Die neue Welt - Predigt zu Römer 14,17-19 von Johannes Neukirch
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Die neue Welt - Predigt zu Römer 14,17-19 von Johannes Neukirch

Liebe Gemeinde,

das „Reich Gottes“ – ja, wie steht es eigentlich damit? Wie weit ist es voran geschritten, wie weit verwirklicht, wann ist es endgültig da?

Diese zwei Wörter „Reich Gottes“ traut man sich ja kaum außerhalb der kirchlichen Räume in den Mund zu nehmen. Seitdem es bei uns das so genannte „Dritte Reich“ gegeben hat, ist das Wort „Reich“ vergiftet. „Reich Gottes“ klingt so, als wollte das Christentum die Herrschaft übernehmen. Oder es markiert eine strikte Trennung: das Reich Gottes gegen das Reich der Welt. Dabei spielt diese Formulierung in der Bibel eine große Rolle. Jesus hat das Reich Gottes gepredigt heißt es in den Evangelien immer wieder und Sie kennen sicherlich Verse wie „Lasst die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht; denn solchen gehört das Reich Gottes“ oder „Selig seid ihr Armen; denn das Reich Gottes ist euer“ oder Jesus „sprach zu ihnen vom Reich Gottes und machte gesund, die der Heilung bedurften“. In den Evangelien ist klar: Wo Jesus spricht und handelt ist das Reich Gottes präsent, da ist Gott voll und ganz bei den Menschen. Es gibt schönere Übersetzungen für das Wort „Reich“, zum  Beispiel „neue Welt“. Das klingt dann so: "Lasst die Kinder zu mir kommen, und haltet sie nicht zurück, denn für Menschen wie sie ist Gottes neue Welt bestimmt.“ (Hoffnung für alle, Mk 10,14) und „Freut euch, ihr Armen! Ihr werdet mit Gott leben in seiner neuen Welt.“ (Gute Nachricht, Lk 6,20).

Es gibt nun allerdings ein Problem mit dem Reich Gottes bzw. der neuen Welt Gottes: Es ist uns versprochen worden, aber noch nicht ganz da! Dabei hat Jesus gesagt: „Ich sage euch aber wahrlich: Einige von denen, die hier stehen, werden den Tod nicht schmecken, bis sie das Reich Gottes sehen.“ (Lk 9,27). Die Christen vor 2000 Jahren haben in der Tat damit gerechnet, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis Gottes neue Welt kommt – eine Welt, in der es nur noch Liebe und keinen Hass mehr gibt, die gerecht und friedlich ist – was für eine schöne Vorstellung! Bis heute gibt es übrigens immer wieder Menschen, die meinen, dass es nun so weit ist und sie bald kommt. Der amerikanische Evangelist Billy Graham zum Beispiel hat vor kurzem gesagt, dass wir nun in der Endzeit leben würden. Immerhin gibt er aber zu, dass es in der Bibel keine genaue Angabe gibt, wann es denn so weit und der letzte Tag, der Jüngste Tag, kommt und wir in Gottes neuer Welt sind.

Deshalb bleibt es dabei: Jesus hat uns die neue Welt Gottes gezeigt, mit ihm hat sie angefangen, aber sie ist noch nicht ganz da. Und es bleibt seit dem Anfang des Christentums dabei, dass diese neue Welt Gottes in der Gemeinschaft der Christinnen und Christen sichtbar werden soll. Da sind wir dann wieder bei Paulus: „Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem Heiligen Geist.“

Was war da los in der Gemeinde in Rom, was meint das „Essen und Trinken“?

Die Mitglieder der römischen Gemeinde waren bunt gemischt. Es gab Judenchristen, die die Vorschriften des Alten Testaments über richtiges Essen und Trinken noch eingehalten haben. Also das Verbot, unreine Tiere zu essen oder reine Tiere, die nicht geschächtet worden sind. Die Christen nichtjüdischer Herkunft dagegen hielten die Reinheitsvorschriften der Bibel für überholt. Deshalb kam es zwischen den Christinnen und Christen zu Konflikten. Paulus versucht, den Streit zu schlichten, indem er sagt, dass sich die Gemeindeglieder nicht gegenseitig verurteilen sollen. Niemand solle verächtlich auf die herabschauen, die bestimmte Speisen meiden. „Wegen irgendwelcher Speisen“, so schreibt er, „dürft ihr auf keinen Fall den Glauben eines anderen gefährden, für den doch Christus auch gestorben ist.“

Mit anderen Worten: Paulus stellt klar, worauf es wirklich in der christlichen Gemeinschaft ankommt und was Nebensächlichkeiten sind. Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem Heiligen Geist – daran erkennen wir das Reich Gottes, die neue Welt. Lasst uns dem nachstreben, so fleht er seine Glaubensgeschwister an, was zum Frieden dient und zur Erbauung untereinander.

