Die Nacht ist schon im Schwinden - Predigt zu Matthäus 24,1-14 von Peter Haigis
24,1-14

Liebe Gemeinde,

das ist kein Besuch eines Baudenkmals, so wie wir es kennen. Stellen wir uns vor, wir besichtigten den Petersdom in Rom oder Notre Dame in Paris oder auch den Kölner Dom und der Reiseführer würde uns mit Schilderungen bedrängen, die die radikale Vernichtung dieser Bauwerke beschreiben. Sofort stehen da Bilder der Angst auf: Terror und Schrecken des sogenannten „Islamischen Staates“ ziehen die Spur seiner Verwüstung durch Europa.

Den Jüngern mag es ähnlich ergangen sein: Eben noch haben sie ihrer Bewunderung über die Tempelbauten in Jerusalem Raum gegeben, da bedrängt sie Jesus mit Zerstörungsphantasien und reißt damit auch die inneren Bilder ihrer Bewunderung, ja vielleicht sogar ihres Gottvertrauens nieder. Freilich, den Schrecken eines Terrorangriffs beschwört Jesus nicht. Damals waren es eher die brandschatzenden Truppen feindlicher Nationen, vor denen man sich fürchten musste: Kriege und Kriegsgeschrei, ein Königreich erhebt sich gegen das andere. Doch damit nicht genug. „Ihr werdet hören von Hungersnöten und Erdbeben. Falsche Propheten werden auftreten. Und ihr selbst werdet gefangen genommen und getötet werden.“ (Mt 24,7-9*)

Die Liste der Grausamkeiten, die Jesus aufzählt, nimmt kein Ende. Und das platzt hinein in die adventliche vorweihnachtliche Stimmung, die – bei allem süßlichen Kitsch, der sich da hinein mischt – doch Ausdruck einer tiefen inneren Sehnsucht in uns nach Frieden ist. Es wäre ein Leichtes, hier Parallelen in die Gegenwart auszuziehen. Jesu Schilderungen sozusagen nur zu verlängern um das, was uns die Nachrichten in den Medien täglich vor die Füße kippen. Doch das erscheint mir zu wenig und zu billig zu sein, an einem Sonntag im Advent. Wie die Jünger am Ölberg sitze ich zu Füßen Jesu, aber ich frage nicht: „Wann, Herr, wird das alles geschehen?“ Ich frage: „Und was willst du dem entgegensetzen? Du, der du doch unser aller Hoffnung bist – Gottes Sohn, sein Gesandter, der Christus, ein Helfer und ein Heiland. Wo ist deine Botschaft in alledem? Wo ist dein Evangelium?“

Ich kann es finden, dieses Evangelium, die gute Nachricht. Man muss lange lesen, doch am Ende scheint sie auf wie das Licht nach einer langen Nacht, wie die Morgensonne, die an Wintertagen sich besonders lange Zeit lässt, ihre Strahlen zu schicken. Am Ende eben doch: „Die Nacht ist schon im Schwinden“. (eg 16)

Es beginnt mit einem ersten Vorboten, ein schwacher Widerschein, nur am Horizont. Und doch eine Ahnung von Licht: In Vers 12 sagt Jesus: „Weil die Ungerechtigkeit überhandnehmen wird, wird die Liebe in vielen erkalten“. Für mich ist das ein erster Schlüssel zum Verstehen all dessen, was hier geschieht und aus göttlicher Perspektive beschrieben wird. Es ist noch nicht die Heilsbotschaft selbst, aber ihre Ankündigung, ihre Vorbereitung: Die Ungerechtigkeit nimmt überhand und die Liebe erkaltet. Und beides steht in einem ursächlichen Zusammenhang. Vielleicht ist es eine Wechselbeziehung.
Vielleicht könnte man es auch umdrehen: Die Liebe erkaltet und die Ungerechtigkeit nimmt überhand. Spitzfindigkeiten! Entscheidend ist für mich, wie Jesus den Blick auf die Liebe richtet, die – eigentlich – zwischen Menschen regieren sollte. Und sie erkaltet.

Es ist kalt geworden zwischen den Menschen. Man begegnet sich mit Misstrauen und Missgunst. Statt der Liebe regieren die Emotionen der Wut und des Hasses. Ihnen freien Lauf zu lassen, ihnen eine Sprache zu geben, gilt als Meinungsäußerung. Aber dürfen freie Meinungsäußerungen andere verletzen und niedertreten? Egoismus und Selbstsucht machen sich breit – und das in einer Gesellschaft, die es sich immerhin leistet, verkaufsoffene Samstage und Sonntage vor Weihnachten zu etablieren, damit die Millionen, die sich der Handel erhofft, auch umgesetzt werden. Dies auch in einer Gesellschaft, in der die Arbeitslosenquote stetig abnimmt und das verfügbare Kapitaleigentum stetig wächst. Gewiss, es gibt sie die sogenannten Globalisierungsverlierer. In anderen Ländern zwar mehr als bei uns, aber es gibt sie auch hierzulande. Doch ich frage mich: Warum finden sie keine effektive Hilfe in diesem reichen Land? Warum regiert das Gesetz der Straße mit lautstarken Parolen des Hasses? „Weil die Ungerechtigkeit überhandnimmt, ist die Liebe in vielen erkaltet.“ (Mt 24,12)

Die Nacht ist schon im Schwinden, das Licht geht auf – auch in Jesu Rede über die sogenannte Endzeit. „Endzeit“ – das ist nicht das, was am Ende aller kosmischen oder auch nur menschheitlichen Tage geschieht. „Endzeit“ ist nach meinem Verständnis immer wieder dann, wenn es mit einem einfachen „Weiter so!“ eben nicht mehr weitergeht, wenn sich etwas ändern muss, wenn etwas endet, damit es sich wendet.

Gleich einen Vers später wird es noch eine Stufe heller an diesem winterlichen und kalten Morgen, in dem ich mich mit Jesu Worten und in meiner Weltzeit vorfinde. „Wer beharrt bis ans Ende, der wird selig werden“, sagt Jesus in Vers 13. Auf den ersten Blick irritiert mich dieser Satz. Also doch: Augen zu und durch! Es hört sich ja ganz so an, ganz und gar fatalistisch. Da fliegt euch die Welt um die Ohren, die Ungerechtigkeit nimmt überhand, die Liebe erkaltet, ihr aber haltet fein und still aus in euren Kämmerlein, auch in den Kämmerlein eurer Herzen! Haltet sie nur schön rein! Kann es das sein, sich den stillen inneren Seelenfrieden zu bewahren, wenn „draußen“ das Toben und Wüten kein Ende nehmen will?

Ich beziehe Jesu Wort aus Vers 13 nicht auf das Ausharren und Aushalten in einer Situation der Bedrängnis, wie er sie zuvor geschildert hat. Nicht auf das geduldige Ertragen des Martyriums. Ich beziehe es auf den unmittelbar vorangegangenen Vers: Die Ungerechtigkeit nimmt überhand, die Liebe erkaltet – wer aber in der Liebe beharrt, der wird selig werden. Das bedeutet: Haltet sie am Brennen, die Flamme der Liebe! Haltet sie am Brennen, diese schwach glimmenden Lämpchen, die gerade in diesen Morgenstunden so wichtig sind, die noch ein wenig ihren Schein verbreiten müssen, bis das Licht aufgeht.

Wer in der Liebe beharrt, der wird selig werden, denn selig sind die Sanftmütigen und die Friedfertigen, selig sind die Barmherzigen und die, die reinen Herzens sind. (Mt 5,5-9*) Jesu Auftakt zur Bergpredigt ist Zuspruch, aber er ist auch Zuweisung, eine Art Auftrag, seine Liebe zu üben.

Und nun das wirkliche Ende, die Wende, der Aufgang: „Siehe, ich mache alles neu!“ (Off 21,5) Die dürftigen Flämmchen unserer Liebe werden nicht ewig brennen und schon gar nicht werden sie die nötige Wärme bringen. Unsere Kraft ist zu schwach, unsere Reserven sind zu bald erschöpft. Wir vermögen das Reich Gottes nicht zu errichten. Ende, Wende und Neuanfang können nur geschehen, wenn sie aus Gottes Ursprung selbst hervorquellen, aus seiner Schöpfermacht. Doch genau mit diesem Ausblick schließt auch Jesus am Ende dieses Abschnitts: „Das Evangelium vom Reich wird gepredigt werden in der ganzen Welt“.(Mt 24,14) Das ist nur noch zu einem kleineren Teil unsere Sache. Verkündigen – das können wir. Bezeugen, aus welcher Kraft unsere Liebe auf kleinster Flamme brennt, weiterbrennt, wenn sie schon überall sonst erkaltet. Aber wirken können wir es nicht. Dass auch da steht, was gesprochen wird, dass das Reich des Evangeliums gebaut werde – das ist seine, Gottes, Christi Sache.

Uns bleibt an diesem Ende das Vertrauen. Und damit schließt sich der Kreis. Damit kehrt Jesus zum Anfang seiner Botschaft zurück: „Tut Buße, kehrt um und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1,14) Ohne Vertrauen auf Gottes Handeln in dieser Welt werden wir nichts ausrichten, sondern verzweifeln. Eine Welt, die dem Menschen und seiner Selbstsucht überlassen bleibt, ist vom Niedergang bedroht – das ist die ebenso bittere wie realistische Einsicht, die Jesus seinen Jüngerinnen und Jüngern gegenüber betont. Doch sie ist nicht das letzte Wort. Das letzte Wort hat Gott. Und er will unermüdlich, unbeirrbar die Heilung von Mensch und Erde. Er wird es auch tun – doch bis dahin halten wir unsere Lämpchen am Brennen und die kleine Flamme der Liebe am Glimmen.
Amen.

 

Perikope
04.12.2016
24,1-14