Die Schlüsselgewalt und die Schlüssel des Lebens - Predigt zu Offenbarung 1,9-18 von Christof Vetter
1,9-18

Es war vor anderthalb Jahren, im Oktober 2016, vielleicht auch Ende September. Es ist spät geworden. Wir kommen nach Hause. Meine Frau hat mich vom Bahnhof abgeholt, wir haben noch etwas gegessen unterwegs und ein Glas Wein getrunken – oder auch zwei. Wir haben uns erzählt, was so gewesen ist, die langen Tage seit ich das letzte Mal zu Hause war. Bei Ihr. Bei mir.

Jetzt kommen wir nach Hause. Es ist schon dunkel, ein schöner Herbstabend. „Ich geh noch 'ne Runde mit Tocto“, sagt Silvia, meine Frau. „Ich geh schon einmal rein,“ Die Tasche voller dreckiger Wäsche schleppe ich in den Flur.

Das Telefon blinkt rot. Da hat jemand angerufen: „Mein Name ist Dr. Ullrich Händchen. Ich bin der Vorsitzender vom Kirchenvorstand in Aerzen und habe gehört, sie würden sich für die Pfarrstelle in Aerzen interessieren.“

Ich bin wie elektrisiert. Wer hat da geplaudert? Klar, interessiert mich die Stelle, aber ich kann doch im Moment nicht wechseln. Das muss ich mit meiner Frau besprechen. Gleich. Das verdient keinen Aufschub. Sofort. Ich weiß ja, wo sie mit dem Hund geht. Ich gehe ihr schnurstracks entgegen. Hinter mir fällt die Tür ins Schloss. Da wird mir sofort klar, nun haben wir zur Frage „Aerzen oder nicht“ noch ein Problem: Der Schlüssel ist drin.

Liebe Gemeinde,
ich könnte jetzt ausführlich weiter erzählen: Wie einbruchssicher unser Haus ist. Wie unerfahren in Sachen Einbrüche ich und meine Frau sind. Wie nett unsere Nachbarin ist, die ein Glas Wein vorbei brachte, während wir auf den Schlüsseldienst warteten. Letztendlich könnte ich auch genau sagen, wie teuer ein Schlüsseldienst am späteren Abend ist und welch schönen und lauschigen Herbstabend ich mit meiner Frau auf unserer Bank vor dem Haus verbracht haben. Ich ahne, das würde Sie alles brennend interessieren – aber etwas anderes ist an diesem letzten Sonntag nach Epiphanias entscheidend:

Nur wer den richtigen Schlüssel hat, kann die Tür öffnen.

Johannes, der Seher, der Visionär war auf der Insel Patmos. Nicht freiwillig. Die römische Staatsmacht hatte das so beschlossen: „Der ist reif für die Insel“. Und sie hatten den Schlüssel, wenn er wieder zurück will. Verbannt, weil die Gemeinden der Christen geschwächt werden soll. Verbannt, weil das Evangeliums von Jesus Christus nicht weitergesagt werden soll. Sie empfand das als beleidigend, dass die Christen einen gekreuzigten Aufrührer als den Herrn der Welt verkündigen.

Verbannt auf Patmos. Eine wunderschöne Urlaubsinsel mitten in der Ägäis Patmos.  Lauschige Hügel, umher ziehende Schafe. Patmos. Dort haben die Menschen Zeit. Und dieses unglaublich blaue Meer umspielt die Insel.

Für Johannes war es kein Urlaub. Eher genau das Gegenteil: verbannt – festgesetzt. Und dann hatte er dort noch diese Visionen: Was er sah, war erschreckend: Einer, der war einem Menschensohn gleich, angetan mit einem langen Gewand und gegürtet um die Brust mit einem goldenen Gürtel. Sein Haupt und sein Haar war weiß wie weiße Wolle, wie der Schnee, seine Augen wie eine Feuerflamme seine Füße wie Golderz, das im Ofen glüht. Da kann einer schon Angst bekommen. Und dazu diese Geräusche, diese Lautstärke: Eine Stimme wie von einer Posaune. Eine Stimme wie großes Wasserrauschen. Wer solche Visionen hat, bekommt Angst. Bekommt Panik:

Fürchte dich nicht! Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige. Ich war tot, und siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit und habe die Schlüssel des Todes und der Hölle.

Das ist so eine Sache mit den Schlüsseln. Und noch mehr mit denen, die sie haben. Schlüsselgewalt.

Vor vielen Jahren. Besuch in einer Justizvolzugsanstalt. Die Frauen, die dort einsitzen, bleiben automatisch vor jeder Tür stehen. Warten auf den Schließer, die Schließerin, den Menschen mit Schlüsselgewalt. Auch vor der Tür der Kapelle.
Erstauntes Fragen: „Wie, die Kapelle ist auch abgeschlossen?“ Nein, weiß die Gefängnisseelsorgerin, doch die Menschen hier haben gelernt vor jeder Tür stehen zu bleiben.

Und wie es das mit unseren Türen? Den Türen ins Himmelreich? Den Türen in die Phantasie? Den Türen ins Leben?

Das, was Johannes erlebte, sah und hörte ist eindeutig: Johannes hat keinen Schlüssel, um zu seiner Gemeinde, um ins Leben zurück zu kehren. So seine Gegenwart.

Johannes sieht, hört und weiß aber, die Schlüssel zur Hölle, die Schlüssel zum Tod, hat der Herr des Lebens. So seine Gewissheit.

Dazwischen findet das Leben statt, sein Leben. Wie anders ist da unser Leben, wir haben die Schlüssel zu unserer Wohnung, unserem Haus, wenn wir sie nicht dummerweise liegen lassen. Wir haben die Schlüssel, zu vielen Türen des täglichen Lebens. Aber wie ist es um die Schlüsselgewalt, die Schlüsselgewalt des Lebens bestimmt?

Die Tür, die aufgehen könnte, in eine neue Zukunft, in eine andere Wirklichkeit, in eine Welt wachsender Gerechtigkeit, in eine Wirklichkeit voller Frieden, in eine Existenz unendlicher Liebe?

Unsere Schlüssel nehmen wir jeden Tag in die Hand. Immer haben wir sie dabei. Jeder Schlüssel ein Lebensraum, in dem wir uns bewegen: Unsere Wohnung, unser Arbeitsplatz, sogar unser Auto.

Und die anderen Schlüssel? Der Schlüssel, zu dem Nachbar, mit dem ich seit langem im Clinch liege. Der Schlüssel, zu der Kollegin, mit der ich nur noch den morgendlichen Gruß austausche. Der Schlüssel, zu dem trauernden Freund, dem ich schon so lang aus dem Weg gehe.

Schlüssel, die jede und jeder von uns in sich herumträgt. Schlüssel geprägt von lähmender Ängste, die uns überfallen einfach so; Schlüssel, die einfach so kommen: Krankheiten die plötzlich da sind, schmerzhafte Abschiede ohne Vorwarnung. Das wäre doch einfach: Kein Sinn erkennbar, kein Schlüssel vorhanden!
Oder noch einfacher: Unterschiedlicher Meinung, kein Schlüssel vorhanden! Schlüssel für die verschlossenen Türen unseres Lebens.

Sorry, liebe Gemeinde, diese Schlüssel haben wir alle. Die tragen wir in uns. Die haben wir geschenkt bekommen. Den Schlüssel gegen die Angst und den Schlüssel gegen die Hoffnungslosigkeit. Den Schlüssel gegen den eigenen Stolz und den Schlüssel gegen die eigene Mutlosigkeit. Oder einfach ausgedrückt: Die Schlüsselgewalt für das Leben.

Manche dieser Schlüssel laufen ein wenig schwer, klemmen im Schloss, sind zu selten gebraucht, knirschen und knarren, wenn wir sie umdrehen.

„Fürchte dich nicht“, sagt die Stimme zu Johannes laut wie eine Posaunen, rauschend wie das Meer, das sich nicht einsperren lässt.

„Fürchte dich nicht“, sagt die Stimme in uns, nutz die Schlüssel, die Du hast: den Schlüssel des Lächelns, den Schlüssel der Freundlichkeit, den Schlüssel der Höflichkeit und den Schlüssel, der nie gedachten Gedanken.

„Fürchte dich nicht“ – Gottes Wort an uns, der Engel Gesang für alle Welt. „Fürchte dich nicht“ – die Botschaft des Lebens. „Fürchte dich nicht“ – der Schlüssel zum Leben, der Schlüssel in die Freiheit. Das überraschende Wort voller Frieden an den Nachbarn, der mich schon immer stört. Das liebevolle Kompliment an die Kollegin, die mich bis zur Erschöpfung nervt. Die tröstende Umarmung des Trauernden. „Fürchte dich nicht“, sprich es aus, sing es aus dir heraus, mach es einfach.

Die Erfahrung ist einfach: Wir verändern die Welt. Das Dunkel weicht. Licht leuchtet. Wir haben die Schlüsselgewalt zum Leben.

Und die Schlüssel zu Tod und Hölle wissen wir in guten Händen, in den Händen unseres Bruders, Jesus Christus, des Menschensohns.

Was für eine tolle Verteilung der Schlüssel.

Perikope
21.01.2018
1,9-18