Diese Klarstellung, liebe Gemeinde, ist immer wieder nötig. Denn auch heute streiten Christinnen und Christen heftig darüber, was man tun darf und was nicht. Denken Sie nur an die Auseinandersetzung über die Segnung und Trauung von schwulen und lesbischen Paaren. Auch hier berufen sich die Gegner bei ihrer Ablehnung auf die Bibel und eine lange Tradition. Die Befürworter weisen darauf hin, dass sich Traditionen ändern können und sich im Laufe der Geschichte auch immer wieder geändert haben. Dabei ist wichtig, dass Paulus seine Meinung niemandem aufgezwungen hat. Christen sollen einander annehmen, wie Christus sie angenommen hat, sagt er. Deshalb werden in den Landeskirchen, in denen eine Segnung oder Trauung von schwulen und lesbischen Paaren möglich ist, keine Pastorin und kein Pastor dazu gezwungen zu segnen oder zu trauen.

In der frühen Christenheit hat sich im Laufe der Zeit die Auffassung derjenigen Gemeindeglieder durchgesetzt, die die Reinheitsvorschriften beim Essen und Trinken für überholt gehalten haben. Woher wissen wir, wie wir uns entwickeln und wie es bei uns in zwanzig oder fünfzig Jahren aussehen wird?

Wenn wir an Martin Luther denken, dann ist schnell klar, dass er sich an Paulus und der christlichen Freiheit orientiert hat. Er hat sein Keuschheitsgelübde gebrochen, eine Nonne geheiratet und die erste Pfarrfamilie gegründet. Was für ein Skandal! Luther hat auch den besonderen Stand der Priester aufgehoben und gesagt, dass es keinen Unterschied gibt zwischen einem Gläubigen, einem Priester und einem Bischof – das hat die damalige kirchliche Ordnung und Tradition auf den Kopf gestellt. Alle Christinnen und Christen sind gleich wert. Und alle Christinnen und Christen sollen in der Bibel lesen können und die Möglichkeit haben, selbst über den Glauben nachzudenken. Deshalb hat er nicht nur die Bibel ins Deutsche übersetzt, sondern sich auch dafür eingesetzt, dass alle Kinder Lesen und Schreiben lernen und auch Mädchen die Schule besuchen dürfen – das war geradezu revolutionär!

Es ist eine gute evangelische Tradition, liebe Gemeinde, dass wir evangelische Christinnen und Christen viele verschiedene Meinungen haben und darüber auch ordentlich streiten können. Das ist auch gut so! Es gibt nun mal unterschiedliche Auffassungen darüber, wie wir die Bibel verstehen können, was moralisch richtig und falsch ist, wie Christen leben sollen, ob wir gegen die Atomkraft  oder TTIP auf die Straße gehen und demonstrieren sollen, ob es richtig ist, schwule und lesbische Paare in der Kirche zu trauen, ob AfD-Mitglieder im Kirchenvorstand sein dürfen oder nicht. Bei all diesen Debatten ist es gut, im Auge zu behalten, wie sensibel damals Paulus mit seinen Glaubensgeschwistern umgegangen ist. Er hatte eine klare Meinung, was die Essenvorschriften betraf und sagt aber, dass keiner durch sein Verhalten den anderen in Gewissensnot bringen oder in seinem Glauben verunsichern soll: „zerstöre nicht um der Speise willen Gottes Werk“.

Der Grund dafür ist das gemeinsame Ziel: die neue Welt Gottes sichtbar werden zu lassen. Sie ist sichtbar, wenn es in der Gemeinde um Gerechtigkeit, Frieden und Freude in dem Heiligen Geist geht. Das ist die Richtschnur, die wir bei aller christlichen Freiheit auf gar keinen Fall aus dem Auge verlieren dürfen. Dagegen ist alles andere unwichtig. Amen

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.