Pechrabenschwarz sind seine Hände. So schmutzig, dass ich glaube, er reibt sie mit einem Stück Kohle ein, bevor er zur Arbeit geht. Er ist dünn. Hemd, Hose, T-Shirt – alles schlottert um den mageren Körper. Die Haare sind lang und zottelig. Irgendwo muss er ein Kleiderdepot haben, denn er läuft nicht immer in den gleichen Klamotten herum. Und doch sind sie immer verdreckt. Ich höre ihn von weitem nahen, obwohl er sein Sprüchlein leise und monoton aufsagt, als sei er am Ende seiner Kräfte. Ich erkenne ihn am langsamen Schlurfen. Wenn er allerdings den Waggon wechselt, schlurft er nicht mehr, dann rennt er. Und wenn er einen Stammkunden begrüßt, redet er ganz normal, erkundigt sich, wie es ihm geht, als seien sie alte Freunde. Dann nimmt er das Geld und fällt wieder in sein stimmloses Betteln und sein Schlurfen zurück. Einmal hob er ein Hosenbein hoch und zeigte einem Stammkunden die Geschwüre am Strohhalmbein. Ich saß gegenüber und ekelte mich. Die S 25, mein Pendlerzug, ist sein Revier. Fast täglich begegnen wir uns. Manchmal noch am späten Abend, wenn es sich kaum mehr lohnt, weil die meisten Pendler längst zu Hause sind. Ich schaue in mein Handy, wenn er vorbeikommt. Ich traue mich nicht, den Blick zu heben.
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Es war aber ein reicher Mann, der kleidete sich in Purpur und kostbares Leinen und lebte alle Tage herrlich und in Freuden. Ein Armer aber mit Namen Lazarus lag vor seiner Tür, der war voll von Geschwüren und begehrte sich zu sättigen von dem, was von des Reichen Tisch fiel, doch kamen die Hunde und leckten an seinen Geschwüren. Es begab sich aber, dass der Arme starb, und er wurde von den Engeln getragen in Abrahams Schoß. Der Reiche aber starb auch und wurde begraben.
Als er nun in der Hölle war, hob er seine Augen auf in seiner Qual und sah Abraham von ferne und Lazarus in seinem Schoß. Und er rief und sprach: Vater Abraham, erbarme dich meiner und sende Lazarus, damit er die Spitze seines Fingers ins Wasser tauche und kühle meine Zunge; denn ich leide Pein in dieser Flamme. Abraham aber sprach: Gedenke, Kind, dass du dein Gutes empfangen hast in deinem Leben, Lazarus dagegen hat Böses empfangen; nun wird er hier getröstet, du aber leidest Pein. Und in all dem besteht zwischen uns und euch eine große Kluft, dass niemand, der von hier zu euch hinüberwill, dorthin kommen kann und auch niemand von dort zu uns herüber. Da sprach er: So bitte ich dich, Vater, dass du ihn sendest in meines Vaters Haus; denn ich habe noch fünf Brüder, die soll er warnen, damit sie nicht auch kommen an diesen Ort der Qual. Abraham aber sprach: Sie haben Mose und die Propheten; die sollen sie hören.
Er aber sprach: Nein, Vater Abraham, sondern wenn einer von den Toten zu ihnen ginge, so würden sie Buße tun. Er sprach zu ihm: Hören sie Mose und die Propheten nicht, so werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn jemand von den Toten auferstünde.
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Die Kluft ist tief. Und es gibt keine Brücke. Man ist entweder auf der einen Seite oder auf der anderen Seite. Man kann nicht schnell hinübergehen, um auf der anderen Seite noch was zu regeln.
Die Meistererzählung im Lukasevangelium ist radikal. Sie erzählt von Himmel und Hölle und davon, dass es zwischen ihnen keinen Austausch gibt. Die tiefe Kluft zwischen Himmel und Hölle spiegelt die tiefe Kluft, die es in diesem Leben gibt zwischen einem himmlischen Leben auf Erden und einem höllischen Leben auf Erden. Auf Erden ist die Kluft oft nur ein Türspalt. Doch der Spalt öffnet sich nicht.
Der Reiche nimmt nicht zur Kenntnis, dass vor seiner Tür ein Armer liegt. Er macht nicht einmal nach dem Fest die Tür auf, um die Reste des täglichen Festmahls nach draußen zu bringen. Er wirft sie lieber in die Tonne. Er will sich dem Blick des Armen nicht aussetzen.
Auf Erden ist die Kluft oft nur ein Türspalt. Doch der Spalt öffnet sich nicht. In jenem Leben wird die Kluft dann unendlich. Davon erzählt diese Geschichte. Sie ist eine Erzählung der Beziehungslosigkeit. Wer es in diesem Leben nicht schafft, die Beziehungslosigkeit zu überwinden, wird es auch in jenem nicht mehr schaffen.
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Von drei vergeblichen Versuchen wird berichtet, aus der Hölle selbstgewählter Isolation herauszukommen.
Zunächst bittet er um Erbarmen und einen Tropfen Wasser. Doch demütig scheint der Reiche selbst im Totenreich nicht geworden zu sein. Er ruft zu Abraham und befiehlt ihm, Lazarus zu schicken. Als Dienstbote darf Lazarus jetzt arbeiten, als der Wasserträger des Reichen. Selbst in der Hölle weigert sich der Reiche noch, Lazarus als einen Menschen wahrzunehmen, mit dem man sprechen könnte. Statt mit Lazarus spricht er mit dem Chef, mit Abraham, mit seinesgleichen. So ist er es gewohnt. Die Dinge auf höchster Ebene zu regeln. „Ich ruf beim Chef an, der kennt mich!“
In der Tat, der kennt ihn und erklärt ihm, warum der Reiche nun ist, wo er ist, und Abraham nichts für ihn tun kann: Du hast Gutes empfangen in deinem Leben, Lazarus Böses, jetzt ist es umgekehrt. Postmortal muss der Reiche die Lebenserfahrung des Armen nachholen: Die Bitten um Essensreste, um einen Tropfen Wasser werden nicht erhört. Wie auch Lazarus nun das nachholen darf, was ihm im Leben verwehrt war: sich in Sicherheit und Geborgenheit zu wissen.
Zweiter vergeblicher Versuch der Kontaktaufnahme: Als er merkt, dass er für sich selbst nichts mehr erreichen kann, wird er plötzlich sozial und denkt an die anderen. Allerdings nur an seine Brüder. Die Sippe geht vor. An die anderen denken die Reichen nur innerhalb ihrer Netzwerke. Die Reichen haben ihre eigenen Leute im Blick. Lazarus – immer noch Dienstbote – soll die Brüder warnen. Auch dies lehnt Abraham ab. Sie haben Mose und die Propheten. Jeder weiß, was zu tun ist. „Schau vor deiner Tür!“, nichts Anderes sagen auch Mose und die Propheten. Aber der Reiche kennt sich und seine Brüder. Auch wenn sie in die Gotteshäuser gehen – sie hören nicht, was dort gesagt wird. Denn wenn sie es hörten, würden sie die Tür öffnen und mit dem reden, der davor liegt.
Unglaublich der dritte Versuch: Wenn jemand von den Toten zu ihnen käme, dann würden sie umkehren. Der Auferstandene soll denen Dispens geben, die nie auf Mose und die Propheten gehört haben? Oder rechnet sich der Reiche am Ende gar aus, er selbst werde auferstehen dürfen, um seine Sippe zu warnen? Darauf das dritte Nein Abrahams: Wer Mose und die Propheten nicht hört, der sieht in einem, der von den Toten kommt, allenfalls ein Gespenst, jedoch keinesfalls einen Grund zu Selbstkritik und Umkehr. Was sagt einem ein Auferstandener schon, wenn man nicht zuvor Mose und die Propheten gehört hat?
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Dies ist eine wahre Geschichte und eine harte Geschichte. Sie ist wahr, weil sie erzählt, wie es ist. Und sie ist hart, weil sie uns jede Illusion darüber verwehrt, dass es einmal anders sein könnte. Wer es jetzt nicht schafft, wird es auch in Ewigkeit nicht schaffen. Warum kommt der Reiche selbst in der Hölle nicht zur Besinnung? Warum treiben ihn nicht einmal die Qualen, denen er dort ausgesetzt ist, zur Buße? Das ist das Verwunderliche an dieser Meistererzählung aus dem Lukasevangelium. Sie ist eine Geschichte voller Beziehungsverweigerungen. Sie erzählt von der Unmöglichkeit einer postmortalen Umkehr. Jedenfalls für den, der sich zu Lebzeiten schon geweigert hat, zur Kenntnis zu nehmen, dass vor seiner Tür ein Mensch liegt. Wer einen Menschen erst gar nicht wahrnimmt, wird auch nie auf die Idee kommen können, dass er ihm etwas schuldig geblieben ist.
Das ist hoffnungslos. Jedenfalls für den reichen Mann, um den es in dieser Geschichte ja geht. Anders für den Armen, der nicht nur entschädigt wird, sondern in dieser Geschichte auch einen Namen erhält: Lazarus, das heißt: „Gott hat geholfen“. Die Geschichte vom reichen Mann, der keinen Namen hat, ist eigentlich so trostlos, dass man sie gar nicht weitererzählen möchte. Und doch wurde sie weitererzählt und ist bekannt geworden als die Geschichte von dem, dem sie einen Namen gegeben hat, als die Geschichte vom armen Lazarus.
Wir kennen die Namen der Reichen gut, aber die Namen der Armen kennen wir nicht. An dieser Stelle zerbricht die Geschichte den Spiegel und gibt Einblick in die Welt Gottes, in der das anders sein wird. In der Welt Gottes werden die Reichen vergessen werden, denn sie haben dort keine Namen mehr. Aber der Armen wird gedacht werden. Sie heißen Lazarus und sitzen in Abrahams Schoß.
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Es hat Jahre gedauert, bis ich endlich den Mut fand, ihm ein paar Euro in die pechrabenschwarze Hand zu drücken. Seither fragt er mich jedes Mal, wie es mir geht und ob ich in meine Kirche fahre. Neulich hatte er Geburtstag. Er wurde 26. Ich gab ihm ein paar Euro obendrauf. Seither hat er drei oder viermal im Jahr Geburtstag. Wenn ich kein Kleingeld habe, kann er wechseln. Er hat reichlich Scheine in seinen ausgebeulten Hosentaschen. Gott sei Dank! Er hat offenbar genug für das, was er unbedingt braucht – was immer es ist. Neuerdings bietet er mir an, für einen ganzen Monat im Voraus zu zahlen. So eine Art Abo. Er merkt es sich an den restlichen Tagen des Monats, muss sich nicht mehr mit mir aufhalten, sondern schlurft weiter, sagt sein monotones Sprüchlein, vergisst aber nie, mir im Vorbeischlurfen zuzuzwinkern. Er ist kein Heiliger. So lange er noch nicht in Abrahams Schoß sitzt, kann er sich sowas gar nicht leisten. Während der Pandemie fuhr ich lange Zeit nicht mit der S-Bahn. Ich machte mir Sorgen um ihn. Die Bahnen waren leer. Wird er die Lockdowns überleben? Werde ich ihn wiedersehen, wenn ich wieder die S-Bahn nehme? Von weitem hörte ich sein Schlurfen. Er war noch ein bisschen magerer geworden, aber sonst ganz der alte. Die Armen sind Überlebenskünstler. Sie überbrücken die Krisen und die Lockdowns und den Winter. Und die tiefe Kluft. Mein Freund aus der S 25 heißt Lenny. Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Bildungsbürgerlich geprägte, kulturell interessierte Großstadtgemeinde, teils mit historischem Migrationshintergrund (Hugenotten) und hohem Akademikeranteil, darunter einige Theolog/inn/en und Ruhestandsgeistliche.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Mir haben meine Begegnungen in der Berliner S-Bahn geholfen. In Berlin kommt man kaum mit dem ÖPNV oder zu Fuß durch die Stadt, ohne von irgendjemandem um ein paar Euro angebettelt zu werden. Man kann nicht allen was geben. Aber keinem was zu geben, ist auch keine Lösung.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Den Armen ist nicht nur mit Geld geholfen, sondern auch mit Wahrnehmung. Und sola gratia macht das Gericht nach den Werken nicht überflüssig.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Ich habe mir nochmal vor allem die Rahmenerzählung angesehen und stilistisch rumgefeilt.