, dass sie es nicht wahrnehmen. Für die anderen ist es eine Haltung, von der sie meinen, sie würden danach leben. Dabei merken sie nicht, wie wenig sie sich danach richten. Sie sind blind für die Wirklichkeit geworden.

Am Ende der Tage wird es sich dann erweisen, wer sich an diese Grundregel des menschlichen Lebens gehalten hat, so schreibt der Evangelist Matthäus. Am Ende werden wir spüren, ob wir die Hungrigen und Durstigen gesehen haben.

Wollen wir so lange warten? Ist nicht heute schon jeder Hungrige einer zu viel?

Wir müssen gar nicht erst auf die großen Flüchtlingsströme durch Europa sehen. Auch direkt vor der Haustür, mitten in unserer Stadt, sehen wir Menschen, die um Kleidung, Nahrung, um Unterstützung bitten. Aber was machen wir mit den Bettlern, die uns um Hilfe anflehen? Was machen wir mit den Frauen und ihren Kindern, die in der Fußgängerzone um Unterstützung bitten?
Wir finden schnell Ausreden: Die werden ja nur von Schleppern ausgenutzt! Die könnten doch genug haben! Es gibt doch Hartz IV für alle, die nichts haben. Warum betteln sie dann?

Bei denen, die nach Deutschland und Europa kommen und ein Dach über dem Kopf suchen, ein Leben in Frieden – wir sehen sofort die Familienangehörigen, die auch noch kommen werden, die vielen Menschen, die versorgt sein wollen.
Unser Helfen ist oft durch Angst und Bedenken gelähmt. Lieber sollen andere helfen – ich lieber nicht!

Müssen wir dann noch rätseln, auf welcher Seite wir stehen werden, wenn eines Tages gerichtet wird?

1 Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Thron seiner Herrlichkeit, 32 und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, … 34 Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! 35 Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. 36 Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen.

Was dereinst sein wird, ist schon jetzt: Wer heute hilft, ist auf dem richtigen Weg, verwirklicht in dieser Welt Gottes gerechte Welt.
Was dereinst sein wird, ist schon jetzt: Wer heute Hilfe verweigert, hält die Welt als einen Ort der Ungerechtigkeit und Rücksichtslosigkeit lebendig.

„Die Menschheit hat den Verstand verloren!“ so kommentierte Astrid Lindgren das Gegeneinander der Menschen im zweiten Weltkrieg. Dagegen schrieb sie später an. Sie schuf mit ihren Kinderbüchern Vorbilder: Kinder, die selbstbewusst und selbstständig ihren Weg gehen wie Pippi Langstrumpf; Kinder, die selbstverständlich die Not sehen und den Armen zu essen geben, wie Michel aus Lönneberga, als er den Armen und Alten aus dem Armenhaus die Vorratskammer öffnete